Im Kampf um zahlende Kunden muss jeder Anbieter seine Nische finden. Amazon macht vieles anders als Netflix und Co., wagt sich an nahezu jedes Thema heran. Ein Blick auf das vielleicht ungewöhnlichste Serienstudio unserer Zeit.
Starttermine weiterer Amazon-Serien (OV)
- 4. September: «Hand of God»
- 9. Oktober: «Red Oaks»
- 20. November: «The Man in the High Castle»
- 4. Dezember: «Transparent» S2
- Januar 2016: «Mozart in the Jungle» S2
Eigentlich sind es Platitüden, die die Verantwortlichen der Amazon Studios von sich geben. Amazon-Chef Jeff Bezos sagt, die Qualität der eigenen Serien sei wichtiger als darauf zu schauen, was Netflix macht. Morgan Wendell, Chef der Drama-Sparte, ergänzt: „Wir wollen nicht die drittbeste Show für zehn Millionen Menschen machen. Wir wollen die beste Show für irgendeinen Menschen machen.“
Wie gesagt: Leere Phrasen, auf den ersten Blick. Wären da nicht die Inhalte und Entscheidungen, die für sich sprechen. Und dafür, dass die Amazon-Chefs ehrlich mit dem sind, was sie sagen. Noch so eine Aussage ist diese: „Eine Idee hat etwas Aufregendes an sich, wenn sie kein vernünftiger Network-Verantwortlicher umsetzen würde. Das ist ein exzellentes Zeichen dafür, dass wir uns in unerforschten Gewässern befinden. Und genau dort wollen wir sein.“ Die Aussage kommt von Roy Price, dem Chef der Amazon Studios. Und sie beschreibt ziemlich gut, wie Amazon seine Nische im hart umkämpften Markt der Serienproduktionen gefunden hat. Das Datum, mit dem alles begann, lässt sich klar datieren: mit dem 26. September 2014. Damals wurde die erste Staffel von «Transparent» veröffentlicht.
«Transparent» ist genau so eine Serie, an die sich kein anderes Studio herantraute. Es geht um eine Familie und ihren Alltag, nachdem der Vater sich als Transsexueller outet. So richtig riss sich niemand um die von persönlichen Erfahrungen inspirierte Idee, so Produzentin Jill Soloway gegenüber dem „New York Magazine“. Klassische Networks könnten dieses Konzept ihren Werbekunden ohnehin nicht vermitteln, aber auch HBO und Showtime waren nicht Feuer und Flamme. „Amazon war es. Und sie wollten, dass ich sofort mit den Dreharbeiten beginne.“ Die Geschichte danach ist bekannt: «Transparent» wurde zu einer der meistdiskutierten Serien 2014, die Amazon Studios hatten plötzlich einen Namen und eine Marke. Sie waren im Geschäft. Im Januar gewann man zwei Golden Globes, für die anstehenden Emmys ist «Transparent» ganze elf Mal nominiert. Mehr als jede andere Comedy-Serie.
Vom Was zum Wie
Mit dem Erfolg von «Transparent» hat Amazon Blut geleckt. Die Strategie, sich von den zahlreichen Mitbewerbern im Seriengeschäft abzusetzen, fand einen neuen Ankerpunkt. Bisher war man dafür bekannt, das
Wie der Veröffentlichung innovativ zu gestalten: Bekannt waren die Amazon Studios bis 2014 vor allem für ihre Pilot Seasons, in denen Serienpiloten allen Zuschauern präsentiert werden. Einige davon gingen dann in Serie. Der sonst intern verlaufende Pilot-Prozess wird öffentlich gemacht. Und das Publikum bekommt den Eindruck, es darf mitentscheiden, welche Formate in Serie gehen dürfen.
Zum Teil stimmt das mit Sicherheit. Dennoch ging Amazon auch in der Vergangenheit das Risiko, weniger beliebte Formate zu verlängern: darunter «Transparent», aber auch das leider wenig beachtete Magazin «The New Yorker Presents». «Transparent» bewerteten die Zuschauer vor Veröffentlichung der ersten Staffel beispielsweise mit „nur“ 4.1 von 5 Sternen. Generell mag man unpopuläre Entscheidungen: Nicht über einen Piloten kam beispielsweise «Zombieland» hinaus, das geplante Spin-Off zum Kinofilm. Oder «The After», der Sci-Fi-Versuch von «Akte X»-Erfinder Chris Carter. Ebenso scheiterte «Cocked», das trotz einer Wertung von 4.3 Sternen nicht weiterverfolgt wurde.
Der Überraschungshit «Transparent» zeigte den Amazon Studios plötzlich auch auf, innovativ mit dem
Was der Veröffentlichung umzugehen. Plötzlich war man nicht mehr der Anbieter, der Zuschauer abstimmen lässt, was sie sehen wollen. Sondern der Anbieter, der über ungewöhnliche Geschichten, über bisweilen provokante Formate von sich reden macht. Durch Serien, die etwas Besonderes an sich haben und an die sich wirklich kein anderer herantraut.
Im September geht «Hand of God» in die erste Staffel, es erzählt von einem Anwalt, der glaubt, Gott steuere seine Handlungen. Das Problem: Der Anwalt flucht, besucht Prostituierte, ist moralisch korrupt. Und das alles mit der Zustimmung Gottes, vermeintlich. Unbestritten, dass die erste Staffel vor allem in den USA heiß diskutiert werden wird, genauso wie es der Pilot bereits tat. «Hand of God» ist wieder so ein Beispiel, wie «Transparent». Serienschöpfer Ben Watkins («Sons of Anarchy») konnte seine Vision keinem Network vermitteln – immer wollte man Änderungen, wollte die Provokation abmildern. Amazon ließ ihn gewähren. „Planen Sie, dieselben kontroversen Themen auch anzusprechen, wenn der Pilot in Serie geht?“, fragte Studiochef Roy Price ihn einmal. Watkins war besorgt, er müsse nun doch Zugeständnisse machen. „Also, das ist eigentlich, was die Show machen will“, antwortete er. Price war – zufrieden: „Gut“, sagte er, „Geben Sie uns mehr davon.“ Danach orderte er die erste Staffel.
«Transparent» und «Hand of God» zeigen am klarsten auf, wie Amazon seine Nische gefunden hat. Letztlich läuft die Strategie darauf hinaus, den Serienschöpfern und Autoren komplette Freiheiten zu gewähren. «Transparent»-Erfinderin Soloway erklärte, dass nur ein einziger Verantwortlicher von Amazon sie über Feedback auf dem Laufenden halte. Das Studio will die Serienmacher nicht ablenken von ihrer Idee, scheint arbeiten zu wollen wie Independent-Produktionen. Deshalb erfahren sie auch nicht, wie viele Zuschauer ihre Serie letztlich hatten, wie viele Klicks sie generiert haben oder ähnliches. Das Zahlengeschäft behandelt Amazon komplett intern.
Der Künstler als kreativer Mittelpunkt
Das „New York Magazine“ hat für die Amazon-Strategie einen wunderbar passenden Begriff geprägt: auteur TV. Autoren- oder Künstlerfernsehen ist es, das das Studio auszeichnet. Oder anders ausgedrückt: Fernsehen ohne Kompromisse, für das man auch ein gewisses Risiko geht. Dies führt jedoch automatisch zu einem weiteren Vorteil: Im Seriengeschäft haben die Networks und Produzenten sich jeweils ihre eigenen Markenidentitäten aufgebaut, damit auch Zielgruppen und Formate, die die Inhalte in einem gewissen Rahmen definieren. HBO wird immer das Network von «The Sopranos» und «Sex and the City» bleiben, FX steht für hartes, teils brutales, immer erwachsenes Programm, Showtime fährt gern die Provokationsschiene. Und Netflix hat – mit der Ausnahme von «Sense8» – in letzter Zeit in klaren Genre-Grenzen gedacht und massenkompatible Stoffe produziert. Auch ist man der Anbieter, der Ideen oder gar Serien von anderen Networks übernimmt – siehe «The Killing» und «Arrested Development».
Mit ihren Brands stehen die Anbieter in einer Art Interessenskonflikt, da sie einerseits ihre Markenidentität nicht verwässern und ihr Publikum (bzw. ihre zahlenden Kunden) erfolgreich bedienen wollen. Auf der anderen Seite aber sind gerade neue Konzepte und innovative Ideen erforderlich, um den
next big hit landen zu können und bei Zuschauern im Gespräch zu bleiben. Die Amazon-Strategie des völlig kompromissfreien auteur TV stellt die Frage der Markenidentität hinten an und lässt Visionen verschiedenster Art realisieren. Mit Hilfe der Zuschauer, die gerade nicht das Altbekannte wollen: Bei der letzten großen Pilot Season war «The Man in the High Castle» der große Gewinner – eine Serie über eine alternative Realität, in der die Nationalsozialisten den zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Selbstverständlich orderte Amazon eine erste Staffel.
Ähnlich ungewöhnlich zeigt sich der kürzlich veröffentlichte Pilot «Sneaky Pete»: Er handelt von einem Ex-Knacki, der aufgrund von Geldproblemen in einer fremden Familie den verlorenen Sohn spielt. Als er merkt, dass die Familie gar nicht vermögend ist, will er wieder abziehen – bis er merkt, dass er hier die Liebe und Zuneigung bekommt, die er in seiner Kindheit nie erfahren durfte. Ein ergreifender, nachdenklicher, aber auch actionreicher Pilotfilm ist das, der viel Serienpotenzial besitzt. Nicht ohne Grund taucht Bryan Cranston in einer Nebenrolle auf.
Das auteur-Konzept stellt sicher, dass man bestmöglich innovativ denkt, dass man die künstlerischen Grenzen austestet und ein vielfältiges Programm macht. Zahlreiche große Namen konnte Amazon zuletzt damit gewinnen: Steven Soderbergh und David Gordon Green («Red Oaks»), «Dr. House»-Erfinder David Shore («Sneaky Pete») und Jean-Pierre Jeunet für «Casanova». 2016 kommt Woody Allens allererste TV-Serie überhaupt beim Anbieter.
Keine Serie gleicht der anderen, schon jetzt nicht. Und man hat kaum das Gefühl, etwas Ähnliches in der Art bereits gesehen zu haben. Bis November starten drei neue Formate, danach kommen weitere Staffeln von «Transparent» und «Mozart in the Jungle». Viel Diskussionsstoff also. Amazon hat es abwechslungsreich gemacht im Serienbusiness.