Ausgequatscht: Wo bleibt die Frische im Talkjahr 2017?

Merkel gegen Schulz, Raute gegen MEGA: Der Wahlkampf verspricht Spannung. Bei den Polit-Talkshows ist allerdings Langeweile eingekehrt; Neuerungen gibt es kaum. Ein Plädoyer für mehr Abwechslung.

Die großen Talkshows im Ersten und ZDF

  • «Anne Will»: seit 2007 (sonntags)
  • «Hart aber fair»: seit 2001 (ab 2009 im Ersten, montags)
  • «Maischberger»: seit 2002 (dienstags)
  • «maybrit illner»: seit 1999 (donnerstags)
Ausgerechnet RTL. Ausgerechnet der Privatsender sorgt für frischen Wind im angestaubten Genre der Polit-Talker. Im vergangenen Jahr testete man eine Neuauflage von «Der heiße Stuhl», einem Relikt aus den frühen 90er Jahren, der wilden experimentellen Zeit des Privatfernsehens. Damals wie heute das Konzept: Ein Gast vertritt eine provokante These und muss sich gegen vier andere Gesprächspartner verteidigen. In der neuen Pilotsendung nahm Thilo Sarrazin auf dem heißen Stuhl Platz und entfachte eine leidenschaftliche Diskussion um Flüchtlinge und Einwanderung.

Das Konzept mag man polemisch nennen oder oberflächlich – aber zumindest versucht sich die Sendung an einer neuen Art von Polit-Gesprächsrunde, die möglicherweise andere Menschen anspricht als die Talker im Ersten und im ZDF. Dort ist Ruhe eingekehrt nach dem Jauch’schen Sturm, der das Programmschema durcheinanderwirbelte und dem letztlich Reinhold Beckmanns Talk zum Opfer fiel. Aber auch «Günther Jauch» ist bereits Geschichte, den Sendeplatz nach dem «Tatort» hat wieder Anne Will eingenommen. Sie talkt seit 2007, noch dienstältere Vertreter sind Sandra Maischberger (seit 2002) und Frank Plasberg («Hart aber fair», von 2001 bis 2007 im WDR, danach Das Erste). ZDF-Talkerin Maybrit Illner ist sogar seit 1999 dabei. Damit ist jeder Polit-Talker bei den großen TV-Sendern seit mindestens zehn Jahren im Einsatz.

Grundsätzlich ist dies kein negatives Argument. Die langjährige Erfahrung merkt man Talkern an, sie bekommen Profilschärfe. Anne Will diskutiert mit ihren politischen Gesprächspartnern deutlich energischer und kritischer. Bei Frank Plasberg bemängeln die Zuschauer dagegen teils einen seichteren Umgangston im Vergleich zu früheren Zeiten im WDR. Dennoch sollten sich ARD und ZDF die Frage stellen, ob und wie sie auch jüngere, neue politikinteressierte Zuschauergruppen erreichen wollen.

"Ein Raab-Nachfolger bei den Polit-Talks ist nicht in Sicht"


Dafür gibt es keine bessere Zeit als jetzt: Information im Sinne der Aufklärung über politische Inhalte wird umso wichtiger, als Fake-News und Unwahrheiten ihren Weg durch das permanente Informations-Grundrauschen finden. Den etablierten Medien kommt also eine besondere Verantwortung zu. Weiterhin findet in diesem Herbst eine Bundestagswahl statt. Gerade in diesem Jahr wäre der Zeitpunkt also ideal, um neue Ideen auszuprobieren – und vor allem über die Wahl hinaus zu etablieren. Denn jetzt steigt das Interesse an politischen Themen, gerade auch deswegen, weil ein Lagerwahlkampf erwartet wird. Mit Martin Schulz hat die SPD ein Zeichen gesetzt gegen eine weitere große Koalition. Das Schlimmste für die politische Streitkultur wäre gewesen, wenn die Wähler nicht das Gefühl haben, dass sich die großen Parteien voneinander unterscheiden. Denn dies stärkt die politisch extremen Ränder. Mit Schulz als vermeintlich echter Alternative zu Angela Merkel ist die Chance auf einen spannenden Lagerwahlkampf (konservatives gegen progressives Milieu) gestiegen.

Ein neuer Polit-Talk mit frischen Gesichtern – beispielsweise jüngeren Gastgebern und auch Gästen – wäre also gerade jetzt wünschenswert. Dunja Hayali hat im letzten Sommer mit ihrem «DonnersTalk» beispielsweise Gespür für gute Gespräche bewiesen, auch wenn das Konzept nicht ausgereift schien. Als Polit- und Gesellschaftstalkerin wäre sie eine wortwörtlich spannende Alternative. Zur Story gehört aber auch, dass politische Meinungsbildung heute zunehmend außerhalb reiner Polit-Talks stattfindet, vielleicht weil die dortige Floskelei ermüden kann. Meinungsbildung gibt es heute auch bei Böhmermann, bei Oliver Welke («heute-show»), bei Satirikern («Die Anstalt», «Nuhr im Ersten») – und mit ZDF-Mann Markus Lanz. Problematisch ist bei Lanz, dass ausgewählten Politikern eine Plattform gegeben wird, auf der sie sich nicht mit politischen Gegnern streiten müssen – sondern höchstens mit Lanz und Gästen aus anderen Bereichen. Dies ist gleichzeitig aber auch ein Alleinstellungsmerkmal: Oftmals entwickeln sich Diskussionen so in eine andere Richtung als die bei üblichen Polit-Talks gewohnte.

Das Lanz-Problem ist allerdings universell; auch bei Böhmermann gibt es keine Streitkultur im eigentlichen Sinne. Die politischen Unterhaltungssendungen bestätigen damit eher vorgefestigte Meinungen als dass sie diese hinterfragen. Aber genau um einen solchen Diskurs sollte sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen bemühen. Stefan Raabs Polit-Talkshow «Absolute Mehrheit» bei der letzten Bundestagswahl war ein richtiger Schritt, um jüngere Zuschauer zur Streitkultur zu locken. Aber auch Raab ist Fernsehgeschichte. Und ein Nachfolger – sogar im Genre der Polit-Talkshow – leider nicht in Sicht. Hoffentlich ändert sich dies noch bis zum Wahlherbst 2017.
16.02.2017 12:24 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/91265