Die Kino-Kritiker: «Elle»

Für Filme wie Paul Verhoevens «Elle» wurde die Bezeichnung „fassungslos begeistert“ geprägt: Isabelle Huppert brilliert als Frau, die sich nach ihrer Vergewaltigung partout weigert, die Opferrolle anzunehmen.

Filmfacts «Elle»

  • Regie: Paul Verhoeven
  • Produktion: Saïd Ben Saïd, Michel Merkt
  • Drehbuch: David Birke; basierend auf dem Roman "Oh..." von Philippe Djian
  • Darsteller: Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny, Charles Berling, Virginie Efira, Judith Magre, Christian Berkel, Jonas Bloquet, Alice Isaaz, Vimala Pons, Arthur Mazet, Raphaël Lenglet, Lucas Prisor
  • Musik: Anne Dudley
  • Kamera: Stéphane Fontaine
  • Schnitt: Job ter Burg
  • FSK: ab 16 Jahren
  • Laufzeit: 130 Minuten
Elf Jahre nach «Black Book» kommt mit «Elle» endlich wieder ein neuer Film von Paul Verhoeven in die Lichtspielhäuser – und der in Amsterdam geborene Provokateur meldet sich in Topform zurück: Seine Adaption des französischen Romans «Oh...» ist eine wagemutige Kreuzung aus psychologischem Thriller, Vergewaltigungsdrama und boshafter, ultratrockener, rabenschwarzer Komödie. Zart besaitete, rasch empörte oder bei diesem Thema leicht zu schockierende Filmsüchtige sind daher gut beraten, einen gesunden Abstand zu «Elle» zu bewahren. Doch aus cineastischer Sicht hat Verhoevens Comeback allen nur erdenklichen Respekt verdient, denn diese zweifach mit dem Golden Globe prämierte Produktion ist nicht etwa eine nur dem Selbstzweck dienende, provozierende Plattitüde. Sondern ein ehrfürchtiges, ausdifferenziertes Psychogramm, das sich so repräsentiert, wie es seine Protagonistin zeichnet: Kultiviert, elegant, durchtrieben, mit schonungslos-trockenem Sinn für Humor und gehörigem Dickschädel.

Nach der Vergewaltigung erstmal genervt aufräumen!


Ein Eigenheim in einer gut situierten französischen Nachbarschaft. Scherbenklirren, das wütende, verängstigende Wimmern einer Frau, das animalische Stöhnen eines Mannes. Aus geringer, dennoch sicherer Distanz betrachtet die Kamera, wie der vermummte Mann seine Hose wieder anzieht und die unter ihm liegende Frau blutet und sich windet. Der Mann flüchtet in den gepflegten Garten. Die grauhaarige Katze der Frau schaut sich gelangweilt das Schauspiel an, während sich die Frau wieder zusammenrauft. Kurz danach sehen wir eben diese Frau, eine Geschäftsfrau namens Michèle (Isabelle Huppert), mit dezent genervtem Blick aufräumen, ein Bad nehmen und letztlich ihrem erwachsenen Sohn (Jonas Bloquet) gelangweilt dreinblickend das Abendessen servieren sowie eine Standpauke über seine schwangere Freundin (Alice Isaaz) geben.

So, als sei nichts geschehen, geht Michèle ihren gewohnten Gang und mault etwa die ihr unterstehenden Programmierer an, dass eine Vergewaltigungsszene in ihrem neuen Videospiel nicht genug durch Mark und Bein geht, oder führt routiniert die Affäre mit dem Gatten (Christian Berkel) ihrer besten Freundin (Anne Consigny) fort. Außerdem vertieft sie die Bekanntschaft zum Ehepaar, das ihr gegenüber lebt – der religiösen Rebecca (Virginie Efira) und dem freundlichen Patrick (Laurent Lafitte). Bei einem Abendessen, bei dem auch ihr Ex-Mann Richard (Charles Berling) anwesend ist, zu dem sie eine neckisch-freundschaftliche Beziehung aufrecht erhält, gesteht Michèle jedoch in einem beiläufigen Tonfall, dass sie neulich vergewaltigt wurde. Ihr Umfeld drängt die starrköpfige Frau, den Vorfall der Polizei zu melden und ihre berechtigte Verängstigung, Wut und Trauer zu zeigen. Doch Michèle will die emotionale Distanz zu diesem Vorfall bewahren und selber den Täter ausfindig machen …

Provokant, aber mit Stil


Das Rückgrat dieses Films ist zweifelsohne Isabelle Huppert: Mit eleganter Erhabenheit stackst sie unbeirrbar durch die Geschichte einer Frau, die über Dinge steht, von denen wir als Gesellschaft erwarten, dass sie eine Frau in ihren Grundfesten erschüttert. Jedoch ruht sich Huppert nicht auf der einfachen Option aus, Michèle als eiskalt und entrückt darzustellen – viel mehr verleiht sie dieser stoischen Frau durch subtiles, doch stark differenziertes Spiel eine komplexe Persönlichkeit. Dank ihres unerschütterlichen Humors, den Huppert mit perfektem Timing umsetzt, ist Michèle zugleich eine nahbare, sympathische Figur als auch eine, die es auf perplexe Reaktionen anlegt, ja, sogar bewusst zu schockieren versucht – wenn sie nicht gerade bei einer Scharade der schlecht bemühten Höflichkeit als Einzige mit sattem Grinsen die schockierend lustige Wahrheit ausspricht.

Verhoeven verankert dies in einer stilvollen Ästhetik mit gedämpften Farben, geschmackvoll eingerichteten Räumen und zumeist in gedämpftes Licht getauchten Bildern. Die ruhige, geradezu bequemliche Kameraführung Stéphane Fontaines steht im Gegensatz zur Unruhe, die sich im sozialen Umfeld der Protagonistin breit macht. So wird, verquickt durch den galant vermittelten, intelligent sprühenden Witz Michèles, aus einem potentiellem Exploitationreißer ein cleveres, trotzdem schockierendes Programmkino-Highlight.

Dass sich Verhoeven den Vorwurf anhören muss, das Verbrechen Vergewaltigung zu verharmlosen, ist bei dieser sensiblen Angelegenheit wohl unvermeidlich, allerdings sehr kurz gedacht: Verhoeven bricht seine kühle Regieführung in mehreren Augenblicken, in denen die Tat gezeigt wird, die diese Handlung ins Rollen gebracht hat. Es sind stets Nerven zerfetzende, harsche Filmmomente, mit schepperndem, übersteuertem Sound und unglamourös in Szene gesetzter, drastischer Gewalt – diese Szenen als beschönigend zu bezeichnen, wäre weltfremd. Und da sich der Witz in «Elle» zu keinem Zeitpunkt daraus nährt, dass sich Verhoeven über Michèles besorgtes Umfeld erhebt, sondern viel mehr immer wieder daher, wie unerwartet locker das Opfer es nimmt, wird auch keinesfalls suggeriert, dass Vergewaltigung letztlich gar nicht so schlimm ist. Schließlich hat selbst Michèle ihre kurzen Phasen, in denen sie Nerven zeigt, und in denen die pechschwarze Komödie wieder zum Thriller wird – sie kommt nur darüber hinweg. Bewundernswert oder soziopathisch? Jeder darf selber entscheiden!

«Elle» ist somit als Film, der kompromisslos das eingangs gezeigte Verbrechen beäugt und der dennoch eine abgebrühte, clevere, unmöglich in die Opferrolle zu drängende, starke Frau verfolgt, ein faszinierendes, dreistes Paradoxon. Doch Verhoeven und Huppert machen diesen Widerspruch möglich, und krönen ihn mit einem wendungsreichen, tonal süffisanten, in der Umsetzung trocken-noblen Handlungsverlauf – dem werden längst nicht alle im Publikum gewachsen sein. Aber das ist nicht Verhoevens oder Hupperts Schuld. Wie «Elle» auf beeindruckend fiese Art vorführt: Jeder hat seine eigene Schmerzgrenze. Und manche wissen obendrein, subversiv mit ihrer Schmerzgrenze umzugehen.

Fazit: Spitzenkino mit Topperformance und ordentlich Mumm: «Elle» ist ein Film, der einen entweder sofort abschreckt, fassungslos hinterlässt oder begeistert – oder der fassungslos zu begeistern weiß.

«Elle» ist ab dem 16. Februar 2017 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
15.02.2017 14:38 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/91199