Sechs Thesen zum Krautreporter

Fast ein Jahr ist der Krautreporter nun online. Von der Rettung des Journalismus spricht dort niemand mehr. Gut so. Denn eine Selbstkorrektur des Projekts ist bitter nötig. Ein Kommentar.

Vor rund einem Jahr ist der Krautreporter angetreten, um den Journalismus zu retten.

So ehrgeizig würden die Redakteure ihr Ziel wohl heute nicht mehr formulieren. Und ihre Bestandsaufnahme über das erste Krautreporter-Jahr im Netz liest sich, gemessen an der euphorischen Stimmung der Gründerzeit, ziemlich ernüchternd. Gleichzeitig aber auch sehr angenehm realistisch und selbstkritisch. Man erkennt die gemachten Fehler als solche an und sieht (oder wähnt?) sich auf dem Weg der Besserung. Dafür schon einmal: Chapeau für das Erkennen der Notwendigkeit einer Selbstkorrektur.

Dennoch will ich mich diese Woche ein wenig mit den Fehlern beschäftigen, die der Krautreporter im ersten Jahr seines Bestehens aus meiner Sicht gemacht hat. Frei von Häme, aber zugespitzt und dezidiert. Samt Einladung zu Kritik, Widerspruch und Ergänzung. Los geht’s:

Die Angst vor Meinung
Von Anfang an positionierte sich der Krautreporter ganz klar als Magazin für Reportagen und lange Berichte. Und eben explizit nicht als Meinungsmagazin. Beim Krautreporter sollte vor allem detailliert recherchiert und dann informiert werden, gerade da, wo anderswo nur „herumgemeint“ würde.
Was man vergessen hat: Ohne Meinung in Form von politischer und gesellschaftlicher Haltung dürfte kein lesenswerter Text zu schreiben sein. Sie hält – auch bei den edelsten Motiven und Vorsätzen, „neutral zu berichten“ – Einzug in so ziemlich jeden Beitrag. Allein, weil schon im Rahmen der Interessenszensur selektiert werden muss, welche Aspekte es überhaupt in den Text schaffen – und diese Selektion mitunter auch von den unterbewussten gesellschaftspolitischen Färbungen des Journalisten beeinflusst wird. Weil sich seit langen Jahren gefestigte essentielle Vorstellungen von der Welt, den Menschen, der Gesellschaft und dem Politbetrieb auch bei Top-Journalisten nicht einfach ausschalten lassen (dass sie bei ihnen kaum zu übersehen sind, macht sie oft erst zu solchen).
Beim Krautreporter fehlte es an Streit, an Debatte, am konstruktiven Austausch verschiedener Positionen, an der Beleuchtung eines Themas nicht nur aus unterschiedlichen Blickwinkeln, sondern auch mit unterschiedlichen Grundannahmen, Weltanschauungen und mit anderen Augen. Das führt uns zu Punkt Zwei:

Krautreporter. Oder: Die frühen Jahre der taz
Der Krautreporter hat sich in nahezu sämtlichen politischen und gesellschaftlichen Debatten klar im linken Spektrum positioniert.
Und zwar mit höchster Wahrscheinlichkeit, ohne gezielt darauf hinzuarbeiten, geschweige denn es überhaupt zu wollen. Im Gegenteil: Man wollte ja gerade keine Meinung, sondern eine Plattform für neutrale Information, für das Erklären komplexer Zusammenhänge, für Geschichten und Themen und nicht dafür, was die Autoren selbst darüber denken.
Und trotzdem bezieht der Krautreporter Position, allein durch die Auswahl seiner Themen und die impliziten wie expliziten Haltungen seiner Texte. Gegen Atomwaffen. Gegen eine neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Mit einer zum Konsens erhobenen Skepsis vor allem, was in Amerika passiert.
Das sind ja alles legitime Meinungen und Haltungen (wenn vielleicht auch nicht immer und unbedingt die intelligentesten). Aber eben genau das – und nicht nur strikt neutral gehaltene Texte, die allein aus journalistisch aufbereiteten Informationen und Sachzusammenhängen bestehen.
Mittlerweile ist man an manchen Stellen gar beim Populismus gelandet.

Mit Jugend und Naivität ist der Journalismus nicht zu retten.
Als Tilo Jung nach einem Fehltritt auf seinen Social-Media-Kanälen einige Zeit beim Krautreporter pausieren musste, riss das große Lücken ins Programm. Denn sein Online-Magazin «Jung und Naiv», in dem Jung als eine Art Kunstfigur mit dem Wissensstand und Politikverständnis eines etwa 14-Jährigen Politiker und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens interviewt oder in der Bundespressekonferenz unangenehme Fragen stellt, war schnell zu einem Eckpfeiler im Angebot von Krautreporter geworden.
Nicht falsch verstehen: An sich ist «Jung & Naiv» häufig eine tolle Sendung. Aber zu einer meinungsscheuen Gegenposition zu den großen kommerziellen journalistischen Angeboten, die vor allem durch eiserne Recherchen und hervorragenden Sachverstand punkten will, hat die Web-Sendung nie sonderlich gut gepasst. Und machte es dem Krautreporter zusätzlich schwer, sich als eigene, unabhängige Marke zu etablieren.

Special Interest bleibt auch crowdgefunded Special Interest.
Ein Fehler, den Krautreporter mittlerweile behoben haben will, aber einer, der die Anfangszeit sicher belastet hat: Ausufernde Lesestücke über die Auswirkungen des Israel-Palästina-Konflikts auf Erdbeerbauen in Gaza und umfangreiche Abhandlungen über die Grenzen linguistischer Untersuchungen von Flüchtlingen zur Bestimmung ihres Herkunftslandes entbehren sicherlich nicht einer gewissen (manche mögen argumentieren: sogar einer sehr hohen) Relevanz und es ist löblich, dass solche Stoffe bei Krautreporter einen prominenten Platz erhalten. Doch in seinen Anfangstagen war Krautreporter wenig mehr als eine Ansammlung solch obskurer Themen. Das mag so beabsichtigt gewesen sein, um sich inhaltlich schon auf den ersten Blick von den großen Playern abheben zu können. Das Interesse der breiten Öffentlichkeit dürfte jedoch nicht gerade überwältigend gewesen sein. Und letztlich muss man ja auch eine breite Leserschaft erreichen, wenn man den Journalismus retten will – oder zumindest ein funktionierendes Gegenmodell zu den als Klicktreiberei wahrgenommenen Konkurrenzangeboten etablieren.

Schnelligkeit und Qualität schließen sich nicht aus.
Anfang des Jahres wurde es besonders deutlich: Nach den Anschlägen von Paris wollte man bei Krautreporter nichts überstürzen und hielt sich mit schnellen Einordnungen zurück. Ein Fehler: Denn gerade bei solchen Anlässen ist der Bedarf an intellektueller Unterstützung durch den Journalismus besonders hoch. Die Beobachtung, dass journalistische Qualität Zeit braucht, ist nicht falsch, aber es ist falsch, sie ausnahmslos in Tagen oder Wochen messen zu wollen. Nicht nur, weil der Bedarf der Konsumenten an Informationen über die aktuellen Ereignisse, ihre Hintergründe, ihre Vorläufer, ihre Auswirkungen und ihren polit-soziologischen Kontext unmittelbar nach ihrem Bekanntwerden vorhanden ist. Sondern auch, weil es zügiger geht als bei Krautreporter.
Gewissermaßen noch im Schatten der Ereignisse gelang es der Redaktion der amerikanischen «Rachel Maddow Show» einen exzellenten Beitrag zu recherchieren und zu produzieren, der hinsichtlich seiner journalistischen Qualität und seines inhaltlichen Sachverstands bis heute bei Krautreporter seinesgleichen sucht. Outlets wie „The Daily Beast“, „Mother Jones“ und „Politico“ versorgen ihre Leser mit ähnlicher Geschwindigkeit mit exzellenten Berichten.
Man mag anführen, dass es der kleine Krautreporter nun nicht mit der geballten News-Kompetenz eines der größten Nachrichtensender Amerikas aufnehmen müsse. Doch wenn man antritt, um den Journalismus zu retten, und noch dazu mit großer Skepsis auf meinungsstarke Angebote blickt, muss man sich an diesen Ansprüchen auch messen lassen.

Öffentlichkeit statt Community
Dass sich Krautreporter gerade von einem Unternehmen in eine Genossenschaft umbaut, mag angesichts seines Finanzierungssystems und seiner Veröffentlichkeitsstruktur (Das, was ein paar Mitglieder durch ihre Beiträge an Artikeln finanziert haben, wird kostenfrei für alle im Netz angeboten) ein logischer Schritt sein, kann sich aber ebenso gut als Fehlentscheidung entpuppen.
Denn grundsätzlich besteht die Gefahr, dass sich der Krautreporter in seinem Genossenschaftssystem in einer Art Klientelberichterstattung verlieren könnte: Journalismus für die wenigen Zehntausend, die Teil des Krautreporter-Systems sind (und die links-alternative Krautreporter-Weltanschauung teilen). Gut möglich, dass das Krautreporter-Team dahinter sogar mehr Chancen als Risiken zu erkennen glaubt.
Doch dem Krautreporter fehlt es vor allem auch an journalistischer Breitenwirkung, die er im gesamten ersten Jahr seines Bestehens nie erreichen konnte. Und nicht zuletzt bräuchte er nichts dringender als eine solche Breitenwirkung, damit von diesem Projekt ein nennenswerter Impact ausginge, der den Krautreporter nicht nur ein kleines, zu oft konfus ausgerichtetes Gegenstück zu den großen Playern sein ließe, sondern ihn zu einer echten, journalistisch integeren und auch in der Breite relevanten Alternative machen könnte.
11.09.2015 12:30 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/80695