Hass 2.0 - wie Deutschland im Internet die Moral abschafft

Netzwerke wie Facebook und Twitter: Für die einen ist es purer Freizeitspaß, für die anderen Schrottplatz für den eigenen Frust. Denn bei einem kann man sich sicher sein: Irgendwo auf Facebook findet sich immer einer, der gegen eine bestimmte Sache ist.

Steckbrief

Manuel Weis ist seit 2006 bei Quotenmeter und seit 2007 verantwortlicher Chefredakteur. Er ist somit in allen Bereichen der Seite im Einsatz. Nebenberuflich arbeitet er als freier Sportreporter mit Schwerpunkt auf Fußball, Eishockey und Boxen.
Dagegen. Oder dagegen dagegen zu sein. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, scheint heute manchmal die Nation derer zu sein, die laut krakeelen, in erster Linie des Schimpfens wegen. Auf den ersten Blick erscheint das Unwohlsein im Wohlstandsland Deutschland groß, doch wohl nur auf den ersten Blick. Nährboden für die Wut gegen alles und jeden ist in den vergangenen Monaten und Jahren das Internet geworden – inzwischen wird nicht mehr nur in anonymen Foren gepestet und gehetzt, sondern mitunter ganz öffentlich mit Klarnamen - vor allem bei Facebook. Die Debatte darüber, was in sozialen Netzwerken alles von sich gegeben werden darf und was dann doch eher strafbar ist, wird hierzulande schon länger geführt. Besonders schlimme Hetzer sind inzwischen gar verurteilt worden: zu Geld-, Bewährungs- oder Freiheitsstrafen (so sie denn schon eine Bewährung laufen hatten).

Geändert hat sich relativ wenig. Kürzlich sorgte einer der Jäger aus der ARD-Sendung «Gefragt – gejagt» mit seinem Facebook-Profil für Aufsehen, weil der die Bundesregierung „schwer geisteskrank“ nannte oder dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine „manipulative“ Berichterstattung vorwarf. Die „Lügenpresse“-Debatte lässt grüßen. Der ARD sind die Äußerungen ihres Jägers bekannt – Konsequenzen sollen sie aber wohl nicht haben, da sie nach Ansicht des Senders unter das Recht der freien Meinungsäußerung fallen und besagter Akteur des Vorabendformats als Quiz-Experte und nicht als politischer Journalist des Ersten tätig sei. Eine (angenehme?) Form der Deeskalation also.

Dafür wird anderswo umso lauter geschrien: Fast 8000 Mitglieder umfasst eine geschlossene Facebook-Gruppe mit dem martialisch anmutenden Namen „Interventionskommando gegen die Lügenpresse“. Wenn’s um das Abschaffen von etwas geht, dann ist Facebook zudem richtig stark: Die GEZ sowieso, aber auch die Winterzeit, die Sperrstunde oder gar die Schulpflicht würden sich eignen, das Zeitliche zu segnen. Nun kann man sich als Nicht-Wut-Bürger solchen Gruppen noch entziehen, nicht aber den vielen Kommentaren unter manch spannendem Thema. Erst kürzlich musste eine ZDF-Kommentatorin eine fassungslos machende Hass-Welle über sich ergehen lassen, weil sie für den Kommentar eines EM-Spiels eingeteilt war und somit eine Männer-Domäne ins Wackeln brachte. Das tolerante Deutschland hat sich hier von besonders guter Seite gezeigt... Geschimpft und geflucht wird aber gerne auch auf Seiten großer Firmen: Telekom, Vodafone, Sky Deutschland. So oft wie dort mit Kündigung gedroht wird, müssten die Kundenzahlen besagter Firmen eigentlich längst in den Minusbereich gefallen sein.

Das öffentliche Outing als Gegen-Alles-Stänkerer scheint kaum Konsequenzen zu haben. Frustabbau via Tastendruck ist in, mehr noch als im Fitness-Studio oder auf dem Bolzplatz. Wer heutzutage nicht mindestens einen Shitstorm pro Jahr auslöst, macht fast schon etwas falsch. Jogis Taschenbillard im ersten EM-Spiel hat in den sozialen Netzwerken fast mehr Aufmerksamkeit erhalten als in der Tat wichtige taktische Fragen rund um die Nationalmannschaft. Der Bundestrainer hat sich dafür ebenso entschuldigt wie Mats Hummels in der vergangenen Woche, weil er voreilig via Twitter mitteilte, dass er beim Spiel gegen Polen dabei sei. Stichwort „Missverständnis-Alarm“.

Die sozialen Netzwerke, die große Erfindung des zurückliegenden Jahrzehnts, sie haben das Leben fraglos spannender, aber nicht wirklich besser gemacht. Das wäre ja fast auch ein Ding der Unmöglichkeit. Was aber passiert ist: Vieles ist dadurch transparenter und öffentlicher geworden. Die Wut der Frustrierten ist letztlich kein neues Phänomen – früher waberte sie durch verrauchte Kneipen und wurde runtergespült mit dem x-ten Pils. Dort war sie vielleicht auch ganz gut aufgehoben – im Internet aber bleibt sie stehen. Bis zum nächsten Rausch. Oder dem übernächsten. Vielleicht hat Blogger Sascha Lobo Recht mit seiner Kolumne, in der er schrieb, dass sich die Elite quasi aus den sozialen Medien heraushält und dort vor allem die aktiv sind, die eben nicht dazu gehören. Vielleicht aber auch nicht. Für gewöhnlich ist die Welt nicht so einfach und der Fall rund um den ARD-"Jäger" unterstreicht, dass Empathie und Intelligenz nicht gleichzusetzen sind.

Mindestens so ärgerlich und geschmacklos sind die jüngst boomenden Fake-Todesmeldungen, mit denen Abzocker auf Facebook das Interesse auf sich ziehen und so an wichtige persönliche Daten der Nutzer kommen. Derzeit beliebte Opfer: Die Spieler der deutschen Nationalmannschaften, die den Betrügern zufolge bei Autounfällen oder Messerstechereien um's Leben kamen. Zwei Klicks weiter und schon lauert die Abo-Falle von Unternehmen, die hier zwar abkassieren, ihren eigentlichen Sitz aber tausende Kilometer entfernt haben und so hoffen, der Strafverfolgung zu entkommen.

Da wünscht man sich doch fast schon ein Vertwittern in Sachen Nationalmannschafts-Aufstellung. Denn hin und wieder haben soziale Netzwerke ja durchaus auch ihr Gutes: Etwa dann, wenn es um ungefilterte Eindrücke aus wirklichen Krisenregionen geht. Denn unter dem Strich bleibt eins: Auch wenn Deutschland sich dem Vernehmen bei Facebook nach am besten komplett, vollständig und sofort abschafft, also schlafen geht und so schnell nicht mehr aufsteht, leben die rund 80 Millionen Menschen hier doch vergleichsweise wohlständig.
21.06.2016 11:31 Uhr  •  Manuel Weis Kurz-URL: qmde.de/86278