21 Jahre nach der Premiere hat das Kultformat zur aktuellen Hitparade kaum mehr etwas mit seinen Glanzzeiten gemein. Statt auf Musik setzt man inzwischen auf Twitter, Instagram und Studiogäste. Trägt das neue Konzept den heutigen Sehgewohnheiten Rechnung oder ist es nur ein Beitrag zur aktiven Sterbehilfe?
«VIVA Top 100»-Moderatoren früher und heute
- Noch aktiv: Collien Ulmen-Fernandes (seit 2003), Jan Köppen (seit 2008), Palina Rojinski (seit 2011), Sami Slimani (seit 2014), Melissa Lee (seit 2015)
- Frühere: Mola Adebisi (1994–2004), Liza Li (2007–2008), Nadine Vasta (2010), Romina Becks (2011–2015), Jenny Posch (2014–2015)
Man muss mittlerweile schon zur richtigen Zeit vor dem Fernsehgerät sitzen, wenn man den einstigen Vorzeige-Musiksender VIVA noch ausfindig machen möchte - nur noch von zwei Uhr nachts bis 14 Uhr mittags sendet man inzwischen, die übrigen zwölf Stunden belegt Viacom mit Comedy Central. Überraschend kam diese offenkundige Degradierung im Oktober nicht: Das klassische Musikfernsehen verliert seit Jahren kontinuierlich an Relevanz und Zuschauerzuspruch, was in erster Linie den immer größeren Möglichkeiten des Internets geschuldet ist. Darüber hinaus hat der aus den Vereinigten Staaten stammende Medienkonzern mit einer knallhart auf wirtschaftliche Profitabilität ausgerichteten Sendepolitik aber auch dafür gesorgt, dass die Inhalte immer beliebiger wurden und VIVA zur Abspulstation anderweitig produzierter Inhalte verkam, anstatt eigene Akzente setzen zu können. Standhaft blieben im Zuge dieses Teufelskreises als einziges wöchentlich moderiertes Format nur die
«VIVA Top 100», bei denen sich mittlerweile fünf Moderatoren abwechseln (siehe Infobox).
Wer nun jedoch in Erinnerungen an Mola Adebisi schwelgt oder zumindest an die Chart-Sendung des Senders denkt, die noch vor einigen Monaten das Programm bestückte, dürfte überrascht werden, wenn er zufällig in eine der vier Ausstrahlungen am Morgen oder (Vor-)Mittag hineinschaut. Optisch insofern, dass der VJ an einem Schreibtisch vor einem Laptop hockt und im Hintergrund allerlei Krempel zu sehen ist. Und inhaltlich insofern, dass man mitunter schon reichlich Geduld aufbringen muss, wenn man zumindest ein paar wenige Impressionen aus den Single-Charts bekommen möchte. Zwischen Twitter, Instagram und Co., Skype-Liveschalten zu Zuschauern, Monologen zum "Thema der Woche", mehreren Gewinnspielen und diversen Video-Neuvorstellungen finden die 100 meistverkauften Songs der abgelaufenen Woche nämlich kaum noch Platz, überhaupt stattzufinden.
In der aktuellen Ausgabe sieht das beispielsweise so aus, dass Jan Köppen zunächst das gar nicht mal allzu sehr im Zusammenhang mit Musik stehende Thema "Schnee" einführt, um die Zuschauer des Livestreams - denn die Erstausstrahlung erfolgt ja nicht mehr im Fernsehen, sondern freitags gegen 17 Uhr auf der VIVA-Website - zu ermutigen, ihre Meinung zu dieser Thematik bei Twitter unter dem Hashtag der Sendung kundzutun. Er begrüßt den australischen YouTube-Star Troye Sivan als Studiogast der Woche, mit dem er nach wenigen Minuten ein Selfie macht und es auf Instagram teilt - der obligatorischen Bitte um Publikumsreaktionen fügt er das Leckerli hinzu, dass sogar ein paar Alben des 20-Jährigen unter den Usern verlost werden. Wer eher auf Placebo steht, bekommt wenige Minuten später die Möglichkeit, unter ähnlichen Bedingungen ein «MTV Unplugged» zu gewinnen. Eine Zuschauerin, die einem ähnlichen Interaktionsaufruf offenbar zu einem früheren Zeitpunkt bereits gefolgt war, kommt dann noch via Skype-Schalte zu Wort, um von ihrem Konzert in Atlanta mitsamt Meet & Greet mit der Teenie-Band 5 Seconds of Summer zu berichten. Kleiner Spoiler: Sie fand es voll supi.
Zu diesem Zeitpunkt haben die Zuschauer schon Videos von der neuesten Sivan-Single sowie der schon neun Jahre alten Placebo-Single "Meds" in der Unplugged-Version gesehen, obwohl diese in den Charts nicht einmal platziert sind - sodass es fast schon überrascht, dass nicht auch noch 5 Seconds of Summer weiteren Platz zur Promo spendiert bekommt. Was sonst noch so außerhalb des eigentlichen Chartgeschehens gezeigt wird: Ein recht langes Gespräch mit dem Studiogast, das bemerkenswerterweise vollständig auf Englisch und ohne deutsche Untertitel geführt wird und in dem der junge Musiker über sich und seine Business-Erfahrungen spricht, von Köppen aber auch meist wenig zielführend zu anderen Künstlern und Bands (natürlich dabei: Placebo) ausgefragt wird. Zwei weitere Neuvorstellungen von Elle King und Mo-Trip, die allerdings ohne weitere (Eigen-)Werbung auskommen. Und der Hinweis auf ein Online-Voting, durch das die inoffiziellen Jahrescharts der VIVA-Zuschauer erstellt werden sollen.
Wo denn bei all dem überhaupt noch die Charts zur Geltung kommen sollen, die doch eigentlich im Zentrum des Interesses stehen sollen? Eine berechtigte Frage. In der Tat gehen all die neuen Show-Elemente deutlich zu Lasten der Hitparade, die zeitweise komplett in den Hintergrund rückt, eher wie ein Fremdkörper wirkt und auf lausige zehn Musikvideos in zwei Stunden zusammengeschrumpft wird. Einige wenige Zahlen hierzu, um zu verdeutlichen, was das konkret bedeutet: Von den hinteren 72 Plätzen werden ganze drei(!) gezeigt, die Positionen fünf bis 20 werden nur durch einen Act repräsentiert und von den neun Neueinsteigern der Woche kommt überhaupt keiner zur Sprache. Der Fairness halber sei hier erwähnt, dass zu vielen Songs gar keine Musikvideos mehr produziert werden, da sich der Aufwand immer häufiger schlicht nicht mehr rechnet. Wenn man denn wollte, könnte man die Chart-Thematik aber sicher mehr in den Vordergrund rücken.
Doch dass eine umfängliche Repräsentation der Charts nicht Kernanliegen der Programmplaner ist, zeigt sich auch daran, dass man den zweigeteilten Schnelldurchlauf der Top 20 eingestampft hat. Eine Einordnung des Chartgeschehens fällt dadurch noch schwerer, zumal Köppen schon bei den wenigen gezeigten Videos kaum Anstalten macht, darauf einzugehen. Im Zuge der Hitsingle "Sorry" von Justin Bieber verweist er immerhin auf dessen (in den USA) aufgestellten Rekord, innerhalb einer Woche 17 Songs in den Billboard-Charts platziert und damit den Rekord der Beatles gebrochen zu haben. Ohnehin ist die geringe Einbeziehung des eigentlichen Herzstücks, der Top 100, nicht dem Moderator anzulasten.
Sie ist viel mehr ein Resultat der Ausrichtung, innerhalb von nur zwei Stunden (bzw. in der Internetvariante noch deutlich weniger) Sendezeit eine Art modernes «Interaktiv» zeigen zu wollen und in dieses Konzept jenes der «Top 100» zu pressen. Heraus kommt letztlich eine Mischung, die sympathischer ist als große Teile des restlichen VIVA/CC-Programms, da man sich zumindest noch an einer Einbindung des Publikums versucht, das ansonsten mit Dauerschleifen aller Art abgespeist wird. Aber sie ist auch eine reichlich überladen und oberflächlich wirkende, da man sich gerade als VIVA-Fan früherer Zeiten ein wenig so vorkommt, als versuche man all das, was den Privatsender einst zu dieser Instanz für junge, musikbegeisterte Zuschauer ausgemacht hat, in einer einzigen Sendung abzudecken: Musikvideos, Charts, aber auch Publikumsaktionen, Live-Gäste, Gewinnspiele, Call-In. Köppen verkörpert all das durchaus sympathisch, zumal er stets mit einem dezenten "ich nehme das hier alles auch nicht ernst"-Unterton agiert.
Wie gefällt Ihnen das neue Konzept der «VIVA Top 100»?
Doch «VIVA Top 100» ist letztlich in gewisser Hinsicht eine Mogelpackung - zum einen, weil schon der Titel auf eine Beschäftigung mit den Charts verweist, die letztlich kaum stattfindet, vor allem aber dann, wenn man weiß, wie das Format zuvor jahrelang ausgerichtet war. Wer sich mehr als nur einen ganz groben Überblick über das aktuelle Chartgeschehen erhofft, wird hiermit im Gegensatz zu früher kaum glücklich werden und beinahe schon gezwungen, ins Netz zu gehen. Eher erfüllt werden die Erwartungen eines nach TV-Anarchie gierenden Konsumenten, der sehr oberflächlich mitbekommen möchte, was "grad eigentlich so in ist" bei den jungen Leuten. Das zumindest gelingt dem Format ebenso wie eine ordentliche Einbindung von Social Media. Es ist also nicht unbedingt alles schlecht, was hier neu ist. In die Tiefe geht das letzte moderierte VIVA-Format allerdings zu keinem Zeitpunkt, sodass wirkliche Musikfans wohl endgültig ihren Bezug zu diesem Sender verlieren dürften - und stattdessen vielleicht vermehrt den Weg zu Deluxe Music finden, das dem Wort "Musiksender" längst deutlich eher gerecht wird als VIVA.