Warum «Westworld» ein Serien-Meilenstein werden kann

Selten hat eine Serie so viel neu gemacht und ist doch so klassisch: «Westworld» erzählt die alte Geschichte des Aufstands der Maschinen gegen die Menschen. Gleichzeitig macht sie uns, den Zuschauer, zum Thema: Wir werden beobachtet.

Cast & Crew

  • Darsteller: Evan Rachel Wood, Jeffrey Wright, James Marsden, Luke Hemsworth, Ed Harris, Anthony Hopkins u.a.
  • Creator: Jonathan Nolan, Lisa Joy
  • Regisseur (Pilot): Jonathan Nolan
  • Ausf. Produzenten: Bryan Burk, Jerry Weintraub, Lisa Joy, Jonathan Nolan, J. J. Abrams
  • Produktion: Bad Robot, Jerry Weintraub Prods., Warner Bros. TV für HBO
  • Episoden: 10 zu je ca. 60 Min.
Meistens erkennen wir Zuschauer es auf den ersten Blick: Super Serie! Großer Mist! Hat Potenzial! Diese tiefgründigen Figuren! Dieser langweilige Plot!

Viele Gedanken gehen uns durch den Kopf, wenn wir eine Serie neu entdecken. Wir bilden uns unsere eigene Meinung. Und je mehr wir Serien schauen, je mehr Erfahrungen wir in unseren Köpfen über Narrative sammeln, desto besser können wir uns einschätzen – und das, was wir da gerade entdecken: Ist dieses neue Format da etwas für mich? Hat es das Potenzial, mich lange zu unterhalten? Warum funktioniert diese hochgelobte Produktion bei allen, nur nicht bei mir?

Jeder von uns – und damit meine ich auch Sie, jetzt gerade – ist zu einem kleinen Serien-Kenner geworden. Zu einem Rezipienten, der vielleicht auch große Stücke auf sein eigenes Serienwissen hält. Der Empfehlungen gibt und Fehltritte vermeiden will. Unsere Gruppe als „Serien-Nerds“ wird größer, schließlich leben wir im sogenannten goldenen Zeitalter des Fernsehens, das auf Qualitätsserien zurückzuführen ist. Wöchentlich erscheinen neue Produktionen, und wir wollen Schritt halten, sind auf der Suche nach dem nächsten Hit.

Ich sage Ihnen eines: Wir, das Publikum, werden jetzt beobachtet. Wir werden zum Thema. Mit
«Westworld» könnte die erste Serie existieren, die uns darauf gezielt anspricht. Sie ist vielleicht deswegen irgendwann ein Meilenstein des Genres. Vielleicht. Das Experiment kann aber auch gewaltig schiefgehen.

«Westworld» spielt in einer Zukunft, in der Menschen ewig leben können und alle Krankheiten heilen. Die Technik ist so fortgeschritten, dass hyperrealistische humanoide Roboter existieren: Sie sind vom Menschen aus Fleisch und Blut kaum noch zu unterscheiden – und die Unterschiede, die es gibt, werden durch regelmäßige Updates ausgemerzt. Diese Roboter werden im Freizeitpark „Westworld“ eingesetzt, rund 200 von ihnen existieren in diesem künstlichen Wildwest-Areal, sie heißen „Hosts“, also Gastgeber. Und sie sollen den „Newcomers“, also den Neuankömmlingen, Unterhaltung bescheren. Die Newcomers sind Menschen, die für den Aufenthalt im Freizeitpark bezahlen. Und Unterhaltung heißt in diesem Fall: Sie können mit den Hosts veranstalten, was sie wollen – ohne jede Regel. Umgekehrt gilt: Die Hosts dürfen ihren menschlichen Gästen nicht ein Haar krümmen. Eine ungleiche Welt, in der es nur einen Sieger geben kann.

Die Serie spielt auf zwei narrativen Ebenen, die miteinander verwoben sind: Die eine ist die im Wildwest-Setting, die andere die außerhalb des Freizeitparks. Dort, wo die Roboter gefertigt und auf ihre Funktionalität überprüft werden. Dort, wo Storyteller spannende Geschichten für die Parkfiguren erfinden und Programmierer neue Updates entwickeln. Soweit, so „normal“: Der Park und sein Konzept könnten ewig und friedlich weiterlaufen. Immer wieder werden Erzählstränge wiederholt, immer wieder werden Erinnerungen der Hosts gelöscht und ihr Alltag beginnt von vorn. Täglich grüßt das Murmeltier. Doch mit dem letzten Update hat sich ein Problem eingeschlichen, manche Roboter verhalten sich auffällig. Das Update beinhaltet eine Funktion, mit dem die Hosts auf ihre früheren Handlungsstränge (ihr früheres Leben sozusagen) zugreifen können, solange diese nicht überschrieben sind. Ihnen wird Erinnerung gewährt. Und irgendwann begreifen die ersten, dass sie vielleicht gar keine Menschen sind: Die Keimzelle eines Bewusstseins ist entfacht. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis sich die Maschinen gegen ihre Schöpfer wenden.

«Westworld»: Moderne Publikumsbeschimpfung?


Das Publikum, das implizit eine Hauptrolle einnimmt, finden wir in jeder Szene wieder. Die Idee des Freizeitparks liest sich wie die eine Parabel auf das aktuelle Serien-Zeitalter, wie Adrian Daub schon bei „ZEIT Online“ richtig bemerkte: Immer wieder dieselben Geschichten mit immer wieder denselben Figuren, und die Storyteller müssen schauen, dass alles irgendwie narrativ zusammenpasst. Das kann man über den Freizeitpark in «Westworld» sagen. Aber auch über unsere Serienwelt: Durch den Boom des Genres werden wir überschwemmt mit mittelmäßigen bis schlechten Geschichten, die sich wiederholen oder ähnlich anfühlen. Originelle, direkt für das Genre entwickelte Storys wie früher «Breaking Bad» und andere Pioniere gibt es kaum noch. Fast alle neuen Serienstoffe basieren auf Filmen, Büchern, Comics, anderen Serien. «Westworld» übrigens auch: Basis ist ein Roman von Michael Crichton.

Andererseits will das Publikum offenbar immer dieselben Geschichten, auch in «Westworld». Das Erfolgsrezept ist ausgekocht, und an der Formel darf nichts mehr verändert werden. Die Serie ist deswegen so spannend, weil sie genau das zum Thema macht. Im Grunde ist auch sie ein klassischer Stoff, der des Aufstands von Robotern gegen Menschen. Dass «Westworld» aber gleichzeitig um diesen Umstand weiß und auch diesen zum Thema macht – und uns als Rezipienten damit hinterfragt – ist eine neue Meta-Ebene, die hochspannend wirkt. Der „schwarze Mann“, gespielt von Ed Harris, streift im Wilden Westen der Serie umher, um der Sache auf den Grund zu gehen. Er will die Geschichte hinter der Geschichte erfahren und gibt sich mit Freizeitpark-Spaß nicht zufrieden. Er sucht nach Auffälligkeiten. Porträtiert er damit implizit auch den Serienkenner, der auf der Suche nach dem Neuen ist, nach dem nicht immergleichen Plot?

Die Programmierer und Storyteller des Frezeitparks unterhalten sich immer wieder darüber, wie sie die Roboter noch menschlicher machen können. Und ob das die Gäste überhaupt wollen. Solche Fragen stellen sich echte Storyteller für uns, das Publikum, Tag für Tag: Wie soll diese Figur gestrickt sein, was will man dem Zuschauer zumuten? Wie kann ich ihr charakterliche Tiefe verpassen? Wie bediene ich den Massengeschmack, mit unrealistischen und gewöhnlichen Storys? Wie viel narratives Risiko darf ich gehen?

Wenn wir, das Publikum zum Thema werden, ist dies gleichzeitig Fortführung und Gegenthese des postmodernen Fernsehens, das in den 90ern begann. Postmodernes Fernsehen, beispielsweise frühe Vertreter wie «Seinfeld», ist unter anderem selbst-referentiell – es thematisiert sich selbst, implizit weiß es um seine Stellung als fiktionales Format. Das, was wir jetzt in «Westworld» beobachten, dreht sich weniger um sich selbst, sondern eben: um das Publikum.

Auf der inhaltlichen Ebene funktioniert die Serie selbstverständlich auch ohne solchen Meta-Gedanken. Man betreibt in den ersten Folgen vor allem World-Building und lässt durchscheinen, dass wir nur einen kleinen Teil des großen Ganzen erleben. Wir erahnen, dass der Freizeitpark nicht nur für geldbringende Gäste da ist, sondern andere Zwecke zu haben scheint. HBO-typisch erzählt man langsam und ausufernd, aber nicht langweilig. Die Bildsprache ist hervorragend ambivalent, mit kühlen, dunklen, engen Räumen in den Labors und einladenden wunderschönen Landschaften im Wilden Westen. Schauspielerisch erleben wir höchstes Niveau, allein durch die herausfordernde Darstellung der Roboter, die ihre Mimik schlagartig ändern können oder ihre Funktionen ganz einstellen. Ein weiteres Highlight: Antony Hopkins als Parkgründer und zwielichtiger Visionär.

«Westworld» funktioniert also auf vielen Ebenen und in vielerlei Perspektive. Man kann unterschiedlich an diese Serie herangehen, genauso wie an ihre Rezeption. In jedem Fall bringt sie uns dazu, uns selbst Fragen zu stellen. Ein Beispiel ist die Empathie, die wir mit Serienfiguren empfinden sollen: Kann sie auch bei lebensecht wirkenden Robotern funktionieren? Und wenn ja, was sagt das dann über uns als Menschen und Rezipienten aus? Was sagt es über uns, wenn wir mit einem Roboter Mitleid haben? Oft sind Maschinen die kalten Antagonisten in Serien und Filmen, ihre Ambivalenz selten sichtbar. Beispiele für diese Ausnahmen sind «Blade Runner», «A.I.» oder auch «Ex Machina». «Westworld» kann diese Idee als Serie komplexer und tiefgründiger erzählen als jeder Film.

Was würden wir tun, wenn wir jegliche Freiheiten in einem solchen Park hätten? Würden wir unsere zivilisierte Natur über Bord werfen? Wie wertvoll wären wir dann noch als Mensch gegenüber dem hilflosen Roboter? Auch solche ethisch-philosophischen Fragen stellt «Westworld» implizit, neben denen über uns als Publikum. Wer diese Fragen einmal erkannt hat, staunt und grübelt. Und grübelt weiter, lange nachdem der Abspann gelaufen ist. Dieser schwierige Genre-Mix wirkt nach im Kopf, sie ist das Gegenteil von beliebig. Für das müde Genre der Qualitätsserien ist sie vielleicht ein Glücksfall.
07.10.2016 16:05 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/88564