Tim Burtons erfolgreiches sowie harsch kritisiertes Fantasyabenteuer «Alice im Wunderland» erhält eine Fortsetzung. Doch auch unter neuer Regie bleibt die Disney-Realfilmversion von Lewis Carrolls kuriosem Reich ein ernüchternder, teils gar nervtötender Ort.
Filmfacts «Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln»
- Regie: James Bobin
- Produktion: Tim Burton, Joe Roth, Suzanne Todd, Jennifer Todd
- Drehbuch: Linda Woolverton
- Darsteller: Johnny Depp, Anne Hathaway, Mia Wasikowska, Rhys Ifans, Helena Bonham Carter, Sacha Baron Cohen
- Musik: Danny Elfman
- Kamera: Stuart Dryburgh
- Schnitt: Andrew Weisblum
- Laufzeit: 113 Minuten
- FSK: ab 6 Jahren
Wenige Monate, nachdem James Cameron mit «Avatar – Aufbruch nach Pandora» in ein völlig neues 3D-Wunderreich entführte, lockte «Big Fish»-Träumer Tim Burton in seine von herben Kontrasten und scheußlich-grellen Digitaltricks bevölkerte Interpretation einer überaus bekannten Fantasiewelt: Lewis Carrolls berühmtestes Werk erhielt in Form des Disney-Blockbusters «Alice im Wunderland» ein Kuddelmuddel aus Weiter- und Neuerzählung. Trotz unterwältigender Kritikerresonanz spülte das Fantasyspektakel mit Mia Wasikowska und Johnny Depp über eine Milliarde Dollar in die Kinokassen.
An dieser Stelle ließe es sich unken, dass Burtons «Alice im Wunderland» 2010 allein vom kurzfristigen 3D-Wahn profitierte. Jedoch hat der Big-Budget-Film unter anderem mit Depps manischer Hutmacher-Performance, die stellenweise aber auch ruhige, nachdenkliche Momente aufweist, sowie der zwar sehr lauten, zudem aber pointierten Herzkönigin durchaus seine Pluspunkte. Darüber, ob dies ausreichende Argumente für einen zweiten Teil sind, lässt sich fürstlich streiten. Aber der Ruf des Dollars war zu laut, als dass Disney diesen Debatten Beachtung geschenkt hätte. Tim Burton fungiert beim Sequel jedoch nur als Produzent, den vakanten Regieposten übernahm dafür «Die Muppets»-Regisseur James Bobin. Dieser bringt etwas Abwechslung in Burtons-Wunderland, aber nicht genug, um davon abzulenken, dass die schon für den inhaltlich mageren ersten Teil zuständige Linda Woolverton ein schwachsinniges Drehbuch verfasst hat. Und damit ist nicht die Art Schwachsinn gemeint, die vielleicht ins Wunderland gehören würde …
Die vergangenen drei Jahre hat Alice Kingsleigh (Mia Wasikowska) auf den sieben Weltmeeren als Kapitän ihres eigenen Schiffs verbracht. Bei ihrer Rückkehr nach London muss die junge, nach Abenteuern strebende Frau aber erkennen, dass sich die englische Gesellschaft nicht geändert hat: Noch immer wird Alice aufgrund ihres starken Rückgrats wie eine Wahnsinnige betrachtet. Als sie bei einem feierlichen Bankett bedrängt wird, ihr geliebtes Schiff zu veräußern, um das Heim ihrer Mutter zu retten, entdeckt Alice den Wunderland-Schmetterling Absolem (Alan Rickman). Dieser führt Alice durch einen magischen Spiegel und somit zurück ins Wunderland, wo sie erfährt, dass der Verrückte Hutmacher (Johnny Depp) an Traurigkeit erkrankt ist: Der Gedanke an seine totgeglaubte Familie ringt ihn nieder, und als selbst Alice ihm nicht Gehör schenkt, als er behauptet, sie sei vielleicht noch am Leben, verschlimmert sich sein Zustand noch weiter.
Zur Wiedergutmachung beschließt Alice, der Zeit höchstpersönlich (Sacha Baron Cohen) entgegen zu treten und zu verlangen, das Schicksal der Hutmacher-Familie und so das Befinden ihres geschätzten Freundes ins Lot zu bringen. Doch die eigenartige Kreatur weigert sich, so dass Alice mittels der Zeitreisen erlaubenden Chronosphäre selbst zur Tat schreitet ….
Während Woolverton im ersten Teil den bunten, fantasievollen Irrsinn Lewis Carrolls in eine ausgelutschte „Der Auserwählte und die Prophezeiung“-Narrative zwängte, verpasst die «Die Schöne & das Biest»-Autorin dem zweiten Teil einen weniger dominanten roten Faden. Zwar dient Alices Urteil, Zeit sei ein Schurke, als Plotmotor. Jedoch schreitet der Fantasyfilm vornehmlich in Vignetten voran. So eröffnet «Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln» mit einer ansehnlichen Actionsequenz auf hoher See, die fast so wirkt, als wolle sich James Bobin für den Regieposten bei einem etwaigen sechsten Teil der «Pirates of the Caribbean»-Saga empfehlen. Daraufhin entwickelt sich die im realen London spielende Rahmengeschichte zu einer dramatischen Erzählung über die Rolle der Frau im 19. Jahrhundert. Durch Dialogwechsel mit überdeutlichen Schlüsselworten sind diese Szenen zwar nicht all zu clever, dank der liebevoll-detailreichen Ausstattung und Wasikowskas ebenso scheuem wie forschem Spiel aber immerhin charmant. Kaum stolpert Alice zurück ins Wunderland, ist dieses Thema allerdings vorerst vergessen.
Klarer Höhepunkt der Wunderland-Sequenzen sind jene Momente, die im Palast der Zeit spielen: Der im Gegensatz zum Großteil des Casts engagiert wirkende Sacha Baron Cohen legt die halb-menschliche, halb-mechanische Figur als kühl auftretende, exzentrische und bei aller Selbstverliebtheit dennoch einfühlsame Type an. Das originelle Design dieser Figur, das zudem mit überdurchschnittlichen Computeranimationen einhergeht, sowie der coole, gotisch-träumerische Look seines Wohnsitzes machen den Trubel rund um die Zeit zu angenehmen Filmminuten, die leider von nervigen, dümmlichen Szenen umringt werden. Während Cohen mit raffinierten und schrägen Dialogen versorgt wird und seine knuffig gestalteten Sekundanten eine leichte Prise Slapstick vollführen, besteht der Rest der Wunderland-Sequenzen aus haarsträubenden Ursprungsgeschichten diverser Alice-Weggefährten und dutzendfacher Vorbereitungen sowie Zusammenfassungen der großen Moral dieses Films.
Egal, ob Alice in die Vergangenheit reist, um vergeblich den Hutmacher zu warnen, stillschweigend zuschaut, wie die Herzkönigin böse wird oder zu verhindern versucht, dass sie ihren berühmten, großen Kopf bekommt: Die Geschichte tritt nicht nur auf der Stelle, sondern unterstreicht alles doppelt und dreifach – was angesichts der ultraflachen, überdeutlichen Dialoge und der zumeist desinteressierten Darsteller zur Geduldsprobe wird: Anne Hathaway etwa grinst sich als weiße Königin lasch durch ihre Szenen, Helena Bonham Carter dagegen ringt ihrer Herzkönigin nur noch ein galliges Herumkeifen ab. Johnny Depp wiederum überlässt die Aufgabe, dem Hutmacher verschiedene Emotionslagen zu verleihen, dieses Mal seiner Schminke und seiner Perücke.
Optisch ist der erneut auf solide, aber wenige Akzente setzende Danny-Elfman-Musik zurückgreifende Wunderland-Ausflug außerhalb des Zeitpalasts eine zweischneidige Sache: Wahlweise gibt es imposante, aber überdeutlich als kalte Digitaltricks zu erkennende Effektschlachten, oder liebevolle Setbauten, deren Ausleuchtung sie aber klar als Studiokulissen dastehen lässt. Wenn Alice dann nach zig inhaltlichen Wiederholungen, schalen Gags und unnötigen Erklärungen (wichtig: Alice kommentiert ihre Fähigkeit, Knoten zu machen, damit, dass sie das auf See gelernt hat) irgendwann verstanden hat, dass wir alle unsere Zeit genießen sollen, stellt sich nur eine Frage: Weshalb haben James Bobin, das Produzententeam und der kein zünftiges Tempo schaffende Cutter Andrew Weisblum diese Moral nicht für sich selbst vereinnahmt? Irgendwo in diesem Unsinn steckt ein solider, knackiger 70-Minüter, in dem Alice einen Abstecher ins Reich der Zeit macht. Doch leider hat niemand daran gedacht, diesen Film aus dem rund zweistündigen, zähen und anstrengenden Fantasykuddelmuddel zu befreien.
Fazit: Ein guter Kern, umgeben von ziellosem, lustlos dargebotenem, dennoch lärmenden Unsinn: «Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln» zeigt, dass Mehr manchmal eben doch Zuviel ist.
«Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln» ist ab dem 26. Mai 2016 in vielen deutschen Kinos zu sehen.