Die Amerikaner haben Alejandro González Iñárritu («21 Gramm», «Babel»), die Deutschen haben ab sofort…Lars Henning! Okay, vielleicht ist der Vergleich übertrieben und vielleicht hatte Henning die Filme des berühmten Kollegen auch gar nicht im Hinterkopf, aber ein bisschen erinnert sein Debüt «Kaltfront» schon an dessen Werk.
Cast &Crew
- Regie: Lars Henning
- Darsteller: Jenny Schily, Lana Cooper, Christoph Bach, Leonard Carow, Felix Knopp, Rainer Bock, Andreas Patton, Lili Zahavi, Adnan Maral, Daniela Ziegler
- Drehbuch: Lars Henning
- Kamera: Armin Alker
- Schnitt: Stefan Blau
- Szenenbild: . Károly Pákozdy
- Kostüm: Susa Sasserath
Knastinsassin Judith (Jenny Schily) erhält ab sofort tagsüber Freigang, Anna (Lana Cooper) landet dank übermäßigen Drogenkonsum im Krankenhaus, der stotternde Jan (Leonard Carow) stellt sich seinen neuen, erwartungsgemäß feixenden Mitschülern vor, David (Christoph Bach) kehrt von einer Geschäftsreise aus Dubai zurück.
Vier Menschen, vier Schicksale und alle sind sie miteinander verbunden, wie im Folgenden mehr und mehr klar wird. Das verbindende Element ist ein lang zurückliegender Überfall auf eine Privatbank, an dem Judith beteiligt war. Zwei Menschen verloren damals ihr Leben: Jans Vater, ein Wachmann und Davids Vater, ein Banker. Anna wiederum ist Judiths Tochter, die ohne Mutter bei Erik, einem weiteren, der einstigen Täter, aufwachsen musste und mittlerweile in einer lieblosen Beziehung mit einem reichen Mann lebt.
Die Vergangenheit hält alle vier Charaktere fest in ihrem eisigen Griff: Als Jan zufälligerweise Judith in einer S-Bahn sieht, lässt ihn das keine Ruhe - fatalerweise ist der neue Freund der Mama ebenfalls ein Polizist mit einem etwas laxen Verhältnis zur Dienstwaffe. David wird von seiner Mutter dazu angehalten, gegen die Hafterleichterung Judiths vorzugehen, zweifelt aber an deren Schuld und auf Anna wartet eine böse Überraschung…
Was damals galt, gilt heute noch viel eher: Kulturpessimismus hin- oder her, aber im Medienoverkillzeitalter verkommen Verbrechen mehr denn je zum reinen Spektakel. Hier eine knallige Headline, dort ein krasses Foto, umso geschmackloser der Aufmacher, umso garantierter der Erfolg. Deutschlands Kulturgut Nummer eins, die
Bild-Zeitung, dürfte in dieser Disziplin mit dem magenumdrehenden Foto aus dem Inneren des Bataclan-Clubs nach dem traurigen Attentat im November 2016 mal wieder für lange Zeit das Rennen gemacht haben.
Mit den Opfern beschäftigt man sich dann - wenn überhaupt - einige Zeit später, allerdings darf mit Recht angezweifelt werden, ob die Durchschlagskraft nach dem Abflauen des ersten multimedialen Nervenkitzels dann noch so groß ist.
Auch wenn es in «Kaltfront» zwar nicht um religiös verblendete Selbstmordattentäter geht, sondern nur um einen schlichten Banküberfall, wählt Henning einen Ansatz, der zwar vielleicht nicht übermäßig originell, aber dennoch nicht genug zu preisen ist. Es wird nämlich ganz profan der Frage nachgegangen, was hinter der Schlagzeile tatsächlich steckt. Welche Auswirkungen hat so ein Verbrechen eigentlich tatsächlich? Mit
crime and punishment ist es nämlich, auch wenn die mediale Verknappung das meist vermuten lässt, noch lange nicht getan, denn eine solch schwerwiegende Tat verändert nicht nur das Leben von Tätern und Opfern maßgeblich.
Und genau darum geht es «Kaltfront»: In großartig gestalteten, dem Titel gemäß wunderbar kühlen Bildern wird mit einer sorgfältig zusammengesetzten, durch die Bank weg absolut überzeugenden Besetzung sozusagen das Verbrechen hinter dem Verbrechen erforscht, wobei sich der Film eine Brüchigkeit gestattet, die so nicht nur für eine Produktion des hessischen Rundfunks ungewöhnlich ist. Auf eine zentrale Frage des Films („Was geschah damals im Fluchtauto?“) wird keine Antwort gegeben und die Figuren verhalten sich auch nicht immer zwingend rational, was Logikfanatiker wahrscheinlich die Nase rümpfen lassen wird, allerdings nur unterstreicht, was für ein smarter Drehbuchautor Henning doch ist, denn Menschen sind bekanntlich alles andere als rationale Wesen, nur von fiktionalen Figuren wird das komischerweise immer verlangt.
Natürlich, nach einer Weile ahnt selbst der ahnungsloseste Zuschauer, worauf das alles hinauslaufen wird und ja, man könnte böswillig unterstellen, dass der Kollege Zufall in «Kaltfront» ein bisschen (zu) oft die Finger im Spiel hat, aber Henning schafft das Kunststück - auch weil er im Gegensatz zu Iñárritu auf Manieriertheiten jegliche Art verzichtet und sich ganz in den Dienst seiner Geschichte stellt - hier einen Fatalismus aufzubauen, der sich natürlich anfühlt, es kommt so, wie es kommt, weil es einfach so kommen
muss. Aber selbst dieser dunklen Zwangsläufigkeit gewinnt der Regisseur noch etwas ganz Besonderes ab und entlässt den Zuschauer mit der wohl schönsten Koda der jüngeren TV-Geschichte.
Ein von A bis Z wunderbarer Film, der einen nicht nur von der ersten bis zur letzten Minute in seinen Bann zieht, sondern vielleicht auch ein kleines bisschen zum sensibleren Medienkonsum anregt. Vielleicht arg naiv gedacht, aber es geschehen auch heute noch Zeichen und Wunder.
«Kaltfront» ist am Mittwoch, den 04. Mai 2016, ab 20.15 Uhr im Ersten zu sehen.