Für die Geschichte um Moby Dick begibt sich Chris Hemsworth auf eine Tour de Force zur See. Unter der Leitung von «Rush»-Regisseur Ron Howard liefert er die beste Leistung seiner Karriere ab.
Filmfacts: «Im Herzen der See»
- Kinostart: 3. Dezember 2015
- Genre: Abenteuer/Drama
- FSK: 12
- Laufzeit: 121 Min.
- Kamera: Anthony Dod Mantle
- Musik: Roque Baños
- Buch: Charles Leavitt
- Regie: Ron Howard
- Schauspieler: Chris Hemsworth, Tom Holland, Ben Whishaw, Cillian Murphy, Charlotte Riley, Brandon Gleeson, Frank Dillane, Benjamin Walker, Paul Anderson
- OT: In the Heart of the Sea (USA 2015)
Das wohl größte Plus an Regisseur, Schauspieler, Drehbuchautor und Produzent Ron Howard ist sein Selbstverständnis dafür, sperrige Themen auch für fachlich unkundige Zuschauer packend zu verpacken. Als bestes Beispiel für diese Gabe dient wohl sein Formel-eins-Fahrerportrait «Rush», das sich unter anderer Leitung inszeniert vermutlich nur den ohnehin dem Thema zugetanen Zuschauern hätte erschließen können. Howard hingegen machte aus seinem mit Chris Hemsworth («Avengers: Age of Ultron») und Daniel Brühl («Im Rausch der Sterne») stargespickten Sportlerdrama einen waschechten Konkurrenzthriller und ließ seinem Publikum spätestens auf der buchstäblichen Zielgerade den Mund offen stehen und den Atem anhalten. Die Grundgeschichte seines neuen Werkes, dem 3D-Abenteuerdrama „Im Herzen der See“, ist da schon einem weitaus breiteren Publikum bekannt. Immerhin gehört die Story um den Walkoloss Moby Dick seit seinem Erscheinen zur Stammlektüre in Schulen. Trotzdem ist die uneingeschränkte Aufgeschlossenheit dieser rauen Thematik gegenüber nicht selbstverständlich. Ein Abenteuer auf hoher See ist nicht zwingend etwas, wofür jeder Interesse mitbringt. Doch mithilfe seines ziemlich genau zwei Stunden umfassenden Blockbusterdramas «Im Herzen der See» macht Ron Howard aus der Entstehungsgeschichte um den Roman „Moby Dick“ ein visuell spektakuläres und inhaltlich hochspannendes Abenteuer, dessen Rausch man sich nur schwer entziehen kann.
Der aufstrebende Schriftsteller Herman Melville (Ben Whishaw) erfährt von dem greisen Thomas Nickerson (Brendan Gleeson), einem ehemaligen Seefahrer, von einem seiner größten Abenteuer: Im Winter 1820 sticht er (Tom Holland) gemeinsam mit einer Handvoll Walfängern in See. Die Besatzung der Essex soll unter der Leitung des ersten Offiziers Owen Chase (Chris Hemsworth) und des unerfahrenen Kapitäns George Pollard (Benjamin Walker) für die Beschaffung von sogenanntem Walöl sorgen und macht Jagd auf die gigantischen Meeressäuger. Eines Tages kommt es zu einem Angriff, dessen Wucht sämtliches Vorstellungsvermögen der Seeleute übersteigt: Ein gigantischer Wal entwickelt bei seiner Attacke einen menschenähnlichen Drang nach Vergeltung. Es kommt zu einem qualvollen Überlebenskampf der verbliebenen Besatzung, der die verzweifelten Seemänner dazu bringt, Unvorstellbares zu tun. Stürme, Hunger und Panik nötigen die Männer dazu, den Wert des menschlichen Lebens und die Ethik ihres Berufs infrage zu stellen, während sich der Kapitän auf dem offenen Meer zu orientieren versucht und der erste Offizier an seinem Plan festhält, den großen Wal doch noch zu erlegen.
Wird der Filmstart von fertig abgedrehten Produktionen normalerweise deshalb verschoben, weil die Studios rückblickend doch nicht mehr das größte Vertrauen in das Projekt besitzen, rührte dieses Prozedere im Falle von «Im Herzen der See» ganz woanders her. Warner Bros. Pictures sah in der Seefahrerodyssee schlicht so viel Potenzial für die kommenden Filmawards, dass man sich dazu entschloss, den Film näher an der Oscar-Saison zu platzieren. Ron Howards Regiearbeit darüber hinaus relativ nah an den Kinostart des Jahres, «Star Wars: Das Erwachen der Macht», heranzurücken, ist bei näherem Hinsehen ebenfalls eine gute Idee. Zwar möchte man meinen, es würde mehr Sinn ergeben, sich so weit wie möglich von dem Science-Fiction-Spektakel fernzuhalten, doch nur allzu oft unterschätzte man bereits den Wert von parallel zum Hype startenden Alternativprogrammen. So war das Abenteuerdrama «Everest» in diesem Jahr wohl vor allem deshalb so überraschend erfolgreich (810.296 Besucher), weil die Produktion einen der wenigen überhaupt gestarteten Konkurrenzfilme zum Überhype «Fack ju Göhte 2» darstellte.
Im Falle von «Im Herzen der See» sind diese Vorstellungen von einem etwaigen Award-Gewinn nicht allzu weit hergeholt. Die Geschichte selbst gehört rund um den Globus zur Allgemeinbildung, der Cast beinhaltet Schauspielgrößen wie Chris Hemsworth, Ben Whishaw («James Bond 007: Spectre»), Brandon Gleeson («Edge of Tomorrow») sowie Cillian Murphy («Transcendence») und der Film selbst ist in seinem visuellen Pomp von einer fast überfordernden Schönheit. Auch Ron Howard gehört mit seiner regelmäßigen Präsenz bei internationalen Filmpreisen nicht zu unsichersten Bank, wenn es um den Gewinn eines goldenen Jungen, einer goldenden Weltkugel oder anderweitigen Trophäen gilt. Kurzum: «Im Herzen der See» ist waschechtes Oscar-Kino und hat mit seinem Aufwand, der sich besonders in der technischen Ausstattung wiederfindet, wohl lediglich die Actionorgie «Mad Max: Fury Road» als direkte Konkurrenz in Sachen „Szenenbild“, „visuelle Effekte“ und „Kostümdesign“ zu fürchten. So lassen die ersten zwanzig Filmminuten, die sich auf dem Festland einer nachgebildeten Hafenstadt des 19. Jahrhunderts abspielen, noch gar nicht erahnen, in welche optisch opulenten Sphären Kameramann Anthony Dod Mantle («127 Hours») sein Publikum später noch entführen wird.
«Im Herzen der See» ist in erster Linie Abenteuerkino. Drehbuchautor Charles Leavitt («Seventh Son») bemüht sich mit Ausnahme der in Rückblenden stattfindenden und somit immer wieder von Szenen in der filmischen Gegenwart spielenden Erzählpassagen eines erwachsenen Thomas Nickerson durchbrochenen Erzählung nicht darum, der schon vielfach dargebotenen Geschichte ganz neue Sichtweisen abzugewinnen. Neu ist all das, was Ron Howard hier inszeniert nicht, doch gerade im Genre des Abenteuerfilms ist auch hier der Weg das Ziel. Inszenatorische Raffinessen finden sich hier in der Verschmelzung unterschiedlicher Genres. Während es die angedeutete Liebesgeschichte zu Beginn des Films nur bedingt braucht, um Hauptfigur Owen Chase auf möglichst simple Weise charakterlich zu etablieren, wechseln sich in den folgenden 90 Minuten Genreeinflüsse aus Action- respektive Katastrophenfilm, Entdeckerabenteuer, Charakterdrama und kinematographischer Philosophiestunde ab. Auch der Machtkampf an Deck ist immer wieder Thema in «Im Herzen der See» und darüber hinaus bietet der Film Einblicke in den rauen Alltag einer Schiffsbesatzung von einst. Mit Seefahrerromantik und Heldentum hat das alles nichts zu tun. Szenen, in welchen sich die Kamera ins Innere eines Walkadavers begibt um dort das Schröpfen des zur Ölherstellung benötigten Trans abzulichten, sind von körperlichem Ekel durchzogen, der die Leidensfähigkeit des Publikums stark strapaziert. Auch die dynamischen Aufnahmen der Waljagd sind zwar aus Sicht der Effekte, in denen sich CGI und in der Realität eingefangene Bilder von in Freiheit lebenden Walen vermischen, makellos, aber in ihrer Brutalität schwer zu ertragen.
Die 121 Minuten Spielzeit vergehen bei «Im Herzen der See» – im wahrsten Sinne des Wortes – wie im Flug. Ron Howard ist sichtbar bestrebt, ein inszenatorisch möglichst vielfältiges Abbild der Essex-Besatzung zu zeichnen, bei dem jeder emotionalen Ebene ausreichend Zeit gewidmet wird. Das dies gelingt, ist neben einem ausgeglichenen Skript auch der Darstellerriege zu verdanken. So mangelt es den meisten Charakteren zwar an jenen Ecken und Kanten, die sie den Film in Gänze allein bestreiten ließen, doch «Im Herzen der See» ist ganz klar ein Ensemblefilm, bei dem sich niemand hervortun soll. Chris Hemsworth wird als Hollywoodstar mit großer Fanbase zwar sichtbar die größte Aufmerksamkeit zuteil und besitzt als Einziger so etwas wie Charakterzüge mit Wiedererkennungswert, doch die größte Identifikationsfigur ist schlussendlich die Szenerie selbst. Der Zuschauer wird insbesondere auf der Zielgeraden mit der Frage konfrontiert, wie er selbst mit dieser Situation umgehen würde. Zu stark herausgearbeitete Charaktere würden sich der ausgeprägten Auseinandersetzung mit dem Thema nur in den Weg stellen. So macht «Im Herzen der See» schlussendlich alles richtig und passt eine bekannte Geschichte mit modernsten Mitteln dem heutigen Zeitgeist an. Davon profitieren am Ende alle – gerade der Zuschauer, der auch den 3D-Aufschlag an der Kinokasse nicht bereuen wird. Schon lange präsentierte sich kein dreidimensionales Filmprojekt von einer solchen Schönheit wie dieses.
Fazit: Bildgewaltiges Abenteuerkino par excellence: «Im Herzen der See» ist ein spannendes, nicht immer ganz feinfühliges Seefahrerdrama mit einem stark aufspielenden Cast und einem visuellen Bombast, der sich Chancen auf den Oscar machen kann. Dass Ron Howard zudem auch die Brutalität des Walfangs so unbequem wie möglich einfängt, versteht sich als absoluter Pluspunkt: Nach diesen Bildern kommt niemand mehr auf die Idee, die Jagd auf die friedlichen Meeressäuger in irgendeiner Form gutzuheißen.
«Im Herzen der See» ist ab dem 3. Dezember bundesweit in den Kinos zu sehen – auch in 3D!