Wie gut war die rundum erneuerte ProSieben-Oscar-Berichterstattung? Und wie hat sich Chris Rock bei der Nacht der Nächte in Hollywood geschlagen?
Die 88. Academy Awards brachten ein Wechselbad der Gefühle mit sich – und für deutsche Fernsehzuschauer sogleich ein deutlich intensiveres als für das US-amerikanische Publikum. Denn ProSieben war dieses Jahr gezwungen, seine Oscar-Berichterstattung umzubauen: Steven Gätjen, jahrelang „unser Mann in Hollywood“, wechselte zum ZDF und wurde vom öffentlich-rechtlichen Sender auch für diese eine Nacht nicht an den Münchener Privatsender zurückgegeben. Dennoch ging es bei ProSieben am 28. Februar 2016 bereits um 23 Uhr mit der Oscar-Nacht los. Die dreieinhalbstündige Oscar-Countdown-Sendung war allerdings eine schizophrene, kuriose Show: Auf der einen Seite ambitionierter als die ProSieben-Berichterstattung der vergangenen Jahre. Auf der anderen Seite eine dreiste Beleidigung aller Zuschauer, die sich die Nacht um die Ohren geschlagen haben, weil sie Interesse an der Filmkunst mitbringen.
Zum ambitionierten Part der Sendung: Bislang war es für ProSieben Standard, erst einen aufgezeichneten Magazin-Part über den Äther zu schicken, dann live zu Steven Gätjen am roten Teppich zu schalten und sich dann, auf den letzten Metern, in die ABC-Pre-Show einzuklinken. Dieses Jahr wurde der Regie mehr abverlangt: Zwar eröffnete die Vorberichterstattung mit einem ausführlichen Einspielfilm, in dem diverse deutsche Prominente erklären, weshalb sie Leonardo DiCaprio achten und einen Oscar gönnen, doch bereits nach diesem Beitrag ging es live nach Los Angeles. Ab dann gab es einen munteren Wechsel zwischen Annemarie Carpendale, welche die Stimmung am roten Teppich einfing, und vorbereiteten Magazinbeiträgen, unter anderem über Steven Spielberg, die Oscar-Historie des Disney-Konzerns, Quentin Tarantino, Hollywood-Mode-Momente und Oscar-Geheimnisse. Im späteren Verlauf des Abends wurde es für den Regisseur der ProSieben-Übertragung noch komplexer: Es wurde zwischen Carpendale, einem Mode-Livekommentar, ausgewählten ABC-Pre-Show-Momenten und ProSieben-Beiträgen sowie der obligatorischen Werbung geswitcht.
Die Qualität der Einspielfilme fiel sehr unterschiedlich aus. Das Filmchen über „Secrets“ aus Hollywood glich einem schwachen «red!»-Beitrag und verkaufte solche Dinge wie „Kate Winslet zeigt in ihren Filmen oft nackte Haut“ oder „Mark Ruffalo und Leonardo DiCaprio, die sich gemeinsam für gute Zwecke engagieren, können sich gut leiden“ als Geheimnis. Und der Beitrag zum Thema der größten Disney-Filme mit Oscar-Hintergrund war zwar gut geschrieben, legte allerdings fragwürdige Schwerpunkte. So ignorierte er beispielsweise «Mary Poppins» (13 Nominierungen, 5 Siege), quetschte aber Deutschlands liebsten Disney-Film «Das Dschungelbuch» (eine Nominierung) in den Abend. Der Einspieler über Tarantino hingegen umfasste einige sehr originelle O-Töne und war ebenso kurzweilig wie informativ gestaltet.
Die akzeptablen Einspielfilme mutieren im direkten Vergleich mit Annemarie Carpendales neuen Arbeitskollegen zu Sternstunden der Fernsehgeschichte: ProSieben richtete einen „Fashion Spot“ in der Nähe des roten Teppichs ein, wo «taff»-Moderatorin Viviane Geppert und Modedesigner Michael Michalsky die Outfits des Abends kommentieren sollten. Auf solche Beiträge verzichtete ProSieben bislang löblicherweise, wohl wissend, dass erstens ABC bereits genug über Mode berichtet und sich zweitens mehr Film- als Mode-Fans in Deutschland durch die Nachtstunden kämpfen, um den Oscar zu sehen. Da Mode-Talk trotzdem irgendwie zum Oscar dazugehört, lässt sich diese Entscheidung ProSiebens durchaus erklären – sollte der Privatsender 2017 aber an seinem Fashion-Talk festhalten wollen, sollte er dringend über eine Personalumstellung nachdenken. Während Geppert blass blieb und nur selten die Initiative ergriff, stellte Michalsky eine atmende Anti-Werbung für die Mode-Branche dar. Selbst die ignoranten, selbstverliebten Karikaturen aus «Zoolander 2» wären kompetentere Oscar-Reporter als der «Germany’s Next Topmodel»-Juror!
Michalsky rotzte seinen Anteil an der Academy-Awards-Nacht durchweg mit einem abfälligen „Ich will gar nicht hier sein, das ist unter meinem Niveau!“-Tonfall herunter, inklusive genervtem Blick und angesäuert runtergezogenen Mundwinkeln. Seine Wortbeiträge waren so unqualifiziert und anstrengend, wie sein Auftreten hat mutmaßen lassen: Wenn Michalsky nicht ausgelutschte Fashion-Floskeln von sich gegeben hat („Also, so viel Busen zeigt man normalerweise nicht auf dem roten Teppich, aber wenn sie’s mag …“, „Wir müssen auch mal über die Männer-Mode sprechen, denn Mode für Männer wird immer wichtiger!“), dann verbrachte er seine Sendezeit damit, sich in Selbstdarstellung zu suhlen. Etwa, indem er einen ellenlangen Monolog darüber abhielt, dass er ja ganz, ganz eng mit Lady Gaga befreundet ist und er erst kürzlich richtig fett mit ihr Party gemacht habe. Klasse, Michalsky. Das ist super bescheiden und daher richtig, richtig sympathisch. Und total relevant für das nächtliche Oscar-Publikum!
Annemarie Carpendale derweil erwies sich am roten Teppich als überraschend solider Steven-Gätjen-Ersatz. Erwartungsgemäß brachte sie weniger Fachwissen mit als Filmjournalist Gätjen und es mangelte ihr auch an der kindlichen Freude, mit der Gätjen Jahr für Jahr auf seine Interviews wartete. Allerdings war Carpendale bei sämtlichen Interviewpartnern vorbereitet und überbrückte den unvermeidlichen Leerlauf zwischen zwei Interviews souverän. Gegen Ende ihrer Zeit am roten Teppich verfiel Carpendale leider in Floskel-Fragen („Do you like Germany?“) und mit Michael Fassbender unterhielt sie sich über den Fluch und Segen von Smartphones, obwohl dieses Thema in seinem «Steve Jobs»-Biopic bewusst ausgelassen wurde. Trotzdem hat sich Carpendale gut geschlagen und wäre 2017, im Gegensatz zu Michalsky, erneut gern gesehen. Vielleicht hat die Regie dann mehr Routine darin, zwischen Interviews, die während der Werbepause aufgezeichnet wurden, Live-Material von ProSieben und ABC-Schalten zu koordinieren, denn die Übergänge waren mitunter sehr holprig – bei so einer Übertragung schwer zu vermeiden, eine Verbesserung kann man dennoch anstreben.
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Das Motiv der überforderten Regie setzte sich auch bei der eigentlichen Oscar-Verleihung fort: Glenn Weiss hatte wiederholt Probleme bei Übergängen zwischen zwei Programmpunkten und der Einleitung der Werbeblöcke. Mehrmals gab es kurz Bilder aus einer Ecke des Dolby Theatres zu sehen, in der sich gerade nichts von Relevanz abspielte, und die Kameraeinstellung während der Laudationes fielen stellenweise unangenehm nah an den Präsentatoren aus. Diese kleineren technisch-handwerklichen Patzer werden jedoch kaum in Erinnerung bleiben, denn was Moderator Chris Rock und die Produzenten David Hill und Reginald Hudlin auf die Beine gestellt haben, war herausragend! Seit Hugh Jackmans Oscar-Nacht im Jahr 2009 gab es keine dermaßen knackig ablaufende und kurzweilige Academy-Award-Verleihung zu sehen wie diese!
Die tragende Säule der Preisverleihung war selbstredend der Moderator: Chris Rock nahm das im Raum schwebende Thema der mangelnden Vielfalt bei den Oscars und hatte enormen Spaß damit. Der Comedian lieferte zum Beginn des Abends ein Schnellfeuerwerk an frechen Seitenhieben ab, die selten zynisch waren, sondern zumeist mit spitzbübischem Charme auf die Probleme in Hollywood eingingen. Rocks Monolog beschönigte die Probleme nicht, rutschte aber nie in einen belehrenden, mahnenden Tonfall ab, der dem Abend den Entertainment-Faktor genommen hätte. Diese Attitüde haben auch mehrere Comedy-Einspieler beibehalten, in denen Rock das komödiantische Potential der #OscarsSoWhite-Debatte weiter ausgeschöpft hat.
Ein paar ernste Worte wurden in der Oscar-Nacht dennoch verloren. Sowohl von Rock, der Hollywood daran erinnerte, dass nicht-weiße Filmschaffende und Schauspieler einfach nur faire Möglichkeiten haben wollen, ihrem Werk nachzugehen, als auch von der Academy-Präsidentin: Cheryl Boone Isaacs erläuterte in einem einfühlsamen Monolog, dass alle Künstler in Hollywood in der Bringschuld sind, dafür zu sorgen, dass die Oscars und alle Branchen innerhalb des Filmgeschäfts so viel Vielfalt haben, wie das Publikum.
So unstet die Regie bei den Oscar auch gewesen sein mag, war die Gala sehr gut produziert: Das Bühnenbild änderte sich passend zur Kategorie und die Nominierungsclips waren so gut gemacht wie seit Jahren nicht mehr. Besonders stachen die beiden Tonkategorien vor, die durch die wuchtigen Filmausschnitte und die Erläuterungen der Laudatoren Chadwick Boseman und Chris Evans dem fachfremden Publikum sehr fähig nahegebracht wurden. Generell sorgte das On-Air-Design für sehr hübsche, übersichtliche und informative Clips, ebenso wie die obligatorische Montage zu Beginn der Show auf schöne Weise Werbung für die Power von Hollywood-Filmen machte. Kleine, humorvolle Einlagen wie die Laudatio für den besten Animationsfilm durch Woody und Buzz aus «Toy Story», die Präsentation des besten Kurz-Animationsfilms durch die Minions und ein Auftritt der «Star Wars»-Droiden sorgten derweil für Abwechslung und Kurzweil. Kritisch ist unterdessen die Entscheidung zu betrachten, nur drei der fünf nominierten Filmsongs live darzubieten – eine Zwei-Klassen-Gesellschaft bei den musikalischen Oscar-Anwärtern zu erschaffen, gehört sich nicht für diese Preisverleihung.
Ein wohl unmöglich zu bekämpfendes Problem gab es aber auch bei der 88. Oscar-Verleihung: Jahr für Jahr endet der lange Abend ganz abrupt, sobald der Gewinner für den besten Film feststeht. Es ist nachvollziehbar, dass die Verantwortlichen das Ende nicht hinauszögern wollen: Sobald alle Gewinner feststehen, dürfte die Aufmerksamkeitsspanne der Zuschauer rapide sinken. Dennoch ist es der Nacht der Nächte in Hollywood unwürdig, nach Vergabe der letzten Trophäe urplötzlich zu enden. Ein finaler Einspieler, der die Signifikanz des Gewinnerfilms unterstreicht, gefolgt von einem letzten, kurzen Monolog des Moderators wäre eine Idee, die es verdient hat, ausprobiert zu werden. Acht Filmchen sollte die Redaktion ja wohl vorbereiten können, um dann den richtigen auf Sendung zu schicken. «Spotlight» ist als Drama über den Wert journalistischer Arbeit, die nicht gehetzt wird, ein wichtiger Film im heutigen Medienklima – das dem Publikum zu erklären, welches am Ende der Oscar-Nacht wahrscheinlich denkt „Hey, wieso nicht «Mad Max: Fury Road», der hat doch so viel gewonnen?“ könnte nicht schaden.
Immerhin endete die Oscar-Nacht mit einem Abspann, der mit dem Song „Fight the Power“ von Public Enemy unterlegt wurde. Ein feines, letztes Statement an einem Abend, an dem wieder einmal nur weiße Personen prämiert wurden. 2017 kann man dann hoffentlich auf den Protestsong im Abspann verzichten.