Die deutsche Bilanz liest sich im neuen Jahrtausend durchwachsen - und das auch nur dank Stefan Raab, denn sobald der Entertainer in den vergangenen Jahren nicht beteiligt war, floppten die Beiträge böse. Auch für Ann Sophie sieht es nicht allzu rosig aus.
Am Samstagabend geht der 60.
«Eurovision Song Contest» in sein großes Finale, zum 59. Mal ist Deutschland mit von der Partie. Von einer allzu großen Euphorie ist hierzulande in diesen Tagen allerdings kaum etwas zu spüren - was nicht zuletzt auch daran liegen dürfte, dass Ann Sophies "Black Smoke" nur der Notnagel ist, der durch den Rückzieher des eigentlichen Gewinners Andreas Kümmert nötig wurde. In den deutschen Charts jedenfalls kam die in London geborene Sängerin bislang nicht über einen enttäuschenden 29. Platz hinaus, die Wettanbieter ranken sie seit Wochen im letzten Drittel des Teilnehmerfeldes. Ein Flop käme aber auch aus einem anderen Grund nicht wirklich überraschend, schließlich partizipiert auch in diesem Jahr wieder Stefan Raab weder direkt noch indirekt am «ESC» - und das war für Deutschland in der jüngeren Vergangenheit quasi gleichbedeutend mit einem Flop.
Die Bilanz des Norddeutschen Rundfunks liest sich im neuen Jahrtausend nämlich erschreckend, sobald man die Teilnahmen des Entertainers herausrechnet. Das Höchste der Gefühle ist hier schon ein achter Platz für Michelle im Jahr 2001, die mit "Wer Liebe lebt" zwar keine Bäume ausriss, aber mit einem soliden Schlager ordentlich abschnitt. Damit endete offenbar nicht nur das Gespür Deutschlands für einen angemessenen internationalen Vertreter, so lange an dessen Auswahl eben nicht Raab beteiligt war, sondern auch die jahrzehntelange Tradition, das Land mit deutschsprachigen Songs zu repräsentieren. Einzig Roger Cicero ließ 2007 noch einmal die deutsche Sprache hochleben - in Anbetracht eines 19. Platzes allerdings mit sehr überschaubarem Erfolg. Alle anderen Titel wurden seither auf Englisch gesungen.
Deutschland mit Raab-Beteiligung (seit 2000)
- 2000: Raab selbst (Platz 5)
- 2004: Max Mutzke (8)
- 2010 und 2011: Lena (1 und 10)
- 2012: Roman Lob (8)
In diese Kerbe schlägt auch Erfolgsgarant Raab, nachdem er 1998 als Produzent von Guildo Horn (Platz 7) und 2000 mit seinem einzigen eigenen Auftritt (Platz 5) noch Erfolge mit deutschen Titeln feierte. Im Jahr 2004 ging er mit seinem Schützling Max Mutzke an den Start, erreichte einen respektablen achten Platz - und doch waren viele enttäuscht, da diesem gelungenen Popsong ursprünglich Siegchancen beigemessen worden waren. Nach fünf Jahren beinahe ausschließlicher Ergebnis-Katastrophen mit zumindest teilweise auch desaströsen Performances wurde Raabs neuerliches Engagement 2010 medial groß bejubelt - und sollte in einer seltenen Sternstunde des deutschen «ESC»-Schaffens gipfeln.
Die junge Lena Meyer-Landrut verzauberte in der von ARD und ProSieben in Kooperation ausgestrahlten Casting-Show «Unser Star für Oslo» zunächst das deutsche Publikum, bevor ihr in der norwegischen Hauptstadt schließlich auch das nahezu Undenkbare gelang: der Sieg. Mit üppigen 76 Punkten Vorsprung dominierte die Hannoveranerin die Abstimmung nach Belieben und holte den Wettbewerb nach Düsseldorf. Unter einigen Bedenken der Öffentlichkeit trat sie dort abermals an, ihr "Taken By A Stranger" hob sich dabei allerdings so sehr von "Satellite" ab, dass die Angst, das restliche Europa könnte die Mission Titelverteidigung mit Missachtung strafen, nur in Teilen zutraf. Mit Platz zehn markierte Lena hier zwar Raabs bisher schwächste Platzierung, vertrat das Land allerdings mehr als würdig. Ein weiteres Mal wurde die Kooperation mit Raab verlängert, auch seine neueste Entdeckung Roman Lob legte eine überzeugende Leistung sowie einen guten achten Platz hin. Doch da «Unser Star für Baku» aus Quotensicht eine Enttäuschung war und der ProSieben-Erfolgsgarant die Zusammenarbeit nicht abermals verlängern wollte, musste Deutschland 2013 wieder anderweitig auf die Suche gehen - und Abstand vom wiedergewonnenen Selbstverständnis nehmen, im Klassement vorne zu stehen.
Überraschungen im zweiten Semifinale...
...blieben weitgehend aus. Marta Jandova scheiterte für Tschechien etwas enttäuschend, bereits erwartet wurden die Enttäuschungen für Ralph Siegel (San Marino) und die Schweiz. Die favorisierten Schweden schafften den Einzug ins Finale.Denn so gut man es auch mit dem NDR meinen mag, fällt es doch schwer, eine Interpretation zu finden, die dessen Eigenleistung seit 2000 nicht als völliges Desaster beschreibt. Abgesehen von Michelle datiert der größte Erfolg vom Jahr 2003, als letztmals Ralph Siegel für Deutschland ins Rennen ging. Er und Sängerin Lou kamen zwar auf einen soliden zwölften Platz, doch im Inland sorgte "Let's Get Happy" für diversen Spott und Hohn. Inzwischen hat Siegel in San Marino seine zweite musikalische Heimat gefunden, nachdem er zuvor von Kleinstaat zu Kleinstaat gepilgert war, um seine Produktionen an den Mann zu bringen. Im Jahr vor Lou hatte Siegel mit Corinna May allerdings auch bereits das erste völlige deutsche Desaster mitverantwortet: Die Billig-Produktion "I Can't Live Without Music" wirkte für die blinde Sängerin ebenso unpassend wie der beinahe tragikomisch anmutende Auftritt in Estland - Platz 21 von 24 teilnehmenden Nationen sprang letztlich heraus.
Dass Deutschland damit noch nicht den Gipfel der Unzulänglichkeit erreicht hatte, stellte man 2005 eindrucksvoll unter Beweis. Gracia kreischte mit "Run & Hide" auch den widerstandsfähigsten «DSDS»-Zuschauer in den Tinnitus, Monaco und Moldawien stellten latent masochistische Tendenzen unter Beweis, indem sie ihrem lautstarken Abgesang in die völlige Bedeutungslosigkeit noch jeweils zwei Punkte zukommen ließen - es waren allerdings auch die einzigen Zähler, die diesem historischen Tiefpunkt des deutschen «ESC»-Treibens vergönnt waren. Drei Jahre später machten es die No Angels vom Casting-Pendant «Popstars» nur bedingt besser, dank Lucy Diakovskas Popularität in Bulgarien gab es allerdings immerhin aus einem Land die vollen zwölf Zähler. Zusammen mit zwei Pünktchen aus der Schweiz reichte es, um immerhin auf Augenhöhe mit Polen und Großbritannien zu rangieren und nicht abermals alleiniges Schlusslicht zu werden. Zumindest diesem Elend wäre Deutschland aber beinahe noch entgangen: Im Vorentscheid hatten sich die Engel nur um Haaresbreite gegenüber der ungleich minder populären Musical-Sängerin Carolin Fortenbacher durchgesetzt, die bei ihrem Auftritt mit Stimmkraft und einem leicht kitschigen, aber schön arrangierten Stück überzeugte.
Deutschland ohne Raab-Beteiligung (seit 2000)
- 2001-2003: Michelle (Platz 8), Corinna May (21) & Lou (12)
- 2005-2009: Gracia (24, Letzter), Texas Lightning (15), Roger Cicero (19), No Angels (23) & Alex Swings Oscar Sings (20)
- 2013/2014: Cascada (21) & Elaiza (18)
Der NDR hatte nun genug vom deutschen Publikum und entschied in einem despotischen Prozess 2009 einfach mal komplett eigenhändig über den deutschen Vertreter. In diesem Zuge machte sich manch einer Hoffnung, große deutsche Künstler von internationalem Format könnten nun leichter zu gewinnen sein, wo sie keine Blamage durch ein Scheitern beim Vorentscheid befürchten müssen. Stattdessen ging das Duo Alex Swings Oscar Sings als Gewinner der internen Auswahl hervor, bei dem Alex Christensen nach "Du hast den schönsten Arsch der Welt", "Doktorspiele" und "Du bist so porno" die Welt mit einem weiteren subtilen Meisterwerk beglückte: "Miss Kiss Kiss Bang". Nach einem 20. Platz erkannte der NDR, dass die Flops der vergangenen Jahre doch nicht nur am Publikum gelegen haben dürften.
Doch wenngleich Deutschland sich in dieser Ära wahrlich nicht mit Ruhm bekleckerte, gab es mit Texas Lightning 2006 auch ein großes Trauma zu überwinden. National wie international wurde die Formation um Olli Dittrich und Jane Comerford sowie ihr Titel "No No Never" geschätzt, mehr als Platz 15 war für den ungewöhnlichen Country-Sound letztlich trotzdem nicht drin. Vorhalten mag man dies den Verantwortlichen jedoch kaum - zumal bei vielen «ESC»-Fans heute die Meinung vorherrscht, dass der Titel deutlich weiter vorne gelandet wäre, wenn schon damals Fachjurys mit entschieden hätten. Anders als das europäische war das deutsche Massenpublikum damals übrigens leicht für den modernen Country-Sound zu begeistern: Der Song stand wochenlang an der Spitze der Single-Charts und avancierte zu einem der größten Hits des Jahres.
Und dann wären da noch die Jahre 2013 und 2014 zu nennen, die zumindest derzeit noch am schwersten retrospektiv zu beurteilen sind. Cascada war der kleinste gemeinsame Nenner, der sich aus einem Voting-Wust aus TV-Voting, Jury-Meinung und Radio-Voting ergab - aber auch ein überaus austauschbarer, kalkulierter und wenig sympathischer Versuch, auf den Dance-Pop-Trend aufzuspringen. Die Wettanbieter prognostizierten Natalie Horler und Co. einen Erfolg, stattdessen floppten sie mit nur 18 Punkten und Platz 21. Im Jahr darauf ging mit Elaiza eine weitaus bodenständigere und weniger anbiedernde Mädchengruppe an den Start, mehr als Platz 18 und die Erkenntnis, dass sie sich und ihr Land nicht blamiert hatten, war allerdings auch hier nicht an Erfolgen zu vermelden.
Die durchschnittliche Platzierung von Stefan Raab liegt bei einem sehr beachtlichen Wert von 6,4, wobei hier nur die fünf direkten oder indirekten Teilnahmen des Entertainers im neuen Jahrtausend gewertet wurden. Zählt man sein Mitwirken bei Guildo Horn hinzu, verringert sich der Schnitt allerdings nur um ein Zehntel. Raabs einziger Sieg gelang mit Lena 2010, gefolgt von seinem eigenen Auftritt (Rang fünf) sowie den drei anderen Teilnahmen, die mit Platz acht bis zehn ebenfalls allesamt völlig im grünen Bereich lagen. Einen Misserfolg hatte der gelernte Metzger also noch gar nicht zu verkraften.
Ihre Prognose: Welchen Platz belegt Ann Sophie beim «ESC»?
Etwas anders sieht es diesbezüglich beim NDR aus, der in den vergangenen 15 Jahren zu keinem Zeitpunkt von sich behaupten konnte, auch ohne Raab ein erfolgsversprechendes Konzept für die Teilnehmerauslese gefunden zu haben. Mit Position acht (Michelle) ist sogar das Highlight des Jahrtausends noch auf einem leicht schwächeren Niveau angesiedelt als die durchschnittliche Raab-Platzierung, in den neun weiteren Jahren gelang nicht einmal ein Sprung in die Top Ten. Entsprechend miserabel fällt somit auch der Mittelwert ohne Raab aus, der bei 18,1 liegt. Insgesamt liegt die durchschnittliche Platzierung der vergangenen 15 Jahre übrigens bei 14,2. Ann Sophie wäre also in guter Gesellschaft, sollten die Wettanbieter in ihrer für Deutschland düsteren Prognose Recht behalten.