Fans des Medical Dramas blicken mittlerweile auf 13 Staffeln zurück – und noch immer bleibt kein Auge trocken. Wir nähern uns dem Reiz des Formats aus medienpsychologischer Sicht.
Zur Medienpsychologie
Die Medienpsychologie ist ein Zweig der Psychologie, der sich in der Forschung mit der Beschreibung, Erklärung und Prognose des Erlebens und Verhaltens, das mit Medien verknüpft ist, beschäftigt. Kern der Medienpsychologie als psychologische Teildisziplin, ist die Untersuchung des Handelns, des Denkens und des Fühlens im Zusammenhang mit der Nutzung von Medien.
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Seit mittlerweile zwölf Jahren schreibt «Grey’s Anatomy» eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Viele der im deutschen Beititel erwähnten „jungen Ärzte“ entwickelten sich im Laufe des Runs zu erfahrenen Medizinern, noch immer stehen aber vor allem deren Privatleben und die Beziehungen untereinander im Fokus. Für viele Medien gilt das Format längst als Phänomen: In den USA befindet sich «Grey’s Anatomy» nach 13 Staffeln noch immer unter den beliebtesten Formaten der jungen Zielgruppe und sendet auf ABC unbeirrt weiter. Auch hierzulande feiern neue Ausgaben der Shonda Rhimes-Serie noch immer Quotenerfolge am Mittwochabend – und das obwohl dieser Sendeplatz bei ProSieben zuletzt zur Todeszone avancierte, in der neue Formate durchgehend kränkelten.
Doch mit Krankheiten und Toden kennt sich das Medical Drama aus. Nicht nur aufgrund der Profession ihrer Protagonisten, sondern auch wegen der scheinbar ungemein niedrigen Sicherheit am Arbeitsplatz, die zu zahlreichen Serientoden der dargestellten Ärzte führen. Nicht umsonst zählten nur noch vier der 16 Darsteller in der vergangenen Staffel zwölf zum Original-Cast aus der ersten Staffel im Frühjahr 2005. Gepaart mit turbulenten Romanzen und viel Herzschmerz führen diese Komponenten zum obligatorischen Tränenverdrücken beim Schauen der Serie. Dass sich darin einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren der Serie findet, erklären populäre Theorien der Medienpsychologie, denen wir uns widmen, um die ungebrochene Beliebtheit von «Grey’s Anatomy» greifbar zu machen.
Tod und Herzschmerz auf Rezept
Auch Serienschöpferin Shonda Rhimes hat sich etwas bei der Konzeption ihrer Serie gedacht: Die ABC-Allzweckwaffe fand einst großen Gefallen an Chirurgie-Dokus am Discovery Channel, wie sie einmal gegenüber Oprah Winfrey verriet. Nicht aber aufgrund der medizinischen Eingriffe, sondern weil darin Doktoren ganz beiläufig während ihrer Operationen offen über ihr Privatleben plauderten. Als ABC auf Rhimes zukam und sich von ihr ein Medical Drama der etwas anderen Art wünschte, entschied sich Rhimes, nicht mit dem Trend des in den USA durchaus beliebten Genres zu gehen: Statt sehr komplexe, aber realistische Fälle wie in «Emergency Room», sollten die Ärzte und ihr Privatleben im Fokus stehen und Zeit erhalten, sich zu entfalten und eine Bindung zum Zuschauer entstehen zu lassen.
Mit vielen facettenreichen weiblichen Charakteren und vorrangig für eine weibliche Zielgruppe konzipiert, durfte außerdem eins nicht fehlen: Reichlich Romantik. Daher liegt man nicht ganz falsch, wenn man «Grey’s Anatomy» als Hochglanz-Soap im Mediziner-Umfeld beschreibt. Schließlich sterben auch in Seifenopern Charaktere überproportional häufig den Serientod – dieser Umgang der Arztserie mit seinen Charakteren entwickelte sich im Laufe der Zeit fast schon zum Markenzeichen von «Grey’s Anatomy». Ja, in diesem Medical Drama wird das Wort Drama zweifelsohne großgeschrieben und dies ist auch beabsichtigt. Die Romanzen und Tode lösen beim Publikum nämlich Gefühle aus, die rein intuitiv dem Sehvergnügen zwar erst einmal abträglich wirken, aber tatsächlich einen großen Anteil am Erfolg häufig sehr trauriger Filme und Serien wie «Grey’s Anatomy» haben sollen.
Das Sad film-Paradoxon, oder: Ein schönes Gefühl, traurig zu sein
Zum Nachschlagen:
- Sad film-Paradoxon: "Exploring the paradox of the enjoyment of sad films" (1993) von Mary Beth Oliver. Erschienen in: Human Communication Research 19(3), S. 315-342
- Attitude Interpretation-Ansatz: "The appeal of tragedy: An attitude interpretation" (1993) von Judson Mills. Erschienen in: Basic and Applied Social Psychology 14(3), S. 255-271
- Terror-Management-Theorie: "The appeal of tragedy: A terror management perspective" (1999) von Goldenberg & Kollegen. Erschienen in: Media Psychology 1, S. 313-329
Dass Zuschauer sich freiwillig, absichtlich und offensichtlich mit Vergnügen Inhalten aussetzen, die eigentlich als unangenehm eingestufte Gefühle, wie beispielsweise Trauer, Kummer oder Mitleid auslösen, bezeichnete die amerikanische Medienforscherin Mary Beth Oliver im Jahre 1993 als „Sad film-Paradoxon“. Wieso in aller Welt sollten Zuschauer etwa Gefallen an Filmen wie «Titanic» finden, in dem, Vorsicht Spoiler, zwei junge, unsterblich Verliebte und bildhübsche Personen am Ende durch den Tod entzweit werden. Paradox wirkt dies auch aufgrund anderer medienpsychologischer Theorien, die annehmen, dass Zuschauer durch Medienangebote ihre positive Stimmung fortsetzen oder negative Stimmung abwenden wollen (
vgl. «The Big Bang Theory» am Nachmittag – Warum schauen wir’s?)
Doch auch todtraurige Medieninhalte erfüllen nach Ansicht einiger Forscher eine Funktion - auch solche Inhalte, und das ist das entscheidende Merkmal eines „Sad film“, die über kein Happy End verfügen. Mit der Rezeption derartiger Filme oder Serien gehe eine Katharsis einher, „eine wohltuende, homöopathische Reinigung“ von negativen emotionalen Befindlichkeiten, wie es etwa Michael Kunczik beschrieb. Würden diese negativen Emotionen nicht ausgelebt, führte dies zur einer Verschlechterung der Gesundheit. Die Attraktivität resultiert also nach Vertretern dieser Theorie aus dem „reinigenden“ Potenzial negativer Emotionen.
Mary Beth Oliver, die das Sad film-Paradoxon begründete, greift auf eine weitere Erklärung zurück, um die Attraktivität von Taschentuch-Serien wie «Grey’s Anatomy» zu erklären. Für sie geben Meta-Emotionen den Ausschlag, die Gefühle in zwei Ebenen des emotionalen Erlebens unterteilen: Zum einen in direkte Emotionen als Reaktion auf situationsspezifische, emotionale Reize, wie beispielsweise traurige Szenen in «Grey’s Anatomy». Zum anderen in das „Meta-Erleben“, eine unbewusste oder bewusste Bewertung oder Interpretation des gerade erlebten direkten Gefühls. Beide Ebenen sind voneinander unabhängig, deshalb, so die Theorie, können auf der direkten Ebene wahrgenommene (negative) Gefühle von Trauer auf der Meta-Ebene als angenehm erlebt werden – entsprechend dem Gedankengang: „Es ist ein schönes Gefühl, traurig zu sein.“
Mensch, bin ich empathisch! Und sterblich…
Weitere Beiträge der Reihe: "Warum schauen wir's?"
Neben Oliver gibt auch Judson Mills mit seinem „Attitude Interpretation“-Ansatz aus dem Jahre 1993 eine Erklärung für den Reiz trauriger Inhalte. Mills geht wie Oliver von einer reflexiven Bewertung direkten Emotionserlebens aus, sieht deren Grundlage aber in Einstellungen der Zuschauer in Bezug auf die Angemessenheit, Normverträglichkeit und soziale Erwünschtheit von Gefühlen in spezifischen Situationen. Sprich: Wenn ein Zuschauer es grundsätzlich für richtig und gut hält, Mitleid mit anderen zu zeigen und mit ihnen zu trauern, bewertet diese Person derartige (negative) Gefühle auch als positiv. Mills zufolge bieten traurige Serien und Filme ihren Zuschauern daher die Möglichkeit, sich selbst als einfühlsamen und empathischen Menschen zu erleben, der die „richtigen“ Gefühle zeigt, wenn es darauf ankommt.
Kulturanthropologen um Goldenberg setzten das Sad film-Paradoxon 1999 in einen weiteren Kontext, als sie die „Terror-Management-Theorie“ formulierten. Die Sichtung trauriger Serien und Filme diene demnach als Strategie zur Vermeidung einer direkten Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Serien wie «Grey’s Anatomy», in der sich die Protagonisten häufig mit Toden im direkten Umfeld konfrontiert sehen, erlauben es nach der Theorie, sich stellvertretend und aus sicherer Distanz mit dem Thema Tod auseinanderzusetzen.
Während Studien zur kathartischen Funktion trauriger Inhalte und der Terror-Management-Theorie bislang keine überzeugenden Befunde hervorbrachten, bestätigten mehrere Studien die Annahme, dass traurige Filme häufiger genutzt oder bevorzugt werden, wenn die dabei erlebten Emotionen wie Trauer oder Mitleid als angenehm empfunden oder positiv beurteilt werden. Die Theorie der Meta-Emotionen wurde also bestätigt, zudem maß Mills einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Einstellung zum Mitgefühl mit Leidenden und der positiven Beurteilung tragischer Filme.
Tatsächlich entstehen bei der Sichtung von Produktionen wie «Grey’s Anatomy» also auch befriedigende Gefühle, die wohl mit der Empathiefähigkeit der Zuschauer zusammenhängen – und wohl auch mit dem Geschlecht. Eine Studie von Oliver aus dem Jahre 2000 zeigte, dass Frauen mehr positive Meta-Emotionen als Männer empfinden und daher traurige Filme insgesamt ansprechender finden. Wenn Männer «Grey’s Anatomy» als Frauenserie bezeichnen, darf der weibliche Teil der Bevölkerung also durchaus stolz sein und auf seine emotional ausgeprägtere Entwicklung verweisen.