Retro-Quizshows, neu aufgelegte Fernsehserien, Filmklassiker, die für das TV adaptiert werden. Was reizt Fernsehmacher und Zuschauer an der Flucht in die Vergangenheit?
Scheinbar wünschen sich viele von uns eine Zeit zurück, in der alles einfacher schien, in der wir nicht alle zwei Sekunden von einer neuen furchterregenden Meldung aus dem Internet bombardiert wurden. Eine Zeit, in der es sichere Arbeitsplätze gab und in der die Nachrichten einmal in der Morgenzeitung und einmal abends in der Tagesschau halbwegs verdaulich in unsere tägliche Informationsdiät eingebaut wurden. Ein aktuell gewählter US-Präsident hat einen großen Teil seiner Wahlkampf-Plattform auf dieses nostalgische Schwelgen ausgerichtet – und Nein, er hat natürlich nicht nur deswegen gewonnen ... lassen wir das am Besten.
Es scheint aber in der menschlichen Natur zu liegen, sich in eine Zeit zurück zu wünschen, in der alles einfacher war. Was wiederum wahrscheinlich nicht der Fall war, man wusste vielleicht einfach nur weniger von der Welt. Wer eine solche Zeit wieder zurück holen möchte, möchte vor allem ein fiktionales Zeitalter wieder aufleben lassen, in dem alles einer gemütlichen Struktur gehorchte. Aber gelegentlich kann es auch einfach ganz schön sein, wenn man sich an schöne Zeiten erinnert, ohne dass man sich der puren Selbsttäuschung hingibt. Denn die Gegenwart hat immer die Tendenz, ein bisschen erdrückender und deprimierender zu sein.
Neben dem Kino, das aktuell einen gewissen Sternenkrieg wieder aufleben lässt, wäre welches Medium besser für diese Zeitreise geeignet als das Fernsehen? Die Frage bleibt allerdings: Kann das heute überhaupt noch klappen? Nicht weil wir alle schlauer geworden sind (sind wir nicht) oder zynischer als jemals zuvor (sind wir auch nicht wirklich), sondern weil alles, was um die TV-Landschaft herumschwirrt - das Internet und die Kritiker - fast schon ein Eigenleben entwickelt hat und gerne jedes Erzeugnis vermöbelt, das nicht den eigenen Ansprüchen genügt. Quotenmeter-Redakteur Christian Richter hat sich schon die
Retro-Quizshows vorgeknöpft, aber vielleicht ist tatsächlich noch mehr in dieser fiktionalen Vergangenheit zu finden als pure Nostalgie-Besoffenheit.
Per Netflix-Stream in die Vergangenheit
Kaum ein anderer Streaming-Service ist besser dafür geeignet als Netflix. Dies soll nicht notwendigerweise plumpe Werbung für den erfolgreichen Medienkonzern sein, aber langsam finden sich hier immer mehr Serienlieblinge zusammen: von «Star Trek» über «Gilmore Girls» bis hin zu «Full House». Das bringt uns zur sogenannten Reunion- oder Revival-Show. Während Fans noch verzweifelt auf eine solche für die Comedy «Friends» warten - übrigens mittlerweile auch Teil der deutschen Netflix-Familie - hat es einen äußerst unwahrscheinlichen Kandidaten erwischt: «Full House» mit dem simplen, aber naheliegenden Titel «Fuller House».
«Fuller House» ist für den Kritiker (und wahrscheinlich auch für den ein oder anderen Zuschauer) ein Albtraum. Zumindest in der ersten Episode des Revivals treten Bob Saget, John Stamos und Dave Coulier’s als Danny Tanner und Onkel Jesse, Joey plus die Tanner-Kinder, die mittlerweile selbst Kinder haben, nacheinander auf. Sie berichten einer nach dem anderen die eigene Hintergrundgeschichte. In einer furchtbaren Eröffnungsszene werden Anspielungen auf die alte Serie gemacht und auf fast enervierende Weise Richtung Kamera gezwinkert. «Fuller House» versucht zu vermitteln, dass sich die Zeiten ändern, bleibt aber gewaltsam in den 90ern haften. Und die einzigen, die scheinbar wirklich entkommen konnten, sind die Olsen-Zwillinge.
Piranhas stürzen sich auf die «Gilmore Girls»
Den «Gilmore Girls» widerfuhr ein ganz anderes Schicksal: Die Dramödie erfreute sich seit ihre Erstausstrahlung im Jahr 2000 immer größerer Beliebtheit und das schlagfertige Mutter-Tochter-Duo witzelte sich durch ein schnuckeliges Heile-Welt-Szenario. Das ist nicht unbedingt als Kritik gedacht, denn die Serie hatte dabei einen unwiderstehlichen Charme und wunderbare Figuren. Doch «Gilmore Girls» war immer eine Serie über Menschen mit einem gewissen privilegierten sozialen und ökonomischen Status. Kaum waren die neuen Episoden bei Netflix angekommen, sprossen schon die ersten Artikel aus dem Boden, die so wichtige Themen behandelten wie: Warum Rory Gilmore immer noch die Schlimmste ist. Warum der Journalismus in «Gilmore Girls» falsch repräsentiert wird. Es gab sogar einen Artikel darüber, wie sich Rory Gilmore ihre teuren Ausflüge nach England leisten kann, um dort unbezahlt für ein Buch zu recherchieren.
Die armen Girls wussten wahrscheinlich nicht, wie ihnen geschah. Denn seit 2000 hat sich viel in der Fernsehwelt verändert und mit Kritiken, die jede einzelne Serien-Episode auseinandernehmen (in sogenannten Recaps) und Journalisten, die jeden sozio-ökonomischen Aspekt einer Serienstaffel analysieren, hat sich eine weitere Industrie um die TV-Industrie herum gebildet, die ebenso hungrig nach neuem, oder in diesem Fall altem, Content ist wie TV-Produzenten selbst. Die neue Staffel der «Gilmore Girls» wurde bis auf die Knochen abgenagt und diese Knochen konnte man anschließend nur noch katalogisieren. Ob diese Art von Konsum letztendlich so viel Spaß macht, ist allerdings eine andere Frage.
Die Frage bleibt: Können solche Reunion-Shows tatsächlich noch funktionieren und überleben? Sind wir vielleicht aus unserer TV-Adoleszenz rausgewachsen mit unserer Schwarm-Intelligenz, die sich sofort und fast schon zynisch auf jedes noch so kleine Logikloch stürzt. «Akte X» hat das Ganze gerade noch so überstanden und eine Fortsetzung ist zumindest für den Moment nicht auszuschließen. «24» und «Prison Break» sollen noch folgen. Fest steht nur: Serien, die versuchen modern zu sein, aber dennoch nostalgisch in alten Zeiten zu schwelgen, nur um sich gerade damit wieder selbst ein Bein zu stellen, sind ein fast schon paradoxes, wenn auch interessantes Gebilde. Gerade in der heutigen hyperkommunikativen Zeit.
Aus Film mach Serie
Ein weiteres Phänomen am Nostalgie-Firmament, das sich gebildet hat, sind Filme, die für das Fernsehen adaptiert werden. Während Serien von geliebten Actionklassikern wie «Lethal Weapon» oder zumindest beliebten Actionklamotten wie «Rush Hour» fast unbemerkt in der Serienwelt dahin siechen, aber zumindest von der Internetkonversation verschont werden, ist aus der Serienadaption von «Westworld» noch einmal ein ganz eigenes Biest entwachsen. Zunächst einmal scheint es witzigerweise kugelsicher gegenüber jeglicher Art von Kritik zu sein: mal von der ein oder anderen Logikschwäche abgesehen, was die Funktionsweise des Parks angeht, kann so ziemlich jeder Kritikpunkt abgewehrt werden. Schwache, klischeehafte Figuren? Viele der Roboter sind so programmiert. Ebenso klischeehafte Storylines? Auch diese wurden so geschrieben, um auf einer Metaebene schwache und klischeehafte Storylines zu beschreiben.
Gleichzeitig ist die Serie über einen Westernpark, in dem empfindsame künstliche Intelligenzen immer und immer wieder missbraucht werden, perfekt für das heutige Internetzeitalter gestaltet. Die Adaption eines Science Fiction-Filmes von 1973 wurde zu einem Rätsel gemacht, das in noch drei andere Rätsel verpackt wurde, in dem darüber hinaus zwei Hütchen- und sechs Schachspiele stattfanden (ganz hyperbolisch beschrieben). Hier entwickelte die Internetschwarmintelligenz auf Reddit und in vielen anderen themenspezifischen Foren Theorien über verschiedene Zeitlinien, Plotpoints, über die Figuren selbst und wer oder was sie womöglich darstellen könnten und vieles mehr. «Westworld» ist bei weitem keine perfekte Serie, aber die perfekte Serie für das Internet-Zeitalter.
Die Charaktere und Motivationen werden nämlich auf frustrierende Weise vage gehalten, so dass sich das Internet wunderbar daran abarbeiten konnte und so lange jede Theorie durchgespielt hatte, bis sich eine oder mehrere davon als richtig erwiesen. Für Spoiler-Allergiker ist dies natürlich ein weiterer Albtraum. Aber auch diese können in die öffentliche Konversation mit einsteigen, um ihren Ärger Luft zu machen. Und natürlich hat auch der ein oder andere Journalist etwas dazu zu sagen: Essays, warum das Theoretisieren im Internet Serien kaputt macht, sind mittlerweile keine Seltenheit mehr. Der Spaß und die Frustration scheint nicht mehr Teil des Erlebens und des Sehens der Serie selbst zu sein, sondern hat sich vielmehr ins Internet und die anschließende Konversation und/oder Streitgespräch verlagert.
Eine alte, neue Hoffnung
Ein Serienhighlight dieses Jahres, das zudem noch äußerst beliebt bei Zuschauern und Kritikern zugleich war, stellt «Stranger Things» dar. Kein Remake, kein Reboot, keine Reunion-Show, sondern eine relativ neue Idee, die aber mit alten und bekannten Attitüden spielt. Dafür nutzt sie als zeitliches Setting zunächst einmal die Achtziger-Jahre, das vor allem bei Kindern der Achtziger wohlige Gefühle auslösen sollte - viele davon können sich mittlerweile selbst einen Netflix-Account leisten und haben eigene Kinder. Darüber hinaus könnte auch der Plot einem Achtziger-Jahre-Abenteuer- oder -Science-Fiction-Film von Steven Spielberg und John Carpenter entnommen sein. Das Wichtigste aber ist: «Stranger Things» fängt ein Gefühl des Kindseins wieder ein, wo jeder Tag ein Abenteuer ist und kompromisslose Freundschaft auch durch lebensbedrohliche Situationen nicht kompromittiert werden kann.
Die Duffer Brothers, die Erfinder der Serie, haben damit eigentlich das ultimative Nostalgie- und Retro-Fernsehen erschaffen. Eines, das sich nicht qualvoll bemüht, einst heißgeliebte Serienzombies wieder auferstehen zu lassen, nur um diese am modernen Zeitalter scheitern zu lassen. So gesehen, kann nostalgisches Fernsehen durchaus noch eine Rolle spielen, wenn es sich vom Fanservice frei macht, etwas Neues in der Vergangenheit findet und frische 80er, 90er oder 00er Jahre- Luft durch den Elektrosmog im heutigen Wohnzimmer pustet.