„Hilfe! Ich habe einen Film gesehen und er hat mir so gar nicht gefallen! Nun muss ich eine Kritik schreiben und will nicht vom Mob zerfleischt werden! Was soll ich jetzt tun?“ Ganz einfach: Befolge diesen Ratgeber für gelungene Negativkritiken!
Wir alle waren schon einmal in dieser Situation. Okay, nicht wir alle. Aber sämtliche Mitglieder der Kritikerzunft (ganz gleich, ob beruflich oder hobbymäßig) erleben es regelmäßig: Wir sehen einen Film, spazieren anschließend aus dem Saal und sind negativ gestimmt. Das war ja mal gar nichts! Nur gibt es da folgendes Problem: Wer im heutigen Klima des angestrengten Digitaldiskurses und der dauergereizten Popkulturdebatte eine negative Kritik verfasst, bekommt sofort einen auf den Deckel.
Wie also kann ich meine Kritikpunkte am soeben gesichteten Film klar vermitteln, um zu vermeiden, eine all zu große Zorneswelle loszulösen? Wie informiere ich mein Publikum, ohne es zu verprellen? Und: Wie schreibe ich eigentlich eine Negativkritik, auf die ich selbst stolz sein kann? Ganz einfach: Mit diesen zehn Ratschlägen für eine lesenswerte Negativbesprechung erhöhen sich die Aussichten um ein Vielfaches! Das hat die Stiftung 'Popcorn und Rollenwechsel' in unrepräsentativen Stichprobentests beinahe bewiesen!
Schritt 1: Siehe es ein, du kannst es eh nicht allen recht machen
Deine Absicht ist eine hehre: „Hey, ich will einfach nur allen, die sich dafür interessieren, erklären, welche Schwächen ich in diesem Film entdeckt habe!“ Allerdings wird es niemanden davon abhalten, an deiner Kritik Anstoß zu nehmen. Du hast neulich einen Marvel-Film positiv besprochen und kritisierst nun eine DC-Comics-Adaption? Irgendwer wird dich für parteiisch halten. Du bist Profi-Kritiker und schreibst einen Blockbuster nieder? Ganz egal, wie viele Hollywood-Großproduktionen du in deiner bisherigen Karriere gelobt hast: Irgendjemand wird dich für einen Spaß hassenden Snob halten. Du bist Hobby-Kritiker und verreißt ein Arthouse-Experiment? Selbst wenn du erst vorgestern eine Lobeshymne auf ein dialogloses Inzestdrama aus Neapel verfasst hast, es wird jemanden geben, der dich nun für einen dummen Blender hält, der mit seinem Blog zu kaschieren versucht, nur Teil der gesichtslosen Masse zu sein.
Daher: Versuche gar nicht erst, sämtlichen potentiellen Lesereinwänden vorzubeugen. Sonst wirst du aus den Vorabentschuldigungen nicht mehr rauskommen. Schreib nicht für den kleinsten gemeinsamen Nenner. Denn
wenn dich möglichst viele mögen, bist du möglicherweise egal.
Schritt 2: Verwechsle dennoch nicht triviale Filmfehler mit relevanten Kritikpunkten
Bloß, weil du nicht dafür sorgen kannst, dass wirklich gar niemand deine Kritik in den falschen Hals bekommt, musst du nicht jedem, der ansatzweise Respekt für die Filmkunst hat, vor den Kopf stoßen. Also schreibe eine kritische
Auseinandersetzung mit dem Film, statt einfach jeden Fauxpas trocken aufzulisten als würdest du ein Stundenprotokoll verfassen. Gleiches gilt für Videokritiken und Audio-Podcasts.
Natürlich kannst du rumstänkern: „In «Zoomania» verrechnet sich Judy Hopps, als sie Nicks Steuerschulden auflistet, der Bürgermeister spricht von eineinhalb Dutzend Vermisstenfällen obwohl es nur 15 gibt und in der Verfolgungsjagdszene im Kleinnager-Stadtviertel gibt es mehrere Kontinuitätsfehler! Liebloser Mistfilm!“ Dann bist du aber kein analytischer Filmkritiker. Du bist auch kein Meinungsmacher. Du bist einfach jemand, der triviales Wissen über diesen Film losrattert.
Achtung, Eilmeldung: Praktisch jeder Film hat Fehlerchen aufzuweisen. Selbst «Citizen Kane» und «Casablanca». In einem Film alles auszublenden, was kein Fehler ist, ist für einen Kritiker ein viel größerer Fehler, als es selbst der dickste Kontinuitätsfehler sein kann!
Schritt 3: Haltlose Übertreibung und Verallgemeinerung sind kein Stilmittel
Die Hyperbel ist ein Stilmittel. Dann und wann kann man sie einsetzen, so wie jeden anderen sprachlichen Kniff. Sei es in lakonischen Kritiken („Mit «Civil War» erscheint der 789. Superheldenfilm der letzten vier Jahre, und er walzt sie alle nieder“) oder auch in nüchternen Besprechungen (auch, wer nicht kurz davor war, sich zu übergeben, darf schreiben: „Die Kamera wackelt so sehr, ich wurde seekrank“). Wer aber durchweg die ganz großen Gesten rauspackt, macht sein Schaffen immer kleiner.
Schritt 4: Natürlich sollst du eine Meinung haben, aber hinterfrage: Wie interessant ist sie, wenn du zu viele zu strenge Prinzipien verfolgst?
Eine Filmkritik kann unterschiedlich stark widerspiegeln, was du fühlst – und du musst selber rausfinden, wo du dich auf der Skala von „Bemüht, nahezu objektiv zu sein“ hin zu „Ich, ich, ich, ich“ am wohlsten fühlst. Aber wenn du dich schon hierher verirrst, um einen Ratgeber zu lesen, dann mag ich dir folgenden Tipp geben: Lass deinen tief verwurzelten Hass auf einzelne Aspekte der Kinowelt nicht impulsartig in Kritiken aus! Du findest, es gibt zu viele Filme über das Thema Familienzugehörigkeit? Dann schreib ein Essay, ein Thinkpiece, darüber. Denn ein aufwändiger, liebevoll gemachter Film wie «Findet Dorie» hat es verdient, dass du mehr in ihm siehst als nur Zornesrot, weil mehrmals das Wort „Familie“ fällt. Du findest Leonardo DiCaprio überschätzt? Meinetwegen, aber musst du daher jeden seiner Filme schlecht bewerten? Ist das noch eine ehrliche Meinung oder schon ein verbissener Rachefeldzug?
Es ist vollkommen in Ordnung, wenn du den Kultstatus von «Grease» hinterfragst. Aber wenn du jede einzelne Musicalankündigung mit „Meine Fresse, schon wieder so ein geträllerter Mist? Welcher Vollidiot hat Musicals erfunden?! Die sind doch allesamt nervig und vollkommen sinnlos!“ kommentierst, dann möchte ich dich fragen: Wieso sollte ich überhaupt Musical-Kritiken von dir lesen? Wenn du alle Musicals abgrundtief hasst, dann hast du mir über diese Kunstform exakt einmal etwas zu sagen – das könnte sogar spannend sein. Zig brodelnde Verrisse dagegen braucht’s wahrlich nicht. Selbiges gilt, wenn du Horror dumm findest oder Remakes aus Prinzip für kommerziell kalkulierten Betrug an der Kunst hältst.
Schritt 5: Du bist Kritiker, kein Orakel, das seine eigenen Loblieder singt
Es gibt Sätze, die sind wie überaus dominante Gewürze: In kleinen Prisen bereichernd, im Übermaß verderben sie den Genuss. Der vielleicht bedeutendste Satz der Filmkritik, auf den dies zutrifft: „War ja klar“ und sämtliche Abwandlungen. „Wie vorherzusehen war, ist «Trinken, Saufen, Feiern» eine laute Partykomödie.“ „Erwartungsgemäß ist «Nagelpistolenmassaker im Finsterwald» sehr blutig.“ „War ja klar: «Drei Orgasmen für ein Halleluja 3D» ist ein provokantes Kino-Sexperiment!“ Dann und wann unterstreichen solche „Ich hab’s von Anfang an kommen sehen!“-Feststellungen deine Aussage. Übertreibe es damit, und ich komm mir für dumm verkauft vor: „Ich wusste, dass es so kommt, wieso du nicht?“ Und nebenher beschleicht mich vielleicht irgendwann der Verdacht, dass du eh immer nur deine Vorabmeinung weiterträllerst, statt die Filme wirklich zu gucken.
Schritt 6: Sei kein 'Nur Meisterwerke kommen bei mir ungeschoren davon!'-Meckerfritze
Popcorn, Rollenwechsel und Kinoformen
Ja, spar dir den Kommentar: Niemand sehnt sich danach, allerorts den „Kritikenstil“ aus Gratis-Werbehefthen zu lesen, in denen jeder Film total supi ist. Das wissen wir. Wir sind hier aber nicht beim Ratgeber „Wie viele positive Kritiken sind zu viele positive Kritiken?“, sondern bei „Wie schreibe ich eine negative Filmkritik?“! Und wie schreibt man nun eine negative Kritik: Bitte nicht unter der Vorstellung, jede Produktion müsste sogleich eine filmhistorisch relevante Revolution sein, die einen in euphorische Höhen versetzt. Wenn eine Komödie arm an neuen Ideen ist, aber reich an pointierten Dialogwechseln, muss sie gleich Schrott sein, weil „Bah, kenn ich schon!“? Ein Actionfilm mit dummer Story und tollen Stunts ist vielleicht mehr als nur „Gähn, langweilig!“ … Lerne, dass es nicht nur Top und Flop gibt, sondern auch Mittelmaß. Und viele, viele Facetten dazwischen.
Schritt 7: Warte nicht auf das filmische Pendant zur eierlegenden Wollmilchschau!
Ja, wir alle lieben es, wenn große Ambitionen verfolgt und erfüllt werden. Ein moralisch komplexes Thrillerdrama mit spektakulärer Optik, originellen Figuren, die urkomische Dialoge vom Stapel lassen, während revolutionäre Musik läuft? Gespickt mit technisch komplexen Actionsequenzen und sinnlichen Sexszenen? Ja. Gerne doch! Kleine Ziele, punktgenau getroffen, sind aber auch was wert, oder? Eine Komödie, die einfach nur lustig ist, ein Musical mit starken Songs, ein Actionfilm, der sofort loslegt und vor tollen Stunts platzt? Was hält dich davon ab, es anzuerkennen, wenn ein Film kein Rundumschlag ist, sondern in sehr spezifische Dingen sehr gut ist?
Schritt 8: Spar dir die Beleidigungen, ja?
Wenn du die neue Melissa-McCarthy-Komödie doof findest, erklär mir, weshalb. Und stell dich nicht auf ein Podest, von dem aus du in die Welt hinausbrüllst: „McCarthy ist eine unlustige Fettsau!“ Wenn ein Film mit guten Performances und cleverem Skript an einer miesen Inszenierung scheitert, was gewinnt deine Kritik dadurch, wenn du schreibst: „Regisseur Nobody McMustermann ist eine talentfreie Nullnummer, die lieber zurück an die Supermarktkasse sollte!“? Wenn du jeden cineastischen Fehlgriff als „blöden Scheißfilm“ bezeichnest, verliert dieses Urteil rasch an Wirkung. Du bist Kritiker. Kein Ein-Mann-Mob mit Fackel und Mistgabel. Benimm dich.
Schritt 9: „Aber, aber, Marcel Reich-Ranicki wurde auch laut! Und Karl Kraus, also, der war voll für Deutlichkeit!“
Ja, jeder Kritiker hat seinen Stil. Und dies hier ist nur ein Leitfaden. Er enthält Richtlinien, keine Gesetze. Ein guter Geschichtenerzähler kann auch auf die grundlegenden „Regeln“ eines Aristoteles oder Lessing pfeifen. Und manche Kritiker haben Polemik sowie Vulgarität als ihren Stil entdeckt. Nur möchte ich dir was verraten: Ein Gros der Kritiker, die sich heutzutage primär über Zorn definieren, sind unqualifizierte, nervige Lackaffen, die ihre Minderwertigkeitskomplexe dadurch kompensieren, dass sie auf jeden verbal spucken, der keine Perfektion abliefert. Nur alle Jubeljahre findet sich unter wütenden Kritikern einer wie Reich-Ranicki. Du bist aber nicht Reich-Ranicki! Du hast nicht solch eine bewegte Lebensgeschichte und verfügst nicht über solch einen umfangreichen Wortschatz, aus dem du dich behände bedienst. Tu also bitte jemandem wie Reich-Ranicki nicht das Unrecht, ihn mit den heutigen Pöbelwutkritikern über einen Kamm zu scheren! Ja, dieser Mann konnte vulgär und laut werden. Aber er ging nie wahllos vor, er wusste, seine Spitzen einzusetzen. Wenn ein Reich-Ranicki durchgedreht ist, ein Mann so hohen Intellekts, eines derartigen Erfahrungsschatzes und so beeindruckender Beobachtungsgabe, dann hatte das Gewicht. Wenn ein Nobody aus dem Internet „Die grenzdebile Grinsebacke Matthias Schweighöfer gehört nicht einmal vor eine Kamera, geschweige denn auf den Regiestuhl“ als professionelle Kritik ausgibt, ist das bestenfalls pathetisch und schlimmstenfalls gleichermaßen lachhaft wie todtraurig!
Außerdem: Wer ernsthaft Kraus‘ Forderung einer vollkommen deutlichen Kritik mit der Legitimation unqualifizierter Drastik verwechselt, sollte dessen Namen gar nicht erst in den Mund nehmen dürfen. Kraus‘ Vorstellung von Deutlichkeit umfasst ebenso sehr Präzision. Sie ist mit einem exakt gesetzten, tödlichen Schuss eines Scharfschützen gleichzusetzen: Finde die Missgeschicke eines Werkes und … *zack*. Genau getroffen! Was du Hanswurst willst, ist mit einer Jahrespackung Splittergranaten um dich werfen, weil du dich in einem Film zwischendurch ein wenig gelangweilt hast und du die Hauptdarstellerin nicht so geil findest wie dein liebstes Pornosternchen!
Schritt 10: „Du nervst voll! Verkopf nicht alles so krampfhaft, hör mir auf mit diesem piefigen Quark! Wir leben in neuen Zeiten! Da brauch ich Härte! Medien ändern sich! #YOLO! #MakeReviewsHardcoreAgain“
Du sagst es. Die Medien wandeln sich. Nahezu jeder kann heutzutage seine Gedanken auf die Welt loslassen. Geschrieben. Gesprochen. In Videoform. Jeder ist ein kleiner Hobbypublizist. Alle Welt glaubt, ein Angry Movie & Television Geek zu sein, gefühlt jeder fünfte Filmliebhaber, der über den Mainstreamtellerrand schaut, hält sich für den nächsten Marcel Reich-Ranicki. In einer digitalen Welt voller Schreihälse, die glauben, dass die Masse an Beschimpfungen mehr zählt als die Prägnanz der getätigten Beobachtungen …. Sei da nicht der nächste Wutnickel, den ich schon vergessen habe, sobald ich die neuste Schimpfattacke des übernächsten Verbalraufbolds erblicke! Der Schockfaktor allein zieht nicht. Ich habe Internetzugang – keine Formulierung eines Irgendwers kann mich noch schocken! Niemand denkt „Wow, was für ein harter Kritiker, der meckert so viel, der muss Ahnung haben.“ Wenn ich unqualifiziertes, unanalytisches Gezeter lesen will, dann lese ich Internetkommentare. Ein Kritiker muss mehr auf dem Kasten haben. Mehr Beobachtungsgabe. Mehr Willen, auf eine Produktion einzugehen. Mehr Schreibtalent, weniger Aufplustern!