Nicht nur Epen und Materialschlachten profitieren davon, im Kino erlebt zu werden!
Seit das Fernsehen groß wurde, wird das Kino immer wieder damit konfrontiert, nicht weiter die einzige Anlaufstelle für Filme zu sein. Schon damals war die Antwort der Hollywood-Studios: Bombast. Wenn die heimische Flimmerkiste Bequemlichkeit verspricht, dann bieten die Kinos halt ein extra breites Bild, auf dem entsprechend epische Geschichten in besonders sattem Sound erzählt werden. Wie «Ben Hur» oder «Lawrence von Arabien». Dieses Wettrüsten sollte kein Ende finden. Heimunterhaltung wird technologisch besser und ist immer bequemer zu erreichen, das Kino legt als Antwort einige Schippen drauf.
Die Implikation dahinter: Filme wie die «Pirates of the Caribbean»-Reihe, die «Star Wars»-Saga, die «Fast & Furious»-Abenteuer oder die DC-Comicepen müssen die ersten Male auf der großen Leinwand erlebt werden – bei den ganzen kleinen Produktionen reicht dagegen zur Not auch der heimische Fernseher, wenn nicht gar ein Laptop, Tablet oder Smartphone. Vielleicht kann nur das Kino das Optimum an Wucht mitbringen, damit «Guardians of the Galaxy Vol. 2» in aller Kraft strahlt und wummert – aber Filme mit weniger Pomp wie «Beasts of the Southern Wild», die lassen sich doch auch verlustfrei mit Kopfhörern bewaffnet unterwegs in der Bahn gucken. Angeblich. Das ist auch die Logik, die Netflix mit seiner Verweigerung gegenüber dem altbekannten Kinoauswertungsmodell verfolgt: Der Streamingdienst sagt, dass er Indiedramen in annähernd 100 Millionen Haushalte bringt und somit die Kunstform vorantreibt. Wer braucht da schon das Kino?
Tja, so einfach ist es eben doch nicht. Die Lösung in diesem Konflikt lautet nämlich: Koexistenz. Natürlich ist absolut nichts gegen die Bequemlichkeit und Einfachheit der modernen Heimkinomöglichkeiten einzuwenden. Selbst die größten Filmvernarrten können nicht sämtliche Produktionen, die sie reizen, im Kino erwischen. Es leichter und genüsslicher machen, versäumte Filme nachzuholen, ist löblich Und
so sehr ich selber auch Haptiker sein mag und eine VHS-/DVD-/Blu-ray-Sammlung pflege, entgeht es mir nicht, welche Möglichkeiten Streamingdienste dahingehend Nischenfilmen öffnen. Dadurch, dass Randproduktionen mühelos jedem VoD-Kunden jederzeit zugänglich gemacht werden, vergrößert sich das Publikum – und was für ein Cineast wäre ich, dies zu verteufeln?
Trotzdem bleibt die Kinoauswertung die Idealsituation. Der Plan B ist nicht zu verurteilen, aber Plan A ist einfach die glücklichere Variante. Es bringt einfach eine andere, stärkere Macht und Ausstrahlung mit sich, wenn etwa Keira Knightley als «Anna Karenina» fragend ihre Lippen spitzt und eine Augenbraue hochzieht, und dabei ihr auf die Kinoleinwand geworfenes Gesicht größer ist als ein ausgewachsener Mann – und nicht etwa so klein wie ein Handteller. Und so kurios es klingen mag: Auch der zusätzliche Aufwand eines Kinobesuchs kann ein Luxusgut sein.
Nehmen wir das diese Woche startende, mysteriöse Teenagerdrama «Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie» als Beispiel. Wenn es ab Donnerstag ein paar Tausend Seelen im Kino genießen werden, so kann ich mir vorstellen, dass es ihnen ähnlich ergehen wird, wie mir in der Pressevorführung. Ich saß in der ersten Viertelstunde in meinem Kinosessel, als wäre ich in einem Vorraum der Hölle gelandet: Die Hauptfiguren dieser Romanadaption werden eingangs als unausstehliche, hinterlistige, miese, lärmende, fiese Zicken gezeichnet. Ich musste mich da durchbeißen, weil ich es als meine Pflicht als Kritiker erachte. Das reguläre Kinopublikum wird sich (von den wenigen, vorzeitig flüchtenden Ausnahmen abgesehen) wiederum denken: "Ah, verdammt, ich habe für diesen Film gezahlt, da gehe ich doch nicht nach 15 Minuten, egal, wie sehr ich diesen Bitches gerne eine gepfefferte Ohrfeige verpassen würde!"
Wäre «Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie» ein Netflix-Original und deswegen ausschließlich als marginaler Teil einer vom bequemen Sofa aus erreichbaren, riesigen Filmsammlung beurteilt, so würde ich schwören: Sehr viele Menschen würden nach den ersten 15 Minuten nach ihrem Smartphone greifen, einen zweiten Tab neben dem Film auf machen, ihn abbrechen oder sonstwie diese Tortur durchbrechen. Dieses Schicksal wird «Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie» eines Tages auch so mit Gewissheit ereilen. Dabei hat diese Qual Methode – eine, die im Kino am ehesten fruchtet. Der "Jetzt bin ich schon aus dem Haus gegangen, habe den X Minuten langen Weg auf mich genommen und bezahlt, jetzt sitze ich diesen Mist auch durch!"-Faktor greift – und baut listig eine riesige Fallhöhe auf, wenn der Film eine radikale Wende nimmt und sich die von Zoey Deutch fantastisch gespielte Protagonistin wandelt. Ohne einfache Fluchtmöglichkeiten, ohne dauernde Ablenkung hat dies eine immense Wirkung. Außerhalb des Kinos, so fürchte ich, wird «Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie» zwar mehr Menschen erreichen, diese aber weniger mitreißen.
«Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie» mag eine langtitelige, extreme Ausnahme sein. Aber sie steht exemplarisch für die Macht des Kinos, wie sie sich selbst bei Filmen auswirkt, die nicht durch ihren schieren Bombast oder die Kollektiverfahrung den Eintrittspreis rechtfertigen. Das Kino reißt uns aus den sicheren vier Wänden, die wir Zuhause nennen. Blendet Irrlichter und Ablenkungen aus, die bei einer mit einem Film versüßten Bahnfahrt zwangsweise gegeben sind. Es ist eine Art der bewusst gewählten Entführung in ein fremdes Schicksal, eine andere Erfahrung, womöglich gar einer fernen Welt. Und stellt so intensivere Weichen für die Wirkung und den Genuss des gewählten Films.