Die Kritiker: «Neben der Spur - Todeswunsch»

In seinem dritten Fall zeigt die ZDF-Reihe den Psychologen Joe Jessen als verwundbaren Familienvater. Konventioneller erzählt, entfaltet der Film einige der Stärken, die die Reihe populär machte.

Hinter den Kulissen

Vor der Kamera:
Ulrich Noethen, Juergen Maurer, Petra van de Voort, Lilly Liefers, Mala Emde, Fritz Karl, Friederike Becht, Michaela Rosen, Marie Leuenberger, Annika Schrumpf, Kailas Mahadevan, Regula Grauwiller u.v.m.

Hinter der Kamera:
Regie: Thomas Berger; Drehbuch: Mathias Klaschka; Kamera: Frank Küpper, Schnitt: Lucas Seeberger, Musik: Christoph Zirngibl; Szenenbild: Benedikt Herforth; Redaktion: Daniel Blum & Alexandra Conrad
Deutschland, einig Krimiland. In der weiten Krimilandschaft der Öffentlich-Rechtlichen wirken nicht nur die alteingesessenen Reihen häufig verstaubt oder austauschbar. Einen regelrechten Lichtblick stellte da der Auftakt der Reihe «Neben der Spur» da, die mit dem Fall „Adrenalin“ am 23. Februar 2015 eingeläutet wurde. Montags zur besten Sendezeit setzte das ZDF seinem Publikum einen beklemmenden und intelligenten Psychothriller mit sarkastisch-komödiantischen Tönen und verspielter Kamera vor, der unseren Kritiker damals in helle Begeisterung versetzte (siehe Info-Box weiter unten im Artikel). Schon Teil zwei fehlten jedoch viele dieser Attribute, der Fall kam nicht mehr ganz so spannungsgeladen daher und dazu deutlich konventioneller. Doch stieg die Reichweite bis auf knapp sieben Millionen Zuschauer, was das Zweite natürlich zum Dreh eines weiteren Teils über den Hamburger Psychiater Johannes „Joe“ Jessen nach den Romanen des Australiers Michael Robotham veranlasste.

Jessen weiß es wieder besser


Diesmal kommt das Verbrechen auch der Familie Dr. Jessens gefährlich nahe: Die 16-jährige Sina Martensen, beste Freundin von Jessens Tochter Charlotte, taucht blutverschmiert vor der Tür der Jessens auf. Unterdessen befindet sich die Polizei schon auf dem Weg zum Haus des frühreifen Teenagers, im Zimmer des Mädchens wird nämlich ihr Vater Ralf ermordet aufgefunden. Nachdem auch ihre Fingerabdrücke auf der Tatwaffe gefunden werden, fällt der Verdacht unmittelbar auf Tochter Sina,. Zusätzliche Brisanz erhalten die Ermittlungen durch die Tatsache, dass Ralf Martensen der ehemalige Vorgesetzte von Kommissar Ruiz Chefin Ronnie Nielsen war. Während Sina in psychiatrische Behandlung bei Dr. Jessen übergeben wird und sich aufgrund ihres Traumas an nichts erinnern kann, kommen schockierende Details über das Familienleben der Martensens ans Licht. Jessen glaubt jedoch nicht an das sich sehr erwachsen gebende Mädchen als Täterin. Neue Spuren bringen ihn auf die Fährte des Theaterlehrer Gregor Engels, der eine besondere Ausstrahlung auf Sina gehabt zu haben scheint – und auch auf Jessens Tochter Charlotte…

Die Quotenmeter-Kritiken zu den bisherigen «Neben der Spur»-Fällen

Auch Fall drei aus der noch recht jungen ZDF-Reihe «Neben der Spur» zeigt, dass man mit der Figur des Dr. Johannes Jessen einen vielschichtigen und komplexen Charakter geschaffen hat, der von Ulrich Noethen (zuletzt bspw.: «Das Tagesbuch der Anne Frank»), einem der renommiertesten deutschen Schauspieler, ausgezeichnet besetzt wurde. Dennoch stand die Reihe vor der dritten Folge erstmals an einem Scheideweg. Verantwortete die ersten beiden Folgen „Adrenalin“ und „Amnesie“ noch das Duo Cyrill Boss & Philipp Stennert («Neues vom Wixxer»), mussten nun Regisseur Thomas Berger und Autor Matthias Klaschka, die für das ZDF schon den Zweiteiler «Solo für Weiss» schufen, die Entwicklung der Charaktere weiterführen und die Kontinuität der ersten beiden Teile wahren.

Psychologe, Verbrechensbekämpfer, Familienvater


Dass das kreative Doppel dem Publikum nicht einfach „more of the same“ vorsetzen wollte, wird schnell am neuen Blick des Falls auf Psychiater Joe Jessen klar. Rückte man in „Amnesie“ noch die bewegte Vergangenheit von Jürgen Maurers Kommissar Ruiz und dessen durch Teil eins problematische Beziehung zu Joe Jessen in den Mittelpunkt des Geschehens, erlebt der Zuschauer Jessen in «Neben der Spur – Todeswunsch» nicht nur als Ausnahme-Psychiater, sondern auch als Familienvater, dem nichts mehr bedeutet als Kind, Frau und das Baby, das gerade im Bauch seiner Gattin heranwächst. Nicht nur ein entlassener Vergewaltiger, gegen dessen Haftentlassung sich Jessen am Anfang der neuen Episode noch tatkräftig einsetzt, besonders ein charismatischer Musiklehrer bringt Jessen durch seine Taten schließlich erstmals zum Kontrollverlust.

Eine Reihe mit dem Fokus auf einem Psychiater lebt von seiner psychologischen Komponente, die im Duell zwischen Fritz Karls Gregor Engels und Jessen zum Tragen kommt. Der charmante Manipulator und der Ausnahme-Psychiater erkennen rasch die Schwächen des jeweils anderen und drücken so lange ihre Knöpfe, bis die Situation eskaliert. Dabei bildet «Neben der Spur – Todeswunsch» in seiner ersten Stunde den vermeintlichen Verdächtigen trügerisch harmlos ab und zeigt damit, wie leicht das wahre Gesicht des Theaterlehrers allen außer Jessen verborgen bleibt. Gleichzeitig schafft es, der Fall jedoch nie, Engels als die große Gefahr abzubilden, die er in den Augen Jessens wohl sein soll. Auch das Finale gerät daher verhältnismäßig unspektakulär. Die für Jessen persönliche Ebene des Falls lassen unterdessen den erneut großartig aufspielenden Noethen ganz neue, rohere Facetten seiner Figur zeigen.

Dabei liegt der Fokus des Falls zu Beginn ganz auf der jungen Sina, die in einigen Szenen als frühreife Lolita mit Vorliebe für ältere Männer dargestellt wird. Auch Jessen nähert sie sich, dem jedoch ausschließlich an der professionellen Behandlung ihres Falls gelegen ist. Schnell ergeben sich dunkle Einblicke, die auf häusliche Gewalt und Kindesmissbrauch hinweisen. Stets zwischen Kooperation und Schlagabtausch wechselnd, arbeiten Jessen und Kommissar Ruiz an der Auflösung des Falls, was auch im Privatleben des Ermittlers einiges durcheinanderwirbelt. Die Reibung der beiden Alpha-Tiere führt wieder zu einigen sehenswerten Szenen, leider weniger als in den vergangenen Episoden.

Erneut verschreibt sich «Neben der Spur – Todeswunsch» weniger auffälligen Stilmitteln als im kreativ-verspielten Teil eins der Reihe. Dennoch findet sich auch in „Todeswunsch“ handwerklich weiterhin ein Ausnahmekrimi. Ein ums andere Mal sorgen Musik, Kamera und Schnitt für inszenatorische Leckerbissen. Deutlich höher ist die Schlagzahl beim erneut teils sehr spannenden und entsprechend schnell geschnittenen 90-Minüter, vergleicht man ihn mit dem Krimi-Gros aus deutschen Landen. Ein gelungener Einstand also für Berger und Klaschka, in deren Vision auch Kameramann Frank Küpper eine wichtige Rolle spielt.

Noethen, Maurer und nicht zuletzt Sina-Darstellerin Mala Emde («Meine Tochter Anne Frank»), liefern großartige Performances ab. Etwas unglücklich wirkt hingegen die Besetzung von Jan Josef Liefers Tochter Lilly als Jessen-Sprössling. Nicht nur dass sie (12) und Emde (20) dem Zuschauer als gleichaltrig verkauft werden, obwohl das kaum glaubhaft erscheint und die Art ihrer Charaktere fernab jeglicher Augenhöhe liegen, auch ihr Vortrag wirkt in ihren wenigen Szenen gestelzt. In der langen Filmgeschichte befassten sich nicht wenige Werke mit der besonderen Beziehung zwischen Vater und Tochter, die in «Neben der Spur – Todeswunsch» in dreifacher Weise ganz unterschiedlich porträtiert wird. Erneut kann man «Neben der Spur» daher keinen Genre-Stempel aufdrücken, sodass die Reihe weiterhin nicht Gefahr läuft, Teil des deutschen Krimi-Einheitsbreis zu werden.

«Neben der Spur – Todeswunsch» läuft am Montag, dem 14. November, ab 20.15 Uhr im ZDF.
12.11.2016 10:24 Uhr  •  Timo Nöthling Kurz-URL: qmde.de/89266