Netflix und Cannes: Keine Liebesgeschichte
Als das Netflix-Logo erschien, ertönten in Cannes die Buh-Rufe. Ein kulturchauvinistischer Reflex, aus dem vor allem die Angst spricht.
Als das Netflix-Logo erschien, hagelte es in Cannes die ersten Buh-Rufe. Und Jury-Präsident Pedro Almodóvar – wahrscheinlich einer der größten Regisseure, die Europa je hervorgebracht hat – machte keinen Hehl aus seiner Geringschätzung für den Streaming-Anbieter. Eine Palme d’Or für einen Film, der nicht im Kino lief, das sei für ihn unvorstellbar.
Eine solche Haltung speist sich wahrscheinlich aus zwei Elementen: einer irrationalen Nostalgie und einer Angst vor Veränderung. Das Kino, so zumindest eine weitgehend kollektive Vorstellung, ist seit etwa hundert Jahren ein mystischer Ort, an dem sich Fremde treffen, um für ein paar Stunden dasselbe zu erleben: Mittlerweile in Surround-Sound, HD, vielleicht gar 3D, aber im Prinzip doch immer noch einem uralten Ritual folgend. Doch das vermeintliche Ende des Kinos wird schon lange prognostiziert. Spätestens seit das Fernsehen die technische Möglichkeit zum dezentralen Konsum von Bewegtbildinhalten geschaffen hat.
Da ist das hässliche Wort: Konsum. Denn zumindest in Europa gilt das Axiom nahezu unumschränkt, dass Kunst und Konsum ausnahmslos (!) Gegensätze sein müssen, ganz ungeachtet von Wolfgang Liebeneiners genialer Beobachtung, dass gerade im wirtschaftspolitisch starken und von seiner eigenen Kulturgeschichte besoffenen Deutschland Filme wie Ware gemacht, aber wie Kunst verkauft werden, während sie im kulturlosen Amerika zwar wie Ware verkauft, aber eben wie Kunst gemacht werden. Sie stammt aus den fünfziger Jahren und ist heute wahrscheinlich noch gültiger als damals.
Zurück zum Fernsehen: Schon in Wim Wenders‘ «Chambre 666», in dem anlässlich der Filmfestspiele von Cannes 1982 einige der renommiertesten Regisseure der Welt von der Zukunft des Films philosophierten, war ihre Skepsis (wenn nicht gar Angst) vor dem Fernsehen ein Leitmotiv.
Was vor vierzig Jahren in Cannes das Fernsehen war, sind heute die Streaming-Anbieter, allen voran der populärste unter ihnen: Netflix. Als Gegenreaktion auf seinen – auch inhaltlichen – Erfolg setzen die bekannten Reaktionen ein, nur dass sich der Duktus geändert hat. Waren Fassbinders, Herzogs, Wenders‘ und Godards Einlassungen zum Wandel des Mediums Film im Angesicht des Fernsehens eher philosophisch-beobachtend, lassen die heutigen Buh-Rufe eher auf einen kulturchauvinistischen Reflex aus dem kollektiven Unterbewusstsein von Cannes schließen.
Das Fernsehen ist geblieben und auch in qualitativer Hinsicht eine Erfolgsgeschichte geworden. Ähnlich wird es den Streaming-Anbietern gehen. Und keine Sorge: Das Kino wird es überstehen.