Folge 325: Mit «Glücksrad», «Ruck Zuck» & Co. lässt RTLplus gerade das Fernsehen der 90er Jahre wieder aufleben. Das ist nicht nur nett und harmlos, sondern befeuert gefährliche Entwicklungen.
Liebe Fernsehgemeinde,
gewöhnlich widme ich mich im Fernsehfriedhof denjenigen Formaten, die tief unter den vermoderten Grabsteinen der Fernsehunterhaltung längst vergessen wurden. Dabei habe ich oft versucht, die alten Konzepte aus einer heutigen Perspektive zu bewerten und einzuordnen, um entweder die Absurdität einstiger Selbstverständlichkeiten oder die erschütternde Beständigkeit mancher Moralvorstellungen und Rollenbilder aufzuzeigen. Es ging mir also meist darum, nicht bloß alte Erinnerungen hervorzuholen, sondern diese kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls als vergangene, überholte und nicht mehr zeitgemäße Ansätze zu klassifizieren. Dies funktioniert deswegen, weil sich unsere Gesellschaft in vielen Punkten weiter entwickelt hat und mit bestimmten Themen offener, toleranter, aber auch sensibler umgeht.
Einen anderen Weg schlägt die RTL-Gruppe ein, die mit Reihen wie «Die ultimative Chartshow», «Duell der Jahrzehnte», «I Like the 90s» oder «Formel Eins» Momente der Vergangenheit allein für ihren Selbstzweck in meist heiterer, völlig unkritischer Weise aufwärmt und in ein wohliges „Wisst Ihr noch damals...?“-Gefühl einmummelt. Seit einigen Monaten erhält dieses Rückschauprinzip mit dem Sender RTLplus eine weitere Steigerung, wo ausschließlich frühere Serien und Programmideen exhumiert werden. Hier sind insbesondere die neuproduzierten Ausgaben der Gameshows «Jeopardy!», «Familienduell», «Ruck Zuck» und «Glücksrad» zu nennen, die den täglichen Feierabend mit der behaglichen Nostalgie der 90er-Jahre erwärmen sollen und sich derart streng an ihren Vorlagen orientieren, dass zwischen altem Original und Neuauflage kaum ein Unterschied zu erkennen ist. Als hätte es die vergangenen 20 Jahre nie gegeben.
Sicher, die Farben sind nun etwas pastellartiger, die Moderator*innen jünger, Preisgelder werden nicht mehr in D-Mark ausgezahlt und beim «Glücksrad» ist nur noch das „A“ anstelle des „A wie Anton“ käuflich. Davon abgesehen bleibt alles gleich. Beim «Familienduell» grunzen dieselben Schweine, bei «Jeopardy» blinkt derselbe 80er-Schriftzug im Hintergrund und «Ruck Zuck» verwendet dieselben Grafiken wie vor 20 Jahren. Alles wirkt lediglich etwas kleiner und harmloser. Es scheint, als würde sich RTL selbst in eine Zeit zurückversetzen wollen, in der sich die Anzahl der konkurrierenden Kanäle noch im unteren zweistelligen Bereich bewegte und das Unternehmen ein stetiges Wachstum bei Zuschauendenzahlen und Umsätzen bejubeln konnte.
Die gute alte Zeit...
Als „Retro-Shows“ oder „Wohlfühl-Fernsehen“ wird dieser Trend in der Presse oft liebevoll verniedlicht. Doch darin zeigt sich mehr als das schlichte Bedürfnis, behagliche Kinder- oder Jugenderinnerungen wiederaufleben zu lassen. In ihm spiegelt sich eine gesellschaftliche Sehnsucht nach vergangenen (vermeintlich besseren) Zeiten wider. Eine Sehnsucht nach einer Zeit vor dem Pluralismus, vor der Globalisierung und den mit ihr zusammenhängenden Problemen. Eine Sehnsucht nach einer Zeit mit einem klar definierten Rollenverständnis, nach einer Zeit mit einer überschaubaren Anzahl an zulässigen familiären Konstellationen und nach einer Zeit, in der man noch sagen durfte, was man denkt. Eine Sehnsucht nach einer Zeit, als die Welt zumindest noch einfacher und überschaubarer wirkte.
Ob in Deutschland, Frankreich, Österreich, Großbritannien, Ungarn oder in den USA, überall verbreitet sich derzeit eine bemerkenswerte (um nicht zu sagen bedrohliche) Rückwärtsgewandtheit unter einem Großteil der Bevölkerung. Getrieben von einer Angst vor allzu großen Veränderungen versuchen diese Menschen, auf aktuelle Herausforderungen mit überholten Lebensmodellen und vergangenen (Wert-)Vorstellungen zu antworten und rufen nach einer Gesellschaftsordnung die wir bereits hinter uns gelassen glaubten. Egal ob dies als Abkehr vom „links-rot-grün-versifften 68er-Deutschland“ bezeichnet oder unter dem Slogan „Make America Great Again“ propagiert wird, stets verbirgt sich dahinter die Forderung, die zivilisatorischen Errungenschaften und sozialen Weiterentwicklungen der vergangenen Jahre rückgängig zu machen, um sich in der guten, alten Zeit niederlassen zu können, in der Hoffnung, dass mit solch einfachen Lösungen all die komplexen Probleme wie von Zauberhand verschwinden. Jene weltweit um sich greifende Sehnsucht nach der Vergangenheit und die daraus resultierende Ablehnung von Modernisierungsprozessen ist es, die gerade politische Kräfte erstarken lässt, die längst als überwunden galten.
Und genau zu der Zeit, in der ein solches politisches Klima aufzieht, ruft die RTL-Gruppe einen Kanal ins Leben, der nichts außer alten Formaten zeigt und auf diese Weise eine kleine, perfekte, reaktionäre Welt anbietet, in der Veränderungen Hausverbot haben und Weiterentwicklungen draußen bleiben müssen. Praktischerweise trägt dieser Sender sogar den Namen von damals. Frei nach dem Motto: Lasst uns all diesen Menschen, die eher rückwärts als vorwärts denken im Fernsehen eine (altbekannte) Heimat bieten. Lasst uns ein Fernsehen veranstalten, das die Entwicklungen der letzten 20 Jahre völlig negiert. Lasst uns die Zeit aufleben, in der männliche Moderatoren ihre jungen, meist wortlosen Assistentinnen noch umherscheuchen durften, in denen Kandidat*innen mit Migrationshintergrund noch als exotisch galten und als ethnische und sexuelle Minderheiten höchstens als Paradiesvögel im Programm auftauchen durften.
Hier ist die Welt noch in Ordnung...
Unter dem Dach von RTLplus darf diese gute alte Zeit jetzt endlich wieder existieren. Dort darf im «Glücksrad» die blonde Assistentin Isabel Edvardsson nur sprechen, wenn sie vorher vom männlichen Gastgeber Jan Hahn dazu aufgefordert wird. Dort darf sie dann mit ihren kurzen Sätzen höchstens weibliche Klischees bedienen. Dort hat sie brav zu lächeln, wenn sie regelmäßig mit zweideutigen Sprüchen belegt wird. Und dort wird ihre Funktion als „Buchstaben-Fee“ durch die Verwendung einer animierten LED-Wand derart sinnlos, dass sich ihr Engagement letztlich darauf beschränkt, einen optischen Reiz zu liefern. Das immerhin bemerkt selbst Jan Hahn, etwa wenn er Sätze fallen lässt wie: „Man kann sich heute gar nicht auf das Rätsel konzentrieren, wenn Du daneben stehst.“
Dort lässt sich aber auch Oliver Geissen von männlichen Mitspielern dafür danken, dass denen als Kontrahentinnen ein Team aus blonden, jungen Frauen und damit eine ansprechende Aussicht gegenüber gestellt wird. Dort lacht man noch beherzt darüber, wenn als Synonym für „Hupe“ das Wort „Titten“ fällt. An diesem antiquierten Bild kann auch die Tatsache nichts ändern, dass mit Inka Bause endlich eine Frau zur ehemals rein männlichen Moderatoren-Riege hinzu gestoßen ist, weil das Geschlechter-Verhältnis mit einem Wert von 1:3 weiterhin deutlich unausgeglichen bleibt.
Demnächst kommt mit «Tutti Frutti» (diesmal bei RTLNitro) ein weiterer Vertreter hinzu, der ebenfalls aus den 90ern stammt und in vergleichbarer Art reaktiviert wird. Dann werden Frauen wieder als Früchtchen bezeichnet, auf deren nackten Brüsten die gewonnenen Punktezahlen kleben. Das ist Fernsehen aus einer Zeit vor Gender-Sternchen, vor „Nein heißt Nein“ und vor dem „Hashtag Aufschrei“.
Die Verwerflichkeit dieser Sendungen besteht vor allem darin, dass all dieser reaktionäre Muff mit einer netten, parfümierten, fliederfarbenen Wolke vernebelt wird. Auf den ersten Blick erscheinen sie durch ihr braves Aussehen als modern und offen - wahrscheinlich halten sich sogar alle Beteiligten selbst für tolerant und progressiv – doch es ist die unter dieser Oberfläche transportierte Botschaft, die ich für bedenklich halte. Eine Botschaft, die von den Verantwortlichen vielleicht nicht einmal bewusst vermittelt wird, dennoch vor sich hin schwelt.
Dafür ist entscheidend, dass die abgelegten Konzepte nicht einfach in Form von alten Ausgaben wiederholt, sondern neu inszeniert werden. Bei der schlichten Wiederholung von Folgen aus den 90ern bliebe ein zeitlicher Abstand sichtbar, sodass zugleich eine inhaltliche Distanz automatisch indiziert wäre. Reinszeniere ich diese Formate allerdings ohne sie grundlegend inhaltlich zu modernisieren, legitimiere ich die rückständigen Rollenbilder und bestätige die Gültigkeit der eigentlich gestrigen Werte.
Vorwärts nimmer, rückwärts immer!
Das soll nicht heißen, dass jede Person, die gern das «Glücksrad» schaut, direkt zum Reaktionär oder zur gesellschaftlichen Bedrohung wird. Ich möchte RTL ebenso wenig unterstellen, dass sie solche Kräfte bewusst unterstützen. Vielmehr geht es darum, sich bewusst zu sein, dass sich diese Elemente in die derzeitige weltweilte, politische Stimmungslage harmonisch einfügen und sie (ob absichtlich oder unabsichtlich) befeuern.
Es ist nie ratsam, es sich zu bequem in der (eigenen) Vergangenheit zu machen, weil diese in der Regel romantisch verklärt und bloß trügerisch harmonisch ist. Das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, der technische und zivilisatorische Fortschritt nicht aufhalten und die Globalisierung und ihre Auswirkungen nicht ungeschehen machen. Die Lösung für diese Probleme kann daher nicht sein, sich eine Gesellschaft und ein Fernsehen wie vor 20 Jahren zu wünschen. Dieser Ansatz führt dazu, die Augen vor den Bereicherungen und Chancen zu verschließen, die ein Blick nach vorn liefern kann.
Eine Bevölkerung, die mehr nach hinten als nach vorn schaut und auch hauptsächlich von einem solchen Fernsehprogramm unterhalten wird, schlägt einen unheilvollen Weg ein, denn damit geht meist der Wunsch einher, diesen früheren Status um jeden Preis erhalten und Veränderungen feindlich bekämpfen zu wollen. Es ist in Donald Trumps Wahlspruch „Make America Great Again“ das Wort „Again“, das brandgefährlich ist und unsere moderne, vielfältige, liberale und demokratische Gesellschaft bedroht.
Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am Donnerstag, den 15. Dezember 2016.