Bitte recht authentisch!
Keine Pressemitteilung ohne das Buzzword "authentisch". So ziemlich jedes Format vereinnahmt dieses Wort für sich. Dabei bräuchte es das gar nicht. Beispiel «Newtopia». Ein Kommentar.
Authentizität ist seit vielen Jahren ein beliebtes Buzzword im deutschen Fernsehgeschäft. Keine Ankündigung eines neuen Formats, ohne dass mindestens einmal großspurig betont wird, wie „authentisch“ es sein wird. Authentizität ist zu einem Wert an sich geworden, einer Verlängerung des Anspruchs, dem Zuschauer Identifikationsmöglichkeiten zu bieten, weil man meint, dies sorge für eine enge Bindung der Rezipienten an das jeweilige Format.
Doch „authentisch“ ist zunächst einmal ein Synonym für „echt“. „Den Tatsachen entsprechend und daher glaubwürdig“, führt der Duden als weitere Erklärung an. Das scheint zunächst im Widerspruch zu vielen Sendungen zu stehen, die besonders gern mit dem Schlagwort „authentisch“ um sich werfen. Primär natürlich Scripted-Reality, das seine fiktionalen werktäglichen Serien gerne „authentische Soaps“ nennt, obwohl sie eben nicht „echt, den Tatsachen entsprechend“, sondern eben fiktiv und frei erfunden sind. Doch authentisch ist ein Adjektiv, das man steigern kann. Vielleicht träfe es „authentischere Soaps“ besser, um sich von «Gute Zeiten, Schlechte Zeiten» und «Alles was zählt» abzugrenzen und so zu unterstreichen, dass die Filmästhetik von «Berlin – Tag und Nacht» und «Köln 50667» darauf ausgelegt ist, keinen fiktionalen, sondern einen dokumentarischen Eindruck zu erwecken – auch wenn der Großteil der Zuschauer sich mittlerweile bewusst zu sein scheint, dass es sich hier um fiktionale Formate handelt.
Nun zum Fall «Newtopia». Wenn das Format eines sein sollte, dann authentisch. Es sollte „eine ganz pure Form von Reality“ sein, ohne jegliche Einflussnahme von Seiten der Programmmacher auf die Protagonisten.
Das musste man nun freilich korrigieren, nachdem eine angetrunkene Mitarbeiterin der versammelten Teilnehmergruppe mitten in der Nacht Vorschläge zum weiteren Verlauf des Projekts gemacht hat. „Ein Skandal! Ein Skandal! Ein Skandal!“, riefen alle. Sicherlich auch nicht ganz zu Unrecht. Hätte man im Vorfeld nicht so großspurig von dem gigantischen Grad an Authentizität gesprochen und nicht beschworen, es gebe keinerlei Einflussnahme von Sender und Produktionsfirma, hätte dieses sehr sonderbare nächtliche Gespräch wohl nie diese Skandalwirkung entfalten können.
Ist «Newtopia» nun also noch „echt, den Tatsachen entsprechend“ oder schon „Scripted Entertainment“, wie DWDL titelte? Will man das genau betrachten, kommt es darauf an, ob die Ergüsse der betrunkenen Executive Producerin Vorschläge oder Anweisungen waren. Will man sie als Vorschläge einordnen (Duktus und Wortlaut stehen dieser Auffassung nicht unbedingt entgegen), wäre ersteres wohl die bessere Kategorisierung – und damit läge die Entscheidungshoheit immer noch in der Hand der Teilnehmer, denen es freigestellt ist, Ideen und Vorschläge von außen aufzunehmen oder auch nicht. Reicht das, um als authentisch zu gelten?
Lassen wir das dahingestellt.
Spannender ist nämlich die Makroperspektive, in der man «Newtopia» als den Gipfel des Strebens nach authentischen Fernsehformaten auffassen kann, in der Authentizität als Einschaltimpuls und als ideale Voraussetzung für die Zuschauerbindung verstanden wird, als USP vor allen anderen USPs.
Denn das dürfte ein Trugschluss sein. Obwohl die meisten Zuschauer wissen, dass «Berlin – Tag und Nacht» und «Köln 50667» frei erfundene Geschichten über frei erfundene Charaktere erzählen, schalten sie trotzdem ein. Auch die Quoten von «Newtopia» haben sich nach Bekanntwerden des mitternächtlichen Produzentengesprächs nur marginal ins Negative verändert. Dem Zuschauer scheint der bloße Eindruck von Authentizität sogar dann zu reichen, wenn im Vorfeld explizit betont wurde, es werde keinerlei Einflussnahme der Produktion geben, und dem zuwider gehandelt wird. Echte Authentizität scheint gar nicht erreicht werden zu müssen. Das große TV-Business-Buzzword „authentisch“ scheint nichts mehr mit der eigentlichen Wortbedeutung zu tun zu haben. Im Fernsehen lässt es sich besser umschreiben mit: innerhalb des Formats so tun, als sei das alles echt.
Das führt zu einigen Fragen: Hat Scripted-Reality auch bei den Rezipienten zu einer Es-kommt-nicht-so-genau-drauf-an-Haltung geführt? Haben Unterhaltungs- und Reality-Fernsehen (und/oder ihre Macher) eine so abgrundtief schlechte Reputation, dass man ihnen ohnehin nicht mehr glaubt, wenn sie behaupten, ihre Sendungen seien „authentisch“, also „echt, den Tatsachen entsprechend“, völlig unbeeinflusst? Hat das noch nie interessiert oder ist das ein gradueller Prozess gewesen, der die Zuschauer offenbar so völlig gleichgültig gemacht hat?