Popcorn und Rollenwechsel: Die Figuren locken uns zurück ins Kino, nicht die Welten
Nicht das Filmuniversum erschafft Hitreihen, sondern die Figuren, die es bevölkern ...
Der Kino- und Fernsehsommer 2016: Während die großen VoD-Portale mit ihren Neuveröffentlichungen beim jungen Erwachsenenpublikum für ordentlich Gesprächsstoff sorgen, floppen an den Kinokassen mehrere groß angekündigte, kostspielige Blockbuster-Fortsetzungen. Wie es im Internet so ist, sind die Unkenrufe nicht fern: „Kino ist tot“, mault und jammert es – während auf diversen internationalen Filmfestivals die nächsten großen künstlerischen Volltreffer gefeiert werden.
Nun liegt der Sommer einige Zeit zurück – und nunmehr erobert der 14. Teil des Marvel Cinematic Universes die internationalen Kinocharts. Ganz davon zu schweigen, was im Laufe des Spätsommers und Herbsts «Findet Dorie» an Einnahmen angespült hat.
Kurzum: Nein, die Kunstform Film ist nicht tot, und weder wendet sich das globale Kinopublikum großen Blockbustern völlig ab, noch Fortsetzungen generell. Auch wenn die eher ernüchternden Zahlen der Dan-Brown-Adaptionen «Inferno» zeigen, dass selbst Filmreihen, die zwei Hits hatten, nicht unbedingt gleich drei Mal zum Erfolg werden müssen. Was aber unterscheidet denn nun ein «Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln» oder ein «Inferno» vom Marvel-Filmuniversum oder den «Bibi & Tina»-Realfilmen, die seit 2014 zunehmend Zuspruch finden?
Fortsetzungen: Fiktive Freunde wiedersehen
Ich hatte viele Zweifel, was «Findet Dorie» anbelangt – ich hatte keine Vorstellung, wie den «Findet Nemo»-Helden eine weitere Geschichte abgerungen werden könnte. Und blickt man darauf, welch große, negative Wellen die Filmankündigung damals geschlagen hat, war ich wohl nicht allein. Und dennoch generierte der Pixar-Animationsfilm über eine Milliarde Dollar an den Kinokassen. Wieso? Darüber gibt es leider keine Statistiken, aber wenn man mal mit Besuchern des Trickfilmhits spricht, so wiederholt sich ein Argument immer wieder: „Ich wollte schauen, was Dorie jetzt wieder so treibt“, heißt es mit fröhlich strahlendem Gesicht. Viele Filmliebhaber schlossen Dorie in «Findet Nemo» in ihr Herz, und guten Freunden leiht man halt auch Aufmerksamkeit, wenn man sich nicht sicher ist, ob ihr neues Unterfangen ein Reinfall oder ein Volltreffer wird.
Robert Langdon dagegen ist uns kein fiktiver Freund. Dorie-Plüschfiguren kaufen, um an diese geliebte Figur erinnert zu werden? Klar. Aber wer kauft sich schon «Illuminati»-Fanshirts? Robert Langdon ist ein fiktiver Bekannter, wir alle haben ihn zwei Mal getroffen, in «Da Vinci Code – Sakrileg» und «Illuminati» mit ihm gerätselt und vielleicht auch mitgefiebert, aber haben wir ihn kennengelernt? Würden wir ihm unser Poesiealbum überreichen, damit er etwas darin einträgt? Von Dorie wissen wir, dass sie uns eine fröhliche, witzige Botschaft überreichen würde. Aber was wissen wir schon vom privaten Langdon, abgesehen davon, dass er eine Micky-Maus-Uhr trägt? Wir würden Langdon rufen, wenn wir dringend eine Geschichtspräsentation fertigstellen müssen, nicht, wenn wir einfach nur rumhängen wollen. Langdon hatte an den Kinokassen zwei Mal Glück – doch sein drittes Abenteuer war für kaum jemanden ein Must-See, für das er Zeit freischaufelt. Sorry, Kumpel, keine Zeit, anderes Mal, vielleicht …
Von inniger Begeisterung für die Figuren profitiert auch das Marvel-Filmuniversum: Weil so viele Kinogänger die Avengers mit ehrlicher Freud anfeuern, vergeben sie Marvel auch schwächere Filme wie «Thor – The Dark Kingdom» und rennen in Filme über obskurere Comichelden wie «Doctor Strange», um zu schauen, wie denn der künftige neue Kollege von Iron Man, Captain America und Co. so drauf ist. Figuren sind Trumpf. Und so kann es dann passieren, dass ein «Bibi & Tina – Mädchen gegen Jungs» in der Bundesrepublik an «Independence Day – Wiederkehr» vorbeizieht: Detlev Buck sorgte zuvor schon zwei Filme lang, dass ein Millionenpublikum die Realfilmversionen der Titelheldinnen lieben lernt. Roland Emmerichs «Independence Day»-Fortsetzung dagegen verzichtete auf die beliebteste Figur des Originals …
Der Reiz einer Filmwelt kennt seine Grenzen
„Aber wir gehen doch auch ins Kino, um in eine andere Welt abzutauchen“, brennt es vielleicht nun manchen unter den Nägeln. Das stimmt. Zweifelsohne. Nur fällt die Wiedersehenslust ohne Figuren, die man in dieser Welt wiedertreffen möchte, einfach nicht ganz so groß aus. Tim Burtons Version von «Alice im Wunderland» mag beim ersten Mal viele fasziniert haben, einen zweiten Kinourlaub in diese Welt wollten aber deutlich weniger Menschen unternehmen – dafür blieb abseits vom Look des Originals einfach zu wenig hängen. Anders Tolkiens Mittelerde: Das Fantasy-Universum mag der größte und stärkste Aufhänger der Filmreihe sein, doch mit Gandalf und Bilbo Beutlin hatte «Die Hobbit»-Reihe zwei liebgewonnene Figuren aus der «Der Herr der Ringe»-Reihe im Mittelpunkt, so dass durchwachsener Qualität zum Trotz die Prequels nach der großartigen Ursprungstrilogie Zugkraft hatten.
Auf hohem Niveau gemessen zeigt auch «Star Wars», wie wichtig es ist, ein faszinierendes Universum mit ansprechenden Figuren zu bevölkern: Die Prequel-Trilogie ist wahrlich kein narratives Meisterwerk, aber da Lucas‘ Universum viele Filmliebhaber fasziniert und selbst in diesen drei schwächeren Filmen alte Bekannte zeigt, fielen Episode I bis III zwar wirtschaftlich keinesfalls durch – fühlen sich, basierend auf der popkulturellen Stimmung, wie Flops an. «Das Erwachen der Macht» wiederum gibt Fanfavorit Han Solo eine zentrale Rolle, führt im Gegensatz zu den in Sachen neuer Helden enttäuschenden Prequels auch neue Figuren ein, die beim Publikum ankommen – und wurde ein Riesenerfolg. Da war man dann auch eher als bei den Prequels gewillt, manche erzählerische Schwächen zu verzeihen.
Schlechte Aussichten also für James Camerons «Avatar»-Saga – der Erstling wurde ja auch primär wegen seiner Welt gefeiert, nicht aufgrund der Figuren …