Deutsche Serienkrise: War da was?

Vor Jahren bewunderten wir den US-Serienboom – und ärgerten uns darüber, dass aus Deutschland kaum gutes Serienfernsehen kam. Spätestens in diesem Jahr ist damit Schluss, dank «Charité», «You Are Wanted» und kommenden Produktionen. Die „neue deutsche Serie“ kommt.

Erinnern Sie sich noch an diese Namen? «Verschollen», «R.I.S. – Die Sprache der Toten», «Die Sitte», «Post Mortem», «GSG9», «Klinik am Alex».

Eine kurze Gedankenauffrischung: Diese Serien (und viele andere) stehen für Ideenarmut und Stillstand bei der deutschen Serie. Es waren Jahre ab Mitte der 2000er, die einen deutschen Flop nach dem nächsten hervorbrachten, bis die Sender selbst keine Lust mehr auf neue Stoffe hatten. Man könnte diese Jahre auch als die verlorenen Jahre bezeichnen. Denn als in den USA das Seriengenre durch die Decke ging und die TV-Landschaft nachhaltig veränderte, blieben Entwicklungen in Deutschland zum großen Teil aus. Irgendwann kam dann Sat.1 mit den neuen Publikumslieblingen «Danni Lowinski» und «Der letzte Bulle»; sie brachten Frische ins Genre. Bis zur endgültigen Renaissance der hochqualitativen deutschen Serie sollte es aber noch einige Zeit dauern – jetzt befinden wir uns mittendrin.

Spätestens seit 2013, als Netflix mit ersten Eigenproduktionen viel Lob und Kunden einheimste und auch Amazon in das Geschäft einstieg, mussten die deutschen Serienmacher reagieren. Und das taten sie hinter den Kulissen, wenn auch spät. Dass nur langsam in diesem Jahr die Früchte dieser Arbeit auf die Bildschirme kommen, liegt an mehreren Dingen. Es musste Infrastruktur geschaffen werden für hochqualitative Serienstoffe: Sender wollten überzeugt werden, große Budgets in die Hand zu nehmen, und prominente Namen wurden angeworben. Beispielsweise Moritz Bleibtreu, Matthias Schweighöfer und Tom Tykwer. Auch die Produktionsbedingungen hat man teilweise amerikanischen Verhältnissen angepasst, beispielsweise mit einem writing staff statt eines einzelnen Drehbuchautors. Den Begriff Showrunner vermissten wir in Deutschland ebenfalls oft – beim großen Projekt «Babylon Berlin» wird Tom Tykwer beispielsweise explizit als solcher genannt. Auch, damit die Produktion internationales Echo erfährt.

Ein zweiter Punkt ist entscheidend, wenn es um den Start der „neuen deutschen Serien“ in diesem Jahr geht: Der Konkurrenzkampf ist hoch, und das angesichts eines wachsenden Interesses am Genre. Dies lässt sich nicht nur ablesen an jüngeren Erfolgen wie «Charité» oder «Club der roten Bänder», sondern generell am anhaltenden Serienboom, auf dem Netflix mittlerweile sogar sein Geschäftsmodell aufbaut.

Noch nie so viele hochwertige deutsche Formate wie 2017


Exklusiver Seriencontent ist wichtig, und damit die klassischen Sendervertreter diese Zielgruppe nicht vollends an Streaming-Anbieter verlieren, sind sie selbst ins Geschäft eingestiegen: RTL, ARD, ZDF, Sky und VOX. Amazon und Netflix produzieren ihrerseits Serienstoffe aus deutschen Landen, das erste ist mit «You Are Wanted» erfolgreich angelaufen und wurde bereits verlängert. «Deutschland 86», der Nachfolger des RTL-Formats «Deutschland 83», wird ebenfalls 2018 dort laufen. Netflix stellt zwei deutsche Stoffe her, das gegen Ende des Jahres startende «Dark» sowie eine jüngst angekündigte Cop-Serie namens «Dogs of Berlin».

2017 ist das Jahr der „neuen deutschen Serie“. Denn noch nie starteten so viele vielversprechende und hochwertige Formate wie in diesem Jahr. Das angesprochene «You Are Wanted» beispielsweise, das angesichts der riesigen Erwartungen auch Kritik erntete, aber auf der Habenseite viel Positives verbuchen konnte: dichte Erzählweise, moderner Schnitt, starke Charakterisierung, Spannung. Und hohe Abrufzahlen. Auch die große ARD-Produktion «Charité» war in diesem Jahr mit durchschnittlich 7,5 Millionen Zuschauern ein voller Erfolg und gilt als erfolgreichste neue deutsche Serie seit vielen Jahren. Später im Jahr startet noch Netflix‘ «Dark», und im Oktober schließlich das Prestigeprojekt «Babylon Berlin», an dem seit Jahren gearbeitet wird. Es ist die teuerste deutsche Serienproduktion aller Zeiten, für Sky ist ihr Start das wichtigste Ereignis des Jahres, wie Sky-Deutschland-Chef Carsten Schmidt erklärte. In der ARD läuft das Format erst Ende 2018.

In ganz so großen Sphären wollen die anderen Sender nicht denken, und manche verschließen sich dem Trend nahezu komplett. Beispielsweise ProSieben und Sat.1, die eine ambivalente deutsche Serienvergangenheit haben. Besonders Sat.1, früher als der Sender für erfolgreiche moderne Krimiserien wie «Wolffs Revier» bekannt, traut sich nur wieder zaghaft ans Genre. Viele Flops haben sich in der Vergangenheit angehäuft, das Anfang des Jahres gezeigte «Einstein» mit Tom Beck gehörte nicht dazu. Eine zweite Staffel ist bestellt. Dennoch bleibt rätselhaft, warum der ehemalige Krimisender Sat.1 dieses Feld vor allem dem ZDF überlässt, das tagtäglich und am Samstagabend hohe Zuschauerzahlen mit der Programmfarbe einfährt. Dass der Erfolg nicht nur mit hochqualitativer und komplexer deutscher Serienkost kommen muss, zeigt auch RTL. Dort gab es gleich mehrere neue Sitcom-Eigenproduktionen, von denen «Magda macht das schon» zum vollen Erfolg wurde und Jochen Busses «Nicht tot zu kriegen» zumindest respektable Zahlen einfuhr.

Von einer deutschen Serienkrise kann im Jahr 2017 also nicht mehr die Rede sein, im Gegenteil. Die Zuschauer haben wieder Gefallen gefunden an heimischen Stoffen, weil diese genügend originell und ideenreich daherkommen. Vielleicht brauchte es eine Krisenzeit wie die vor einigen Jahren, damit die deutsche Serienproduktion den Reset-Knopf drücken konnte.
30.04.2017 11:26 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/92800