Lars Eidinger: 'Mein Publikum ist ein kleinerer, elitärerer Kreis'

Schauspieler Lars Eidinger spricht mit Quotenmeter.de über das Genre Streitfilme, den Massengeschmack und die «Terror»-Abstimmung.

Ich schätze, dass wir in der jetzigen Zeit ein Defizit an Streitkultur haben, wenn wir uns wirklich gegenüberstehen. Wir haben nun eher den Reflex, die Einstellung zu verfolgen, nicht mehr so viel von uns preiszugeben. Man denkt: „Ich will mich nicht angreifbar machen, ich gehe nicht in die Konfrontation. Ich verfolge lieber Konformität.
Lars Eidinger
«Familienfest» gliedert sich ein in die lange Reihe an in jüngerer Vergangenheit entstandenen Streitgeschichten. Ich meine damit Filme und Theaterstücke wie «Gott des Gemetzels», «Nur eine Stunde Ruhe!» oder «Frau Müller muss weg!», die ausführlich zeigen, wie sich eine kleine Figurengruppe an die Gurgel geht. Wie erklären Sie sich diese Welle an derartigen Projekten?
Darüber habe ich ehrlich gesagt bislang nicht nachgedacht. Was ist Ihre Theorie?

Darum sollte es jetzt eigentlich nicht gehen. (schmunzelt) Meine Überlegung ist, dass sich durch die sozialen Netzwerke die Diskussionskultur völlig geändert hat. Das wiederum weckt vielleicht bei Dramaturgen die Sehnsucht danach, sich in Filmen und Bühnenstücken mit Streit auseinanderzusetzen – und das Publikum nimmt diese Stoffe an, weil es unterbewusst merkt, dass sie eine Leerstelle besetzen.
Der Gedankengang ist mir neu, aber jetzt, wo Sie es sagen … Um spontan darauf aufzubauen: Ich schätze, dass wir in der jetzigen Zeit ein Defizit an Streitkultur haben, wenn wir uns wirklich gegenüberstehen. Wir haben nun eher den Reflex, die Einstellung zu verfolgen, nicht mehr so viel von uns preiszugeben. Man denkt: „Ich will mich nicht angreifbar machen, ich gehe nicht in die Konfrontation. Ich verfolge lieber Konformität.“ Und darauf bauen dann diese Streitfilme und -theaterstücke auf. Sie zeigen, wie sich etwas anstaut und letztlich ausbricht. In all diesen Geschichten wird eingangs eine Gesellschaft beschrieben, die vordergründig harmonisiert. Und in diese Gesellschaft der Oberflächlichkeit gerät dann jemand, der katalysiert, der durch seine Persönlichkeit aneckt und mit seiner Art provoziert. Im Fall von «Familienfest» ist es Max, meine Rolle. Er löst einen Zwist, eine Auseinandersetzung innerhalb dieser Gruppe aus. Und ich schätze, dass wir uns in unserer Gesellschaft danach sehnen, dass es zu solch einer Eskalation kommt, weil wir von der vorgetäuschten Harmonie frustriert sind und merken, wie oberflächlich und hohl sie ist.

Sozusagen: Wir sind verängstigt, aneinanderzugeraten, igeln uns daher ein, verstecken unser wahres Ich vor Freunden und Familie – und dann kommt es dazu, dass es ins Gegenteil umkippt und wir suchen Erlösung im Zoff?
Ja. Ich habe mir in letzter Zeit, ich weiß selber nicht weshalb, viele Klaus-Kinski-Wutausbrüche angeschaut – und das imponiert mir sehr. Ich finde, es bringt viel, sich dieser gängigen Verbindlichkeit zu verwehren und auch mal zu sagen „Das ist 'ne blöde Frage“ oder „Was wollen Sie jetzt von mir?“ Wir spielen dieses Spiel zu sehr mit, wir sollten viel mehr hinterfragen, provozieren und uns querstellen. So wie Max in «Familienfest».

Interessant, dass für Sie Max die provokante Figur ist – ich konnte mit der Figur mitfühlen. Provokant war für mich der Familienvater mit seinen polternden Thesen und seinem intolerant-arroganten Gehabe …
Genau, aber innerhalb dieses Systems der Familie ist Max der Provokateur: Wenn der Vater handelt, wie es ihm beliebt, schweigen alle und es ist nur Max, der sich dagegenstellt. Das meine ich: Der Patriarch ist hier wie ein totalitärer Staat, den niemand in Frage stellt – und das, obwohl in ihm eine unerträgliche Atmosphäre des Terrors herrscht. Erst als Max mit seiner Festrede Widerstand leistet, kommt Bewegung in diesen Mikrokosmos.

Es ist die Wahrheit, die das Leben lebenswert macht. Und nicht die Lüge oder die Ignoranz, wenn man bei Ungerechtigkeit wegschaut – dann lebt man nur in einer Scheinexistenz, weil man sich und den Anderen etwas vormacht.
Lars Eidinger
Also handelt «Familienfest» quasi von Zivilcourage, davon, sich einzusetzen, wenn die selbsternannte Normalität andere Menschen demütigt und angreift ..?
Ich kann mit dem Wort „Zivilcourage“ nicht so viel anfangen – ich würde schlicht Courage und Aufrichtigkeit sagen. Max verfügt über diese Aufrichtigkeit, weil er dem Tode nahesteht und sich danach sehnt, ehrlich zu sein, statt in dieser scheinheiligen Lüge seiner Familie zu leben. Und das ist vielleicht die Botschaft, die man aus dem Film mitnehmen kann: Es ist die Wahrheit, die das Leben lebenswert macht. Und nicht die Lüge oder die Ignoranz, wenn man bei Ungerechtigkeit wegschaut – dann lebt man nur in einer Scheinexistenz, weil man sich und den Anderen etwas vormacht.

Da klafft halt die große Lücke: Von Angesicht zu Angesicht scheint eine duckmäuserische Haltung vorzuherrschen – in Internetkommentaren schlagen wir uns dagegen sprichwörtlich die Köpfe ein und tönen groß, für wie dumm wir die Anderen halten …
Wobei ich diese Internetkommentare nicht als ehrliche Auseinandersetzung bezeichnen würde. Da geht es nur um Gestänker. Wenn man den Fehler macht, nachzubohren, erkennt man schnell, dass da keine fundierte Meinung dahintersteckt, sondern nur die Suche nach Konfrontation – das hat keinerlei Gehalt und Mehrwert.

Es frustriert mich schon, wenn ich ein Foto von Meryl Streep und mir in den sozialen Netzwerken poste und dann jemand drunter schreibt „Angeber!“ Das allein bringt mich schon aus dem Konzept.
Lars Eidinger
Wie gehen Sie also mit der Internet-Pöbelkultur um?
Ich versuche, es so gut wie mir möglich zu ignorieren. Wenn irgendwo ein Interview von mir steht, widerstehe ich dem Drang, die Leiste runter zu scrollen und mir die Kommentare durchzulesen, weil ich aus Erfahrung weiß, dass da zumeist nichts von Belang bei rumkommt. Und dennoch kann ich mich nicht dem Ärger entziehen, den diese Kommentare verursachen – deswegen lieber gar nicht erst hinschauen. Es frustriert mich schon, wenn ich ein Foto von Meryl Streep und mir in den sozialen Netzwerken poste und dann jemand drunter schreibt „Angeber!“ Das allein bringt mich schon aus dem Konzept. Natürlich freue ich mich, wenn ich jemandem wie Streep begegne und ein gemeinsames Foto ergattere, und wenn ich das öffentlich teile, rechne ich auch mit Bestätigung oder Bewunderung. „Angeber“ ist aber so ein negativer, neidbehafteter Begriff – solche Negativität muss man lernen, zu ignorieren. Denn sonst bleibt nur die Option, sich ganz zurückzuziehen und gar nichts von sich preiszugeben – aber das steht im Widerspruch zu meinem Beruf, der von mir verlangt, mich der Öffentlichkeit zur Disposition zu stellen.

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Wenn ich auf den Netzwerken poste, dass ich einen Auftritt habe, dann bilde ich mir ein, dass danach mehr Leute kommen. Aber mein Essen fotografieren und die Bilder dann hochladen, oder schreiben, dass ich heute Bauchschmerzen habe oder zum Zahnarzt gehe – so etwas schließe ich völlig aus.
Lars Eidinger
Wie man es macht, man macht’s falsch: Solche Fotos posten, bedeutet, anzugeben. Sowas nicht zu posten, bedeutet, sein Publikum auf Distanz zu halten – und als öffentliche Person hat man ja gefälligst sein Leben mit seinen Fans zu teilen …
Das würde ich wiederum nicht zwingend unterschreiben. Ich würde in den sozialen Netzwerken nie etwas für meine Fans machen – den Begriff „Fan“ finde ich schon grenzwertig. Wenn andere Künstler Posts schreiben, die anfangen mit: „Liebe Fans …“, dann schüttelt es mich schon. Ich sehe das als reine Werbeplattform, bei denen es darum geht, die Viralität zu nutzen. Wenn ich auf den Netzwerken poste, dass ich einen Auftritt habe, dann bilde ich mir ein, dass danach mehr Leute kommen. Aber mein Essen fotografieren und die Bilder dann hochladen, oder schreiben, dass ich heute Bauchschmerzen habe oder zum Zahnarzt gehe – so etwas schließe ich völlig aus. Darum stört mich auch so eine Beschimpfung wie „Angeber“, denn wertfrei betrachtet sind die sozialen Netze doch für nichts anderes da, als etwas anzugeben: Ich teile mit, wenn ich etwas gemacht habe, worauf ich stolz bin, oder etwas machen werde, worauf ich mich freue. Und das hat zum Zweck, mein Image aufzuwerten – wenn ich bei der Berlinale in der Jury sitze und darum Zeit mit Meryl Streep verbringe, dann halte ich diesen Moment fest, teile ihn im Netz und hoffe, dass Leute daher auf mich aufmerksam werden, ich ihr Interesse gewinne und sie danach eine Karte für meine Kinofilme oder Theaterstücke erwerben. Das ist doch ganz unverfänglich von mir.

Erfolgt das bei Ihnen aus eigenem Antrieb oder besteht dahingehend ein Druck seitens Agenturen, Produktionsfirmen, und so weiter ..?
Nein, ich mach das aus ganz freien Stücken. Das kam noch nie vor, dass bei mir in der Agentur über so etwas gesprochen wurde und ich würde mich auch dagegen wehren – von solchen Social-Media-Strategien halte ich nichts.

Wir können uns da vielleicht nicht hineinversetzen, aber viele Zuschauer haben Berührungsängste mit dem deutschen Film – abgesehen von Filmen wie denen, die Schweiger und Schweighöfer machen. Die haben es irgendwie geschafft, diese Mauer der Abneigung zu durchbrechen.
Lars Eidinger
Dass Sie nicht dringlich darum gebeten werden, auf den sozialen Plattformen ein bisschen Werbung zu machen, ist aber auch nicht gerade eine Selbstverständlichkeit, wie ich so höre …
Ja, ich höre auch regelmäßig davon, dass hie und da diese Strategie verfolgt wird. Letztlich belegt das, was ich eben meinte: Die Follower in den Netzwerken sind eine spekulative Masse, die mobilisiert werden soll. Nur, dass ich mehr davon halte, wenn dies freiwillig geschieht. Es gibt ja auch viele Kollegen, die ihre Seiten nicht selber betreiben … Das ist nicht so richtig meine Welt, ich halte mich da eher raus. Und ich hatte zum Glück nie die Situation, dass dies Einfluss auf eine Karriere hatte – mir ist es noch nie vorgekommen, dass ich mich für eine Rolle beworben habe, und es daraufhin hieß: „Sorry, du bist zwar ein toller Schauspieler, doch du hast zu wenig Follower auf Instagram.“

In Ihrer Vita stehen auch vereinzelte Genreproduktionen wie «Hell» – und da wir gerade beim Thema Popularität sind: Deutsches Genrekino erfreut sich nicht gerade der größten Beliebtheit. Wo rührt das Ihrer Einschätzung nach her?
Bei dem Film habe ich tatsächlich einige der Kommentare unter den Trailern gesehen – und da hieß es primär: „Bah, deutscher Film, dann noch in dem Genre!“ Wir können uns da vielleicht nicht hineinversetzen, aber viele Zuschauer haben Berührungsängste mit dem deutschen Film – abgesehen von Filmen wie denen, die Schweiger und Schweighöfer machen. Die haben es irgendwie geschafft, diese Mauer der Abneigung zu durchbrechen – ansonsten werden viele Leute jeden US-Film einem deutschen vorziehen.

Ich kann mit einem Film wie «Alle anderen» keine drei Millionen Menschen ins Kino locken, so viele spricht der einfach nicht an. Das spricht jedoch nicht gegen den Film, gegen das deutsche Kino oder den Markt. Das spricht höchstens gegen die Leute da draußen.
Lars Eidinger
Wie kann man in der Sache dagegen steuern?
Wer sagt denn, dass wir das müssen? Mich stört das nicht. Ich find’s gut, wie es ist. Ich bin am Theater ganz andere Größenordnungen gewohnt – da sitzen im «Richard» 270 Leute am Abend und 500 Leute im größeren Saal bei «Hamlet». Und ich gehe schon damit d’accord, was stören mich da Kinobesucherzahlen, die zwar nicht mit der Hollywood-Ware mithalten können, aber dennoch viel größer sind als beim Theater? Generell finde ich, dass die Quantität beim Publikum eine untergeordnete Bedeutung hat. Ich brauche nicht die große Masse – die interessiert mich nicht. Die Leute, die eine gewisse Zeitung lesen, die hier nicht genannt werden muss, und sie damit zur auflagenstärksten dieses Landes machen – das sind nicht die Menschen, für die ich Kunst mache. Mein Publikum ist ein kleinerer, elitärerer Kreis, und das ist für mich völlig in Ordnung. Ich bin ja kein Missionar, ich möchte die Leute nicht zu besseren Menschen machen. Die Leute dürfen so bleiben, wie sie sind. Und die einen machen halt ihr Ding, und mit den anderen setze ich mich auseinander. So funktioniert das halt.

Ich kann mit einem Film wie «Alle anderen» keine drei Millionen Menschen ins Kino locken, so viele spricht der einfach nicht an. Das spricht jedoch nicht gegen den Film, gegen das deutsche Kino oder den Markt. Das spricht höchstens gegen die Leute da draußen. Wenn ich am Ring in Wien bin, und da ist ein schönes Kaffeehaus, und es ist leer, und das McCafé nebenan platzt aus allen Nähten, was kann ich schon dagegen tun, außer zu erkennen, dass die Leute zu dumm sind, den Kaffee im Kaffeehaus zu probieren, der dasselbe kostet, aber tausendmal besser ist? So funktioniert es auch im Kino oder in der Politik. Wenn die Leute meinen, dem Clown ihr Geld hinzuschmeißen, die AfD zu wählen oder Donald Trump, dann sollen die das machen. Ich kann die nicht missionieren, ich kann sie nicht belehren – aber im Idealfall kriegen die Leute das, was sie wollen, sehen dann, was sie davon haben und mich geht das nicht weiter was an.

Ich bin da fatalistisch aufgestellt, ich habe erkannt, dass die meisten Menschen unverbesserlich dumm sind. Wenn Kunst Gesellschaft verändern könnte, dann hätte ein William Shakespeare oder ein Bertolt Brecht das vollbracht. Stattdessen arbeiten wir uns seit Jahrhunderten an den immer gleichen Konflikten ab.
Lars Eidinger
Teilweise würde ich da zustimmen – jedem das, was er will und wovon er glaubt, dass es ihn glücklich macht. Wenn die Mehrheit schlechten Kaffee kauft, wen juckt’s. Aber: Wenn eine laute, dumme Masse ohne nachzudenken ins Verderben rennt, gibt’s trotzdem Situationen, wo man sie belehren sollte, oder? Wenn etwa die pöbelnde Meute die Regierung stellt, geht’s eben doch uns alle etwas an …
Machen wir uns nichts vor, die regiert eh schon. Das hatten wir mit «Terror – Ihr Urteil» ja schon: Da wurde der Zuschauer befragt, und wie vorab von Journalisten befürchtet wurde, hat sich die dem Grundgesetz widersprechende, verfassungswidrige Entscheidung durchgesetzt – dass es in Ordnung ist, das Flugzeug abzuschießen. Aber mehr als ein derart komplexes Thema transparent zu machen und den Zuschauer an der Entscheidungsfindung zu beteiligen, kann man doch nicht machen. Ich bin da fatalistisch aufgestellt, ich habe erkannt, dass die meisten Menschen unverbesserlich dumm sind. Wenn Kunst Gesellschaft verändern könnte, dann hätte ein William Shakespeare oder ein Bertolt Brecht das vollbracht. Stattdessen arbeiten wir uns seit Jahrhunderten an den immer gleichen Konflikten ab und ich habe nicht die Hoffnung, dass diese Stoffe in den nächsten hundert Jahren an Relevanz verlieren werden.

Herzlichen Dank für diese spannende Unterhaltung.

«Familienfest» ist am 28. November ab 20.15 Uhr im ZDF zu sehen sowie bereits auf DVD erhältlich.
27.11.2016 05:34 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/89615