Die Kino-Kritiker: «Everest»

«Everest»: Zahlreiche Hollywood-Stars, eine tragische, wahre Geschichte, majestätische Landschaftsaufnahmen und ein flaches Dialogbuch.

Filmfacts «Everest»

  • Regie: Baltasar Kormákur
  • Produktion: Tim Bevan, Eric Fellner, Baltasar Kormákur, Nicky Kentish Barnes, Tyler Thompson, Brian Oliver
  • Drehbuch: William Nicholson, Simon Beaufoy
  • Darsteller: Jason Clarke, Josh Brolin, John Hawkes, Robin Wright, Emily Watson, Keira Knightley, Sam Worthington, Jake Gyllenhaal
  • Musik: Dario Marianelli
  • Kamera: Salvatore Totino
  • Schnitt: Mick Audsley
  • Laufzeit: 121 Minuten
  • FSK: ab 12 Jahren
Glaubt man den Worten von Reinhard Mey, so muss über den Wolken die Freiheit wohl grenzenlos sein. Das Volkslied des deutschen Barden kommt in «Everest» zwar, wenig überraschend, nicht vor, trotzdem lässt sich ein Bezug zwischen beiden Werken herstellen. Denn zumindest einige der handelnden Figuren in diesem Abenteuer-Thrillerdrama streben danach, für die Dauer einiger weniger Sekunden besagte Freiheit zu erlangen. Und dies allein auf dem Fußweg! Sie besteigen im Mai 1996 den Mount Everest, der mit seinen gewaltigen 8.848 Metern bis in die übliche Flughöhe einer Boeing 747 emporragt. Wer die Trailer zum Film kennt, im Frühjahr '96 die Nachrichten verfolgt hat oder sich mit den tragischsten Ereignissen in der Bergsteigerhistorie auskennt, weiß, dass dieser Wunsch nach ein paar kurzen Augenblicken Freiheit fatale Folgen hat. Immerhin sind die luftigen Höhen, die der Berliner Liedermacher so poetisch besingt, vielleicht für Flugzeuge, nicht aber für den einfachen Menschen gemacht:

Wenige Minuten ohne Schnee- respektive Sonnenbrille können zu Schneeblindheit führen. Das Atmen ohne künstlichen Sauerstoff ist nur sehr kurzfristig möglich, jeder einzelne Schritt ist ungeheuerlich schwer und bei einem zu langen Aufenthalt droht der Höhenkoller. Von der eisigen Kälte ganz zu schweigen! Aber für den einmaligen Ausblick, die Sehnsucht nach einem unbeschreiblichen Freiheitsgefühl oder schlicht für den Nervenkitzel machen sich dennoch immer wieder Menschen auf den beschwerlichen Weg. Und wieder andere machen es für Geld. Darunter der versierte Bergsteiger Rob Hall (Jason Clarke), seines Zeichens Kopf des kommerziellen Betriebes 'Adventure Consultants', eine der führenden Firmen während der Blütezeit in Sachen Everest-Tourismus. Für eine satte vierstellige Summe verspricht Hall jedem Hobby-Abenteurer eine sichere Besteigung des Mount Everest. In seinem nunmehr fünften Jahr nimmt er unter anderem den geschiedenen Postboten Doug Hansen (John Hawkes), den texanischen Pathologen Beck Weathers (Josh Brolin), die japanische Kletterversessene Yasuko Namba (Naoko Mori) und den Reisejournalisten Jon Krakauer (Michael Kelly) unter seine Fittiche.

Da «Everest» auf einer tragischen, wahren Geschichte basiert, die monatelang in den Nachrichten thematisiert wurde und haufenweise Problem- und Sachbücher inspirierte, steht außer Frage, dass nicht alle Protagonisten diesen Trip überleben werden. Zu viel sei an dieser Stelle jedoch nicht verraten, da die im Film weitestgehend nüchtern geschilderten Ereignisse nicht zur Allgemeinbildung gehören. Dem sind sich auch die Drehbuchautoren William Nicholson und Simon Beaufoy bewusst, die ihre Geschichte so erzählen, dass Ahnungslose und Wissende gleichermaßen bedient werden. Zwar verdeutlichen die Autoren sehr früh, dass ein Damoklesschwert über der bunt zusammengewürfelten Gruppe hängt, gleichwohl gehen sie in ihrer Erzählung strikt chronologisch vor und verzichten auf klare Vorausdeutungen. Somit darf das unwissende Publikum mitfiebern und mitknobeln, wer denn überleben wird, während die Zuschauer mit Vorwissen nach all den kleinen Fehlentscheidungen Ausschau halten können, die im weiteren Verlauf grausame Auswirkungen haben werden.

Generell funktioniert die neue Regiearbeit von Baltasar Kormákur («2 Guns») am besten, wenn sie sich voll auf den Überlebenskampf der Bergsteigergruppe konzentriert, der sie in der zweiten Filmhälfte erwartet. Der Kampf Mensch gegen Natur und Wille gegen Können wird von Kormákur ohne Voyeurismus, aber eindringlich in Szene gesetzt. Hier macht sich seine Erfahrung durch das ebenfalls wahre, frostige Drama «The Deep» bezahlt, in dem er schon einmal eisige Landschaftsaufnahmen und bibberndes Schauspiel kraftvoll vermengte. Bedauerlich ist indes, dass sich «Everest» nicht stärker auf das fröstelnde Leid seiner zentralen Akteure verlässt. Denn so überzeugend vor allem Brolin, Clarke und Gyllenhaal als Scott Fischer, der Rock 'n' Roller der Berge, gegen die Widrigkeiten des Everest ankämpfen, so mau ist zwischenzeitlich das Dialogbuch.

Insbesondere die erste Hälfte zieht sich daher: Die zahlreichen Kennenlernszenen, in denen die Figuren grob umrissen werden, führen das Personal aufgrund der flachen Wortwechsel bloß als ein- bis zweidimensionale Abziehfiguren ein. Zudem verlieren sich sämtliche potentiell kritische Untertöne am Everest-Massentourismus in den fahlen Gesprächssequenzen, womit die dramatische Komponente an Gehalt verliert. Bevor es auf dem Achttausender wirklich brenzlig wirkt, überzeugt daher «House of Cards»-Nebendarsteller Michael Kelly am meisten: Seine Figur des Journalisten Jon Krakauer ist in den frühen Momenten die facettenreichste und hält somit den schwachen Einstieg des Films zusammen. Fans von Keira Knightley und Robin Wright sollten indes nicht zu viel von «Everest» erwarten, denn als besorgte Ehefrauen haben sie in diesem Abenteuer recht wenig zu tun.

Auch wenn aus der 3D-Technologie weitaus weniger raus geholt wird, als möglich gewesen wäre, kann sich «Everest» allen Makeln zum Trotz als visuelles Erlebnis sehen lassen. Die leinwandfüllenden Aufnahmen der eisigen Gebirgslandschaften – Island und Südtirol dienten weitestgehend als Double, einige wenige Aufnahmen entstanden aber tatsächlich in Nepal – sind majestätisch und ehrfurchtgebietend. Und in den Momenten, in denen nicht die Gefährlichkeit und Tragik der hier geschilderten Bergbesteigung anno 1996 deutlich wird, sondern schlicht der Ausblick bestaunt werden darf … Während dieser kurzen Passagen kann man als Zuschauer kurz aufhören, über das halsbrecherische Verhalten der Figuren den Kopf zu schütteln. Die Landschaftsaufnahmen springen sozusagen für das Dialogbuch in die Bresche und erlauben es, neidlos anzuerkennen: So hoch über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein! Und egal, wie gefährlich eine Everest-Besteigung sein mag, völlig unverständlich sind die Ziele der Figuren dann doch nicht. Ob «Everest» solche Gedanken beflügeln sollte, ist derweil Stoff für eine ganz andere Debatte.

Fazit: Die Dialoge in «Everest» sind teilweise so flach, wie der titelgebende Berg hoch ist. Daher enttäuscht die dramatische, menschliche Komponente dieses 3D-Films enorm. Wann immer sich «Everest» darauf beschränkt, ein nervenaufreibender Abenteuer-Thriller mit namhafter Besetzung und atemberaubenden Bildern zu sein, funktioniert er aber sehr gut.

«Everest» ist ab sofort in vielen deutschen Kinos zu sehen – in 3D sowie 2D.
17.09.2015 12:30 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/80831