Langer Filmtitel, komplexe Emotionsirrungen, altbekannte, aber kraftvoll eingesetzte Plotidee: Dieses Teeniedrama beißt sich im Hinterkopf fest.
Filmfacts «Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie»
- Regie: Ry Russo-Young
- Produktion: Matthew Kaplan, Brian Robbins, Jonathan Shestack
- Drehbuch: Maria Maggenti; basierend auf dem gleichnamigen Roman von Lauren Oliver
- Darsteller: Zoey Deutch, Halston Sage, Logan Miller, Kian Lawley, Jennifer Beals, Diego Boneta, Elena Kampouris
- Musik: Adam Taylor
- Kamera: Michael Fimognari
- Schnitt: Joe Landauer
- Laufzeit: 99 Minuten
- FSK: ab 12 Jahren
Die schulischen Jugendjahre. Für manche unserer Mitmenschen ihr ganz persönliches Goldenes Zeitalter, in dem sie vergleichsweise wenigen Pflichten nachgehen müssen, dafür aber irgendwie an immense Popularität gelangt sind. Für betrüblich viele Personen gleichen sie derweil der reinsten Tortur. Kinder können halt gemein sein, und wenn sie durch Purzelbäume schlagende Hormone zu Jugendlichen transformieren, werden sie mitunter durch den falschen gesellschaftlichen Einfluss noch fieser, wie alle Gepiesackten und Gepeinigten attestieren werden. Und für viele, viele weitere Leute ist das Teenageralter irgendwas zwischen Paradies und Verdammnis. Wobei sich die qualvollen Tage ungleich länger anfühlen als die genussvollen.
Im Frühjahr 2017 setzte die Netflix-Serie «Tote Mädchen lügen nicht» der niederträchtigen, emotional zehrenden Unterseite des sozialen Subkosmos "Schule" ein viel beachtetes, heiß diskutiertes Mahnmal. Der Film «Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie», genauso wie «Tote Mädchen lügen nicht» auf einem Roman basierend, ist quasi die überwirkliche, zügigere Schwester des Serienerfolgs. Und sie operiert in der entgegengesetzten Logik. Während Brian Yorkeys Serie immer tiefer ins Teenagerleid absteigt, beginnt Ry Russo-Young mit der Hölle auf Erden – woraufhin die dramatische Frage folgt, ob das Publikum daraus befreit wird.
Für Samantha Kingston (Zoey Deutch) und ihre Freundinnen könnte es hingegen nicht besser laufen. Glauben sie zumindest. Das Quartett, zu dem noch Lindsey (Halston Sage), Ally (Cynthy Wu) und Elody (Medalion Rahimi) gehören, ist immens populär – nicht zuletzt, weil die vier Freundinnen exakt dem stereotypen Teenie-Schönheitsideal entsprechen und sie ihren Platz in der gesellschaftlichen Nahrungskette durch Gepose und das kaltschnäuzige Abfertigen weniger beliebter Mitmenschen eifrig verteidigen. Als am "Cupid's Day"-Abend eine Party bei Samanthas heimlichem Verehrer Kent (Logan Miller) entgleist, sollte dies nur der Vorbote eines weiteren tragischen Ereignisses sein. Denn Samantha und ihre Freundinnen werden in einen Autounfall verwickelt. Doch als Samantha aufwacht, ist es so, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht …
So sehr die oberflächliche Clique ihre Zeit vor dem schicksalhaften Unfall genießt, so qualvoll ist es, die vier Mädels während ihres Alltags zu begleiten. Sie zicken einander an. Die designierte Fahrerin Lindsey ist ein Paradebeispiel an Verantwortungslosigkeit. Dauernd werden dämlichste Kleinigkeiten in grell-schrillem Tonfall gefeiert. Und die unterschwellige Feindseligkeit innerhalb dieses "Freundeskreises" potenziert sich um das Dutzendfache, sobald es diese Alphaweibchen mit "niederen" Mitschülerinnen oder Mitschülern zu tun bekommen. Kurzum: Regisseurin Ry Russo-Young entführt ihr Kinopublikum und zwingt es, untätig der cineastischen Verkörperung aller Pein aus Jugendjahren dabei zuzuschauen, wie sie sich selbst feiert. Mit größtem Vergnügen, nicht einem einzigen Hauch an Reue in der stets affektierten Stimme und nicht dem geringsten Fältchen des Mitgefühls im mit Schminke zugekleisterten, seelenlos-hedonistischen Gesicht.
Fast, ja, fast entwickelt diese ungefilterte Auseinandersetzung mit Ignoranz, Hass und Oberflächlichkeit eine derart gallig-mitreißende Wirkung, dass es zu entschulden wäre, wenn der Unfall der lästigen Clique mit bitterer Schadenfreude begrüßt wird. Ein "Endlich! Das habt ihr verdient, ihr Miststücke", das sollte allen bewusst sein, macht die Welt jedoch auch nicht zu einem besseren Ort. Nicht einmal die filmische Welt von «Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie».
Und kaum haben Russo-Young und Drehbuchautorin Maria Maggenti ihr Publikum so weit getrieben, angesichts der vorgeführten Herzlosigkeit selber jegliche Empathie zu verlieren, heißt es: Tabula rasa. Für die so eben minutenlang attackierten Seelen im Kinosaal. Sowie für unsere miese Zippe von Protagonistin. Samantha darf den "Cupid's Day" neu erleben. Sich darüber wundern, wie ihr geschieht. Sie darf daran arbeiten, sich und uns zu beweisen, dass diese Ansammlung an garstigen Verhaltensweisen nur das Produkt einer revidierbaren Verwirrung ist. Und dass in Samantha sehr wohl die herzensgütige Zeitgenossin steckt, nach der sie scheint, wenn «Why Him?»-Darstellerin Zooey Deutch in einsamen Momenten verloren-ratsuchend in die Leere starrt.
Die «… und täglich grüßt das Murmeltier»-Zeitschleife, in die Samantha gerät, ist eine subtil-unheilvolle. Maggenti liefert keine Erklärungen, Russo-Young und Kameramann Michael Fimognari sorgen mit ihrer vornehmlich kühlen Ästhetik, die nur wenige Farbakzente setzt, für ein frostiges Gefühl – wenn nicht gerade die rot-orangefarben flimmernde Party am Ende des Tages wie ein bedrohlicher Countdown aufglüht. Auch Samanthas Erzählkommentare aus dem Off sind vom sich wiederholenden Unglück gegerbt und somit eine effektiv-eisige Ergänzung dieser Geschichte – selbst wenn die Jugendliche offenbar ihrer Zuhörerschaft nicht all zu viel zutraut und im späteren Verlauf Verhaltensweisen erörtert, die sich bestens selbst erklären.
Für das die Konturen schärfende Licht in dieser rätselhaften Vorhölle sorgt jedoch ein kleiner Anflug von Zeitschleifenspaß, wenn Samantha in einen resignierten "Wenn ich eh gefangen bin, dann mache ich die Welt halt zu meinem Spielfeld"-Ausbruch verfällt. Diese Form der Gleichgültigkeit ist im Gegensatz zu Samanthas ursprünglichem Benehmen spielerisch, auf irreale Art nachvollziehbar und lockt Zoey Deutch aus der Reserve – und sie ist ein sarkastisches Vorspiel, bevor «Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie» einschneidenden Ernst macht.
Deutch beim Auftauen und Entwickeln von Empathie zu verfolgen, ist eine herzerwärmende Wonne – und die Tortur, die ihre Rolle durchläuft, eine Qual ganz anderer Art als jene, die dieser Film anfangs darstellte. Es ist eine, die nicht weiter wegen des "Holt mich hier raus!"-Gedankens schmerzt, sondern durch das "Lasst Samantha da raus!"-Mitfiebern. Gewiss, dadurch, dass sich «Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie» mit klaren Antworten zurückhält, läuft diese Erzählung Gefahr, alttestamentarisch-antiquiert interpretiert zu werden. Aber sie lässt sich genauso gut als Parabel im Gewand eines modernen Mysterydramas lesen … Als überraschend stark in ihren Bann ziehende, wenngleich wenig subtile Lektion darauf, dass wir jeden Tag die Chance haben, unser Leben zu verändern, egal wie eingefahren alles scheint. Es ist nie zu spät, und trotzdem können wir nicht früh genug damit anfangen. Denn wenn der Filmtitel wahr sein sollte, so gibt es zwei Möglichkeiten – unsere Vergangenheit kann uns heimsuchen oder bestätigen.
«Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie» ist ab dem 1. Juni 2017 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.