Facebook, Zombies, Poltergeister - Der Horrorfilm im Jahr 2016 zwischen Kunst und Kommerz

Jede Dekade formt das Horrorgenre auf ihre eigene Art und Weise. Doch seit sich die Nuller-Jahre auf ihrer Torture-Porn-Welle verabschiedeten, herrschte lange Zeit Stagnation. Bis jetzt!

Die in Deutschland erfolgreichsten Genrefilme der vergangenen Jahrzehnte

  • Siebzigerjahre: Der weiße Hai (geschätzt 7.000.000 Besucher)
  • Achtzigerjahre: The Shining (2.022.832 Besucher)
  • Neunzigerjahre: The Sixth Sense (4.091.321 Besucher)
  • Zweitausenderjahre: Scary Movie (3.428.164 Besucher)
  • Zehnerjahre: Black Swan (2.197.959 Besucher)
In den frühen Sechzigerjahren machte Alfred Hitchcock die Freude am Leiden anderer Menschen salonfähig, indem seine Romanverfilmung «Psycho» das moderne Slashergenre auf den Weg führte. Die Lust am Makaberen erreichte den Mainstream, Filme wie «Rosemaries Baby», «Die Nacht der lebenden Toten» oder auch der Vampirklassiker «Tanz der Vampire» ließen sich bei den geldgebenden Studios fortan besser durchsetzen, als noch zu der Zeit, in welcher Produktionen wie «Peeping Tom» ausschließlich einer kleinen Nische zuträglich gemacht wurden. Die Siebzigerjahre teilten sich die Terror-Welle, angeführt von Tobe Hoopers «Texas Chainsaw Massacre», sowie der 1978 mit Michael Meyers neu begründete Trend hin zum Schlitzerfilm mit Kultkiller, aus dem nicht nur «Halloween», sondern später auch «Nightmare on Elm Street» und «Freitag, der 13.» hervorgingen. Dieser Hype – und der Begriff „Hype“ ist angesichts der unendlich vielen Fortsetzungen, die sämtliche dieser Franchises nach sich zogen, auch so zu verstehen – reichte bis in die späten Achtzigerjahre, in denen sich schließlich auch noch der kultige Pinhead aus den «Hellraiser»-Filmen hinzugesellte, während auf dem Heimkinomarkt immer blutigere Genreproduktionen den Tonfall angaben und nebenher Meilensteine wie «Poltergeist» oder «Tanz der Teufel» das Licht des Kinosaals erblickten.

Bis in die Mitte der Neunziger ließ sich das reine Horrorgenre (von Variationen wie etwa in den gefeierten Thrillern «Das Schweigen der Lämmer» oder «Sieben» einmal abgesehen) guten Gewissens für „tot“ erklären; Besucherzahlen sanken, ideenlose Sequels um Freddy, Jason und Co. floppten, sodass es nach «Nightmare» erneut Wes Craven richten musste; sein «Scream» etablierte einen neuen Kult um Teenieslasher, der Franchises wie «Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast» und «Düstere Legenden» nach sich zog. Abgelöst wurde dieser Trend in den frühen Zweitausendern, als europäische Regisseure wie der Franzose Alexandre Aja Terrorklassiker von früher für sich entdeckten, um sie neu aufzulegen. Gleichzeitig entwickelte sich mit «Saw» und «Hostel» eine Tendenz zum immer blutigeren, hierzulande später nicht selten auf dem Index landenden Horrorentertainment, auch Torture-Porn genannt, für das der von «Paranormal Activitity» auf den Weg gebrachte Found-Footage-Hype eine fast schon minimalistische Gegenbewegung darstellte, die sich obendrein auch als äußerst profitabel für die Studios erweisen sollte.

Doch mit dem Ende der «Paranormal»-Reihe im vergangenen Jahr durfte man sich auch fragen: Wo genau soll die Reise des Horrorgenres jetzt hingehen? Ist nicht mittlerweile schon alles einmal dagewesen? Wo genau steht der Horrorfilm im Jahr 2016?

Dem Genre geht es gut


Die gute Nachricht zuerst: Auch wenn wir das Kinojahr 2016 gerade erst zur Hälfte hinter uns gebracht haben, so lässt sich doch schon jetzt guten Gewissens sagen, dass sich der Genrefan angesichts des satten Angebots nicht beschweren kann. Sowohl in Übersee, als auch hierzulande nutzt man die Tatsache, dass sich der Horrorfilm derzeit nicht erkennbar an einem Trend orientieren muss, aus, um „frei nach Schnauze“ zu inszenieren. Das Ergebnis sind Produktionen wie «Der Nachtmahr», «The Neon Demon» oder «The Witch», die sich sowohl inszenatorisch, als auch inhaltlich nur schwer einordnen lassen. Dem Zuschauer, vor allem aber auch den Kritikern gefällt‘s: Das Genre kam dank derartig unkonventioneller Produktionen schon lange nicht mehr so gut weg, wie in diesem Jahr. Die Leidtragenden dieses Trends sind auf den Massengeschmack abgestimmte Produktionsfirmen wie die weltberühmte Blumhouse-Schmiede; der zwar nicht innovative, wohl aber solide und aufgrund seines Starcasts um Isla Fisher, Jim Parsons und Gillian Jacobs definitiv zuschaueraffine Gruselhorrorfilm «Visions» (kleines Foto links) ging in den USA direkt zu Netflix und auch in Deutschland wollten gerade einmal 10.000 Besucher den Film am Startwochenende sehen. Dasselbe galt wenig später auch für die Produktion «The Other Side of the Door», «The Walking Dead»-Starpower zum Trotz. Auch an einer Neuinterpretation des «Frankenstein»-Stoffes zeigte man sich wenig interessiert; und wieder einmal spielt es keine Rolle, dass hier mit Daniel Radcliffe und James McAvoy echte Großkaliber des internationalen Kinos verpflichtet werden konnten. Das lässt nur einen Schluss zu: Man ist des Bekannten überdrüssig.

James Wan – Alles hört auf sein Kommando!


Müsste sich diese Aussage nicht eigentlich mit einem Blick auf den aktuell erfolgreichsten Horrorfilm des Jahres 2016 beißen? Immerhin führt ausgerechnet eine Fortsetzung die Liste erfolgreicher Genrefilme hierzulande an; «Conjuring 2» entpuppte sich in den USA als einer der meistgesehenen Horrorfilme aller Zeiten (derzeit kämpft er mit «Der Exorzist» um die absolute Spitzenposition), in Deutschland wurde der Film bislang über eine halbe Million mal gesehen – und das, wo die Produktion doch parallel zu Fußball-EM und dem späteren Sleeperhit «Ein ganzes halbes Jahr» gestartet wurde. Das Geheimnis hinter diesem Erfolg ist ein Name: James Wan. Das Mastermind hinter bereits erwähnten Trendbewegungen wie «Saw», aber auch modernen Klassikern wie «Insidious» oder eben «Conjuring» spielt in einer ganz eigenen Liga der Horrorunterhaltung und holt das Beste aus dem heraus, was wir eigentlich schon zu kennen glauben. Sein Name reiht sich in eine kleine Riege von Regisseuren ein, die es fertig gebracht haben, Genrefilme zu Blockbustern zu machen. «Der weiße Hai», «Halloween», «Scream», «Saw», «Conjuring» – für die letzten beiden großen Hits zeichnete ein und derselbe kreative Kopf verantwortlich. Und wenn in wenigen Wochen der bitterböse Gruselschocker «Lights Out» in die Kinos kommt, hat als ausführender Produzent erneut Wan seine Finger im Spiel. Ein Erfolg würde uns deshalb nicht im Geringsten wundern, weil Wan – so schrieben wir erst kürzlich in unserer Review zu «Conjuring 2» – einer der wenigen Filmemacher ist, die wissen, wie ihr Publikum tickt. Mit dem Wissen um Erwartung, Herzschlag, Puls und nicht zuletzt die Ängste seiner Zuschauer, kann Wan vielleicht nicht die Welt, derzeit wohl aber das Horrorgenre beherrschen. So effektiv wie er schockiert im Jahre 2016 keiner sein Publikum. Da nimmt man es auch gern in Kauf, dass die Ausgangslage um ein Spukhaus eigentlich bekannt ist, wenn es einem fähigen Regisseur mit den richtigen Mitteln dann doch gelingt, nicht nur zu schocken, sondern obendrein auch noch eine emotionale Geschichte zu erzählen.

Neben «Conjuring 2» gelang es in Deutschland nebenher drei weiteren Horrorfilmen, die magische Zuschauermarke von 100.000 Besuchern zu knacken. Da wäre zum einen das Regiedebüt von Werbeclipregisseur Jason Zada: Sein Mysterygrusler «The Forest» besinnt sich nicht nur auf einen längst vorübergezogenen Trend, indem er die Handlung J-Horror-typisch nach Japan verlegt, er greift in seiner Geschichte über eine junge Frau (gespielt von «Tribute von Panem»-Shootingstar Natalie Dormer), die in einem berüchtigten Selbstmordwald nach ihrer verlorenen Schwester sucht, obendrein auch eine in Wirklichkeit existierende, urbane Legende auf. Diese nostalgische Kombination animierte hierzulande über 180.000 Besucher zum Kauf einer Kinokarte.

Um knapp 100.000 Besucher mehr konnte sich indes die deutsche Filmlandschaft freuen. 263.524 Horrorfans lösten im Januar 2016 ein Ticket für einen zwar englischsprachigen, aber vollständig mit deutschen Mitteln finanzierten Film und machten Simon Verhoevens Facebook-Schocker «Unfriend» damit zum erfolgreichsten nationalen Genrefilm seit «Anatomie» im Jahre 2000. Schon ein Jahr zuvor schlug sich der Skype-Grusler «Unknown User» mit 696.106 Besuchern überraschend gut an den hiesigen Kinokassen; ist damit bereits ein neuer Trend in Richtung Social-Media-Horror eingeläutet? Immerhin wird Ende dieses Jahres auch noch die lang ersehnte Fortsetzung des «Ring»-Franchises namens «Rings» erscheinen, in dem sich das gruselige Brunnenmädchen Samara wohl auch über das Internet einen Zugang zu ihren Opfern bahnen soll. Darüber hinaus punktet auch der im September startende Online-Thriller «Nerve» mit einigen fiesen Genreelementen, dank derer das World Wide Web einmal mehr zum Mittelpunkt puren Grauens auserkoren wird. Dagegen wirkt «The Boy» als zweitstärkster Horrorfilm 2016 fast schon altbacken; der Erfolg des mit 284.515 Besuchern nur unwesentlich stärker gelaufenen Puppengruselfilms lässt sich wohl vor allem auf die niedrige FSK-Freigabe ab 12 zurückführen, die es auch Horroreinsteigern ermöglichte, einen Genrefilm im Kino zu erleben.

Horror steckt mittlerweile (fast) überall


Wie „angekommen“ sich das Horrorgenre im Mainstream mittlerweile fühlen darf, offenbart ein Blick darauf, wie viele erfolgreiche (!) Filme heutzutage kaum noch ohne Genreelemente auskommen. Allein in den Top 10 des diesjährigen Kinojahres finden sich mit «The Revenant – Der Rückkehrer» sowie «Deadpool» zwei Produktionen, die sich zwar nicht einheitlich dem Horrorfilm zuordnen lassen, deren explizite Gewaltdarstellung ohne die, auch durch das Horrorgenre herbeigeführte, Akzeptanz von Blut im Popcornkino so jedoch kaum möglich wäre. Auch Quentin Tarantino profitiert seit jeher von der neu gewonnenen Aufgeschlossenheit des Publikums gegenüber Brutalität im Mainstream-Kino, sogar das Actiongenre hat sich in den vergangenen Monaten in eine solch derb-pessimistische Richtung entwickelt, dass Produktionen wie «The Equalizer», «Mad Max – Fury Road», «The Raid» oder «John Wick» von Studios nicht mehr als Risiko einzuordnen sind. Noch idealer ist das natürlich für kleinere Indie-Projekte; der Nazi-Slasher «Green Room» (kleines Bild links) wurde weltweit von Kritikern gefeiert, auch die Sequel-Überraschung «10 Cloverfield Lane» bestach hauptsächlich durch seinen undurchsichtigen Genreclash, den Regisseur Burr Steers mit seinem Aufeinandertreffen von Jane-Austen-Schmonzette und Zombieaction in «Stolz und Vorurteil & Zombies» noch auf die Spitze trieb. Der Vollständigkeit halber darf man im deutschen Genrekino auch weder die David-Lynch-Reminiszenz «Der Bunker», noch die Romanverfilmung von David Suters «Die dunkle Seite des Mondes» unerwähnt lassen. Während ersterer hierzulande mit einer niedrigen zweistelligen Kopienanzahl abgestraft wurde, gelang es dem Mysterythriller mit Moritz Bleibtreu in der Hauptrolle, ebenfalls die 100.000-Besucher-Marke zu knacken. Sehr zum Unmut einiger Kritiker; der Film von Stephan Rick wurde äußerst kontrovers aufgenommen. Und selbst das Familienkino macht vor Gruselelementen nicht Halt: Man denke nur an die Kinderbuchverfilmung «Gänsehaut», für die bereits eine Fortsetzung angekündigt ist.

Was noch kommt und was wir erwarten dürfen


Schon der skandinavische Kurzfilm «Lights Out» ging kurz nach seiner Entstehung viral und die Tatsache, dass bei der Langfilmfassung dazu derselbe Regisseur verantwortlich zeichnet, der obendrein auch noch von James Wan unterstützt wird, deutet auf einen erwartbaren Erfolg der Anfang August erscheinenden Jump-Scare-Party hin. Drei Wochen später wagt sich dann «Orphan»-Regisseur Jaume Collet-Serra an ein Subgenre, das von «Sharknado» und Co. zu Tode getrasht wurde; die Rede ist von «The Shallows», dem – so viel können wir bereits verraten – vermutlich besten ernst zu nehmenden Hai-Schocker seit «Der weiße Hai». Anfang September dürfen wir schließlich gespannt sein, wie sich das zweite Sequel von Jason Blums «The Purge»-Reihe schlägt. Ersten Stimmen aus Übersee zufolge, behält die Qualitätskurve ihre Richtung nach oben bei, sodass «Election Year» «Anarchy» noch einmal übertrumpfen könnte. Auch Fedé Alvarez, der Macher hinter dem «Evil Dead»-Remake, meldet sich im September zurück. Sein Kammerspielthriller «Don’t Breathe» erinnert auf den ersten Blick an eine Mischung aus «Lights Out» und «Green Room» und könnte damit echtes Kultpotenzial besitzen. Aktuell noch schwer einzuordnen ist der im Oktober bei STUDIOCANAL erscheinende Genrevertreter «The Woods», der einigen Trailer-Indizien zufolge ein direkter Nachfolger zum «Blair Witch Project» darstellen soll. Da Regisseur Adam Wingard bereits für solche Geheimtipps wie «The Guest» oder «You’re Next» verantwortlich zeichnete, legen wir jedoch nicht wenig Vertrauen in diesen gruseligen Waldausflug.

Was von dem skurrilen Sundance-Filmfestival-Hit «Swiss Army Man» zu halten ist, darüber wollen wir an dieser Stelle noch keine genaue Prognose abgeben. Da sich das Fantasy Filmfest den Genrebeitrag über Daniel Radcliffe als furzende Leiche und Paul Dano als gestrandeten Seemann als Opener gesichert hat, könnte auch hierin mehr stecken, als es die recht übersichtlich gelungenen Trailer versprechen. Dem Sequel zu «Ouija» schauen wir angesichts der ersten Bewegtbildvorschau übrigens nicht mehr ganz so pessimistisch entgegen; nicht zuletzt, weil auch Jason Blum zugab, dass der erste Film (kleines Foto rechts) nicht wirklich gelungen gewesen sei. Nun hat er die Gelegenheit, es besser zu machen, was übrigens auch für die Macher von «Rings» gilt. Dass das zweite Sequel des J-Horror-Remakes von Regie-Virtuose Gore Verbinski an Original und US-Neuauflage anknüpfen kann, wagen wir zwar zu bezweifeln. Doch zumindest den zweiten Teil sollte man locker in die Tasche stecken können. Wir können es jedenfalls kaum erwarten, Samara im November dieses Jahres endlich wieder auf der Leinwand zu erleben.
18.07.2016 17:30 Uhr  •  Antje Wessels Kurz-URL: qmde.de/86894