Zehn der Top-Ten-Alben 2015 wurden in Deutschland produziert. Die heimische Künstlerszene ist so erfolgreich und vielseitig wie nie, ganz im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten. Wir betreiben Ursachenforschung und zeigen, wie die Medien zum Deutsch-Phänomen in der Musik beigetragen haben.
Sagt Ihnen das Stichwort „Deutschquote“ noch etwas? Man hat lange nichts mehr von ihr gehört, zuletzt groß im Jahr 2004. Die Deutschquote ist eine Idee, nach der Radiosender sich verpflichten müssen, einen bestimmten Anteil deutscher Musik in ihrem Programm zu spielen. Meist beläuft sich diese Quote auf 40 Prozent, so hoch ist sie in Frankreich. 2004 also kam die Debatte, die in den 90ern oft geführt wurde, zuletzt groß auf. Viele Künstler unterstützten die Forderung, darunter Peter Maffay, Yvonne Catterfeld, Xavier Naidoo, Udo Lindenberg. Sie alle erkannten nicht, dass die Branche in diesem Jahr bereits am Anfang eines Umbruchs war, der bis heute anhält. Deutsch produzierte Musik ist heute so populär wie nie. Das müsste auch Udo Lindenberg erkannt haben: 2008, nur vier Jahre nach der großen Deutschquote-Debatte, landete er mit seinem neuen Album einen Millionenseller. Es wurde das erste (!) Nr. 1-Album seiner langen Karriere.
Was hat zu dieser Entwicklung geführt? Es gibt nicht den
einen Faktor, auf den man die Erfolgsgeschichte zurückführen könnte. Selbstverständlich spielen künstlerische Milieus eine Rolle, darunter die Straßenrap-Entwicklung um das Label Aggro Berlin und die Hamburger Schule. Aus letzterer ging die Band „Wir sind Helden“ hervor, die 2003 eine Art Auslöser für die sogenannte „neue neue deutsche Welle“ war. Kurz danach folgten Silbermond und Juli. Es war frische, anders klingende Musik von jungen Bands, mit pointierten Texten. Plötzlich wurde auch im Mainstream wieder deutsch gehört, es gab ein neues Selbstwertgefühl für die Heimatsprache, die auch eine Generationenfrage ist (mehr dazu unten).
Sicherlich haben aber auch die Medien zu dieser Entwicklung beigetragen, sie sind es, die Millionen Zuschauer und Hörer erreichen. Sie üben eine große Macht über das aus, was wir konsumieren. Wir listen vier Dinge auf, die zum Phänomen beigetragen haben – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Stefan Raab
Er ist vielleicht der größte Förderer deutscher Musik in den letzten Jahrzehnten gewesen, und dieser Verdienst wird bei all den Lobesreden auf sein Schaffen gern vergessen. Schon in den 90ern war Raab als Produzent aktiv, 2000 trat er inmitten seines großen Erfolgs mit «TV Total» beim Grand Prix an. Es waren die Klamauk-Jahre, die die deutsche Musik nicht weitergebracht haben. Aber seinen zunehmenden Erfolg – und damit seine Macht im Sender – nutzte er später konsequent, um sich als Förderer ernsthafter deutscher Musik zu positionieren. Seine Castingshows («SSDSGPS» etc.) galten schnell als die besten in der Branche. Manche Künstler sind heute noch bekannte Namen im Geschäft, darunter Stefanie Heinzmann und Gregor Meyle. Damit haben Raabs Castingshows allen anderen in der Branche etwas voraus. Später wurde die Castingshow, in der die deutschen Teilnehmer für den «Eurovision Song Contest» gesucht wurden, in der Primetime des Ersten und von ProSieben gezeigt. Der größte Erfolg dann 2010, als Lena den Grand Prix gewann – eine beispiellose Erfolgsgeschichte.
Noch wichtiger für die Förderung deutscher Künstler war wohl der «Bundesvision Song Contest», der vielen jungen und unbekannten Bands die Chance auf der großen Bühne gab. Nicht nur in dem jährlichen Event selbst, sondern auch in den «TV Total»-Shows konnten sich die Musiker präsentieren. Die Teilnehmerliste liest sich heute wie ein Who’s Who der deutschen Musiklandschaft. Für viele war es damals aber der erste, manchmal der wichtige Schritt zum Erfolg.
Castingshows
Nicht nur Raabs Formate, auch Castingshows generell haben zum Deutsch-Musik-Phänomen beigetragen – wenn auch nur indirekt. All die Vorwürfe gegen das Genre stimmen: Natürlich haben die Künstler, die bei «DSDS» und Co. gewonnen haben, eine sehr geringe Halbwertszeit. Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, nicht authentisch zu sein und sich an Sender verkauft zu haben in dem Wissen, dass mit ihnen Quote gemacht wird. Aber dennoch hat die Flut der Castingshows im vergangenen TV-Jahrzehnt zu einem anderen Bewusstsein für Musik geführt. Die Formate vermittelten das Gefühl, dass man es schaffen kann in der Branche: die alte Tellerwäscher-Millionär-Geschichte, abgemildert natürlich. Vielleicht war der Ansporn durch die Castingshows noch größer, es auf anderen Wegen schaffen zu wollen. Generell vermittelten die Shows eine Art musikalischen Imperativ: Wer Musik machen will, soll dies auch tun. Die Hürde dazu schien plötzlich gesenkt – ganz anders als in den 90ern, wo Produzenten bestimmten und im Hintergrund casteten und der Rest der Musik aus den USA stammte. Die Idee, selbst Musik zu machen, wurde in diesen Zeiten von den Medien kaum gefördert.
Auf der nächsten Seite: 1Live, das Musikfernsehen und eine neue Haltung gegenüber der deutschen Sprache in der Musik
1Live und junge Radiowellen
Einige Jugendwellen sind Bausteine des Deutsch-Phänomens in der Branche. Beispielhaft dafür steht 1Live, das die Pionier-Band „Wir sind Helden“ sehr früh unterstützte und zum späteren Erfolg wesentlich beitrug. Ähnlich ging es später mit andere Künstlern wie Casper. Heimischen Newcomern widmet der Sender überdurchschnittlich viel Spielzeit, und den seit 2000 jährlich stattfindenden Musikpreis «1Live Krone». Als „Deutschlands größter Radio-Award“ beworben, widmet man den nominierten Künstlern schon viele Wochen zuvor viel Sendezeit. Der Sender tritt auch als Unterstützer zahlreicher Festivals auf. Vater des 1Live-Erfolgs – und auch der Entwicklung zum Förderer heimisch produzierter Musik -- ist Programmchef Jochen Rausch, seit 2000 im Amt.
Das Ende des klassischen Musikfernsehens
Im analogen Fernsehzeitalter bestimmten die Musiksender, was bei jungen Hörern angesagt ist. Vor allem MTV hatte internationalen Appeal, deutsche Musik wurde nicht gespielt – auch kaum, als man das englischsprachige MTV Europe gegen einen deutschen Ableger tauschte. Der Sender Viva positionierte sich in der Marktlücke und setzte von Anfang an auf deutsche Moderatoren und kündigte an, „40 Prozent und mehr“ deutsche Musik zu spielen. Die Quote wurde irgendwann später erfüllt, dennoch war der große Konkurrent MTV erfolgreicher. In jedem Fall scheiterten beide Sender am generellen Niedergang des Musikmarktes in den 2000ern und den digitalen Verbreitungsmöglichkeiten. Letzteres ist gut für die Entwicklung, denn sie fördert die Vielfalt. Heute kann das Publikum mehr und mehr bestimmen, was es hören will und was erfolgreich wird. Für neue Künstler ist es tendenziell einfacher geworden, gehört zu werden. Der Filter „Musikfernsehen“ existiert nicht mehr.
Das gleiche gilt auch hinter den Kulissen: In den 90ern waren die Musiklabels und Produzenten auf dem Zenit ihrer Macht, sie bestimmten, was gehört und gemacht wurde. Zwar befinden sich auch in diesem Jahrzehnt viele in Deutschland produzierte Songs, aber die Menschen dahinter kannte man kaum. Fast nichts von den Hits war deutschsprachig, sondern maximal angepasst an den amerikanisierten Massengeschmack und identitätslos. Letzteres zeigte sich insbesondere in der oft wechselnden Besetzung deutscher Eurodance-Bands, die Mitte der 90er so erfolgreich waren. In den Top25 gab es vergangenes Jahr zwölf in Deutschland produzierte Songs, vor zwanzig Jahren waren es die Hälfte. Mehr noch: Nur drei Songs waren damals deutschsprachig, im letzten Jahr mehr als doppelt so viele (sieben). Acht der Top-Ten-Alben waren 2015 deutsche Produktionen – damit stellte die heimische Musikbranche einen neuen Rekord auf.
In vielerlei Hinsicht ist der Markt also das Gegenteil der 90er. Auch dank des Internets und der digitalen Revolution ergeben sich neue Verbreitungswege und Produktionschancen, die populären deutschen Künstler sind heute zumeist die Baumeister ihres eigenen Erfolgs – siehe Cro, der seine Karriere bei YouTube startete, oder die DJs Robin Schulz, Felix Jaehn und Zedd, Singer-Songwriter wie Clueso, Hipster- und Gangster-Rapper wie Casper oder Sido. Der Künstler ist zur Marke geworden, authentisch ist
in. Und dass er deutsch singt, ist kein Hemmnis mehr, anders als in den 90ern. „Das Deutsche hat jetzt in der Musik eine eigene Identität, die aus sich heraus traditionsbildend ist,“ sagt Germanistik-Professor Moritz Baßler aus Münster. Es dauerte lange, bis neue Generationen ein unbekümmertes Verhältnis zu ihrer Heimatsprache bekommen haben, wie Sänger Max Raabe 2013 erklärte: „Das Dritte Reich hat nicht nur die jüdischen Künstler vertrieben, es hat auch den natürlichen Umgang mit unserer eigenen Sprache gestört.“
Jahrzehntelang hat dieser Grundsatz Bestand, mit der kurzen Ausnahme der „Neuen Deutschen Welle“, deren Hits sich allerdings ebenfalls durch kühle und melancholische Texte auszeichneten. Auch hier gilt: Genre-Vielfalt war nicht geboten. Erst rund 20 Jahre später begannen neue, junge Bands die deutsche Sprache in der Musik wiederzuentdecken und neu zu interpretieren. Erfolgreiche deutschsprachige Musik ist seit 2003 fester Bestandteil unserer (Pop-)Kultur und wird immer erfolgreicher. Damit ist diese seit 13 Jahren andauernde Entwicklung längst kein Trend mehr, keine Phase und auch keine „neue neue deutsche Welle“, wie das Phänomen gern bezeichnet wird. Sondern etwas Dauerhaftes, Selbstverständliches geworden.
„Wir haben noch nie gute deutsche Musik in einer solchen Kontinuität gehabt,“ sagte Musikproduzent Thomas M. Stein («DSDS») gegenüber der
ZEIT. Die Musik sei heute moderner und cooler als zu früheren Zeiten. „Man muss heute nicht auf US-Künstler zurückgreifen, um angesagte Arrangements und einen zeitgemäßen Mix zu kriegen.“ Ein Ende der Erfolgsgeschichte ist nicht abzusehen.