Diagnose: Qualitätsschizophrenie – Netflix und sein widersprüchlicher Selbstanspruch
Video-on-Demand-Gigant Netflix begeht ein riskantes Pokerspiel um die Gunst des Publikums: Das Unternehmen, das sich wegen Serien wie «Orange Is the New Black» und «Jessica Jones» liebend gern selber auf die Schulter klopft, pfeift anderswo auf sein strenges Qualitätsverständnis.
„
Es gibt eine romantisierte Vorstellung davon, Filme auf der Leinwand zu sehen. [...] Doch Leute entdecken Filme, die womöglich ihr Leben verändern, jederzeit und überall. Wir müssen uns von diesem romantischen Teil des Kinobesuchs verabschieden.
”
Netflix-Programmchef Ted Sarandos gegenüber 'Deadline Hollywood'
Qualitativer Anspruch und ein gehobenes Bild der eigenen Kundschaft sollten bei Netflix ganz oben an der Tagesordnung stehen – ließe sich zumindest naiv-idealistisch mutmaßen. Schließlich ist der Video-on-Demand-Riese nicht durch lieblos auf den Markt geworfenes Berieselungsfernsehen zu seiner heutigen Position gelangt. Obwohl Netflix bereits 1997 gegründet wurde, gewann das US-amerikanische Unternehmen auf dem globalen Parkett erst in den vergangenen Jahren massiv an Bedeutung. Und zwar auf den Schwingen solcher Eigenproduktionen wie «House of Cards», «Orange Is the New Black», «Bloodline» oder den Marvel-Serien «Daredevil» oder «Jessica Jones». Parallel zur Qualitätsoffensive im US-Bezahlfernsehen entwickelte sich Netflix mit komplex erzählten Formaten sukzessive zur anspruchsvolleren Alternative zum Network-Alltag. Dort mag es zwar einige lobenswerte Ausnahmen geben, gemeinhin wird dort die Konzentration des Publikums jedoch eher weniger gefordert.
Netflix-Programmchef Ted Sarandos geht mit der Kritikerresonanz, auf die der VoD-Anbieter dank seiner Eigenproduktionen erhält, nicht nur hausieren. Mit jedem neuen positiv besprochenen Format stolziert Sarandos immer pfauengleicher durch Branchenevents und beschwört Netflix mit zunehmenden Nachdruck als die Zukunft schlechthin für ambitioniert gemachte Filme und Serien herauf. Doch womöglich kommt Hochmut vor dem Fall – zumindest aber schließen sich Hochmut und Doppelzüngigkeit nicht aus.
Zurechtgestutzt für Ihr mobiles Vergnügen
Womöglich das Paradebeispiel schlechthin dafür, dass bei Netflix die Qualität des Contents nicht das alleinige Gebot darstellt, zeigen die jüngsten Pläne bezüglich der eigenproduzierten Serien und Filme. Zwar gehört Netflix zu den eifrigsten Verfechtern von 4K-Auflösung und High-Dynamic-Range-Produktionen, und somit technischer Vorreiter. Allerdings beugt sich das VoD-Unternehmen gleichermaßen dem "Entertainment to go"-Denken. So plant Netflix laut einer Ankündigung des Chief Product Officers Neil Hunt, von seinen Exklusivinhalten in den kommenden Jahren auch spezielle Fassungen für mobile Endgeräte anzufassen.
Oberflächlich mag dies zunächst kundenorientiert klingen – aber nur, wenn Kundenorientierung so verstanden wird, dass der Kunde immer König ist. Selbst wenn er einen Selbstbetrug ordert. Denn die Pläne für Mobile-Versionen der Netflix-Serien und -Filme umfassen neben der naheliegenden sowie vertretbaren Einarbeitung von größeren Untertiteln auch eine Neuabtastung der Bildmaster. Vor allem ein stärker aufgedrehter Helligkeitsfaktor sei dabei unerlässlich, darüber hinaus steht im Raum, dass die Bildausschnitte neu gewählt werden. Ältere Semester kennen dies als "Pan and Scan", ein Verfahren, das zu Zeiten der Kaufkassetten noch alltäglich war: Damit Kinoproduktionen den gesamten, quadratischen Fernsehbildschirm ausfüllen, wurde bei "Pan and Scan" stark ins Bild reingezoomt. Ahnungslose Konsumenten sollten denken, dass so ihr Endgerät voll ausgenutzt wird. Stattdessen gingen zahlreiche Bildinformationen verloren, da aus einem großen, für die Leinwand geschaffenen Bild ein kleineres TV-Bild geschnitten wurde – ein Affront für all jene, die die von den Filmschaffenden intendierte Fassung sehen wollen.
Die Mobilfassungen drohen, das "Pan and Scan"-Sakrileg zu wiederholen. Netflix-Serien werden mit modernen TV-Geräten im Hintersinn gedreht, vor allem die Marvel-Serien haben ihr komplexes Licht-und-Schatten-Spiel mit dynamischen Schwarztönen zu ihrem Markenzeichen erkoren. So etwas muss auf einem großen, stationären Gerät genossen werden. Wer unbedingt unterwegs gucken möchte, ist selber schuld – hat aber dennoch Anrecht darauf, das gesamte Serienbild zu sehen. Rangezoomte, vermeintlich optimierte Fassungen beschneiden den Sehgenuss mehr, als dass sie ihn fördern – selbst wenn sie ahnungslose Konsumenten im Glauben lassen, das vollständige Erlebnis zu genießen.
Lasset gegenüber Belanglosigkeit Gnade walten
Kleines Gedankenexperiment: Ein Film ist reines Mittelmaß. Welche Bewertung hat er auf einer Skala von eins bis fünf verdient? Eher zwei oder eher drei? Und was ist, wenn ein Film nun als Durchschnittsbewertung 2,5 Sterne aufweist? Ist das nun noch Mittelmaß, da es die Hälfte der bestmöglichen Benotung ist, oder ist es schon unterdurchschnittlich? Auf jeden Fall sieht es nicht besonders attraktiv aus, oder?
Nächstes Gedankenexperiment: Ein Film ist reines Mittelmaß. Daumen hoch oder Daumen runter? Oder besser gar nicht erst benoten? So oder so: Der Impuls, einen drakonischen Daumen nach unten zu vergeben, ist nicht besonders ausgeprägt. Es ist schwerer, einen Daumen runter als drei oder gar zwei Sterne zu geben. Ein Film oder eine Serie muss für den Todesdaumen schon als eindeutig schlecht empfunden werden. Daher wechselte ja auch YouTube vom Sterne-Modell zu den Däumchen – es sieht im Regelfall viel freundlicher aus und kaschiert relativ verlässlich Mittelmäßigkeit. Auch Dinge, die leicht überm Mittelmaß sind, bekommen da die Höchstwertung.
Netflix adaptiert genau diesen Gedankengang – laut Ankündigung des Unternehmens soll schon in naher Zukunft das angeblich kundenfreundlichere Daumenmodell das bislang genutzte Sternesystem ersetzen. Und so kann der Konzern, der die Schlagzahl seiner Eigenproduktionen in den vergangenen Monaten massiv nach oben getrieben und im Zuge dessen so manche Kritiker- und Fanschlappe erlitten hat, die "gefühlte Benotung" seiner Inhalte beschönigen. Selbst jemand wie Netflix-Mitgründer Reed Hastings, der nach eigenen Angaben das Medium Film "von seiner Kette lösen will", muss wohl irgendwie seine künstlerischen Fehltritte ans Publikum herantragen.
Die Vergangenheit muss zuweilen sehr wohl gewürdigt werden
„
Wie haben Kinoketten das Filmgeschäft in den letzten 30 Jahren denn schon verbessert? Naja, zugegeben: Das Popcorn schmeckt heute besser. Aber das war es auch schon.
”
Netflix-Mitbegründer Reed Hastings gegenüber 'Variety'
Und dennoch: In dem VoD-Dienst, der sich mit «Fuller House» und Adam-Sandler-Filmen allen Qualitätsversprechen zum Trotz sehr wohl dem Berieselungsprogramm geöffnet hat, schlummert sehr wohl ein cineastisches Herz. So macht sich Netflix auf, um endlich einen der großen, ungesehenen filmischen Schätze zu vollenden: «The Other Side of the Wind» von Orson Welles. Das ambitionierte Projekt, das Welles von 1970 bis 1976 beschäftigte und von dort an auf Vollendung wartete, hing nach Welles' Ableben trotz immensen Interesses zahlreicher Filmhistoriker aufgrund rechtlicher Verwicklungen in der Schwebe.
Kürzlich wurden diese aber geklärt und Netflix erwarb die weltweiten Rechte daran, das seinerzeit als Comebackversuch gedachte Projekt des «Citizen Kane»-Regisseurs unter Aufsicht der Hollywood-Legenden Frank Marshall und Peter Bogdanovich zu Ende zu führen, die eh schon eine Bindung zu dem Film haben. Dabei werden sie Notizen aus Welles' Nachlass berücksichtigen. So großkotzig es aus dem Hause Netflix gelegentlich schallt, dass wir als Film- und Fernsehkonsumenten auf Traditionen pfeifen sollten – ein bisschen hält man beim VoD-Unternehmen wohl doch die Nostalgie für die Medienvergangenheit aufrecht.