Die Falle, die sich Produzenten und Regisseure mit Temp Tracks stellen und der Reiz produktionstechnischer Hürden, die es zu nehmen gilt: Film- und Fernsehkomponist Sebastian Pille spricht mit Quotenmeter.de über seine Arbeit.
Filmografie Sebastian Pille (Auswahl)
- «Wie Matrosen»
- «Unter Verdacht» (seit 2011)
- «Obendrüber, da schneit es»
- «Der Geschmack von Apfelkernen»
- «Im Labyrinth des Schweigens»
- «Grzimek»
- «Das Tagebuch der Anne Frank»
- «Tatort – Der Tod ist unser ganzes Leben»
Wie viel Zeit steht Ihnen üblicherweise fürs Komponieren zur Verfügung?
Bei «Unter Verdacht» habe ich das Glück, dass ich schon lange mit dem Team zusammenarbeite, und es mir daher frühzeitig mitteilt, was auf mich zukommt und wie der Zeitplan ist. Somit entsteht kein Zeitdruck. Für einen 90 Minuten TV-Film hat man zirka vier bis sechs Wochen Zeit. Bei Event -oder Kinofilmen können es durchaus mehrere Monate werden.
Es gibt meines Wissens nach auch Extremfälle mit noch kürzerer Zeit für die Musikproduktion …
Es gibt inzwischen immer mehr Fälle, wo sich die Verantwortlichen daran gewöhnt haben, dass eine Post-Produktion mit wenig Zeit auskommen kann. Leider geht das nicht selten zu Lasten der Qualität. Ich persönlich finde es toll, wenn man früh eingebunden wird. Wie beispielsweise bei meinem letzten «Tatort». Ich kannte Regie und Produktion bereits aus anderen Arbeiten sehr gut. Wir haben uns frühzeitig über eine Musikrichtung verständigt und ich konnte vor Drehbeginn erste Musiklayouts schreiben, die wir besprochen haben und die dann in den Schneideraum geliefert wurden. Eine Methode, die ich sehr befürworte – dann braucht man keine Temp Tracks, sondern kann schon im Schnitt den Austausch anhand der Bilder vorantreiben und bekommt inhaltlich ein noch stimmigeres Endergebnis. Zudem hat auch die Redaktion bereits im Schneideraum einen Eindruck, in welche Richtung die Musik gehen soll.
Temp Tracks
Als Temp Track bezeichnet man einen temporären Soundtrack, der in der Postproduktion benutzt wird, und der sich oftmals aus früheren Filmsoundtracks zusammensetzt. Diverse Hollywood-Filmkomponisten beklagten sich in den vergangenen Jahren, dass Regisseure und Produzenten verstärkt dazu tendieren, sich in den Temp Track zu verlieben und vom Komponisten ein möglichst ähnliches Musikstück zu fordern, was zu einer austauschbaren Musiklandschaft in Blockbustern führe.Temp Tracks sind ja eine sehr umstrittene Sache. Komponistengrößen wie Danny Elfman haben sie ja bereits verteufelt …
Temp Tracks können durchaus eine Hilfe bei der Kommunikation sein. Ich finde aber, dass es besser ist, wenn man als Komponist erst einmal nicht mit ihnen in Berührung kommt. Man behält seinen eigenen Blick auf das Musikspotting und die Art der Musik, die dem Film aus der eigenen Perspektive heraus dienlich sein können. Darüber tausche ich mich mit den Verantwortlichen aus und oftmals freuen sie sich über den frischen Eindruck, den ich dadurch in das Projekt einbringen kann. Bei Bedarf kehren wir im späteren Austausch zu Temp Tracks zurück.
Fällt es Ihnen schwer, Temp Tracks abzuschütteln?
Temp Tracks zu vermeiden, ist manchmal nicht ganz einfach. Je größer die Filme sind, desto eher spielen sie im Schneideprozess eine Rolle und der Wunsch wächst, dass etwas ähnliches kreiert wird. Es kommt für einen Komponisten immer darauf an, wie eng die Zusammenarbeit mit den Entscheidern ist und welches Vertrauen in seine Arbeit besteht. Bei langjährigen Arbeitsbeziehungen ist natürlich vieles einfacher. Es ist auch schon vorgekommen, dass meine eigene Musik aus einer älteren Produktion der Temp Track war. Das ist besonders schwer, da man sich nicht selbst wiederholen möchte.
Je früher man als Komponist bei einem Projekt etwas anbietet, was im Schnitt benutzt werden kann, desto besser ist es für die eigene Handschrift der Musik im Film. Man kann Dinge ausprobieren, Musik und Bildschnitt beeinflussen sich gegenseitig. Dadurch entsteht eine Dynamik, die ich sehr mag, und manchmal passieren ganz unvorhergesehene Dinge. Ich bin immer wieder begeistert, wie ein Film im Schnitt noch einmal neu entsteht. Es ist wunderbar, Teil dieses gemeinsamen Prozesses zu sein. Auch läuft man so nicht Gefahr, dass man sich an Temp Tracks gewöhnt und die Wiederholung des immer gleichen noch gefördert wird, sondern man arbeitet direkt mit „der richtigen Musik“, die einen ganz eigenen Wiedererkennungswert für den gesamten Film bekommen kann.
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Je früher man als Komponist bei einem Projekt etwas anbietet, was im Schnitt benutzt werden kann, desto besser ist es für die eigene Handschrift der Musik im Film.
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Sebastian Pille
Wie oft kommt es vor, dass Sie schon früh in ein Projekt eingebunden werden – und fällt es dann leichter, Musik zu schreiben, als in Fällen, wo Sie auf den fertigen Film komponieren?
Bei zirka einem Fünftel der Projekte kann ich schon auf Basis des Drehbuchs vor Drehbeginn anfangen, die Musik zu schreiben. Am besten beginnt diese Art der Zusammenarbeit mit einem Treffen der kreativen Gewerke weit vor Drehbeginn, das heißt Regie, Schnitt, Kamera und Sounddesign etc. ... Dann bekommt man einen Eindruck davon, wie diese den Film sehen und ihren Teil umsetzen wollen – zum Beispiel die optische Farbpalette oder die Ideen für die rhythmische Erzählung der Geschichte, was großen Einfluss auf die spätere Musik hat. Es gab schon Besprechungen, in denen inspiriert vom Drehbuch beschlossen wurde, sich durch Montagen den Rhythmus des Films an gewissen Stellen noch offen zu halten. Im finalen Film konnten wir dadurch eine sehr emotionale Stelle noch weiter ausweiten, zur großen Freude aller. Ohne diese Vorbesprechung wäre das benötigte Material nicht gedreht worden. Musikalische Überlegungen werden in solchen Fällen schon in der Drehplanung integrativer Bestandteil des gesamten Films.
Normalerweise beginne ich meine Arbeit aber erst in der Schnittphase. Es ist sehr hilfreich den Film in diesem Stadium zu sehen und sich mit der Regie auszutauschen, bevor der Schnitt abgeschlossen wird. So besteht noch immer die Möglichkeit, dass sich Musik und Schnitt gegenseitig beeinflussen. Wenn etwa eine Sequenz vorgibt, dass die Musik einen Stimmungswechsel von einer Szene zur anderen erzählen soll, der Übergang aber so kurz ist, dass dies musikalisch nicht sinnvoll machbar ist, so kann man in dieser Phase noch darauf hinweisen.
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Ich habe momentan nicht die Sorge, dass mir die Ideen für Krimis ausgehen. Die Projekte, die ich in diesem Genre machen darf, sind unglaublich vielschichtig und immer eine eigene und schöne Herausforderung
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Sebastian Pille
Sie haben ja bereits zahlreiche Krimis untermalt – darunter alle «Unter Verdacht»-Folgen seit 2011. Besteht da für Sie die Gefahr, in diesem Genre irgendwann kreativ ausgelaugt zu sein?
Ich habe momentan nicht die Sorge, dass mir die Ideen für Krimis ausgehen. Die Projekte, die ich in diesem Genre machen darf, sind unglaublich vielschichtig und immer eine eigene und schöne Herausforderung. Es gibt zwischendurch auch Abwechslung durch andere Projekt, sei es orchestrale Musik wie bei «Im Labyrinth des Schweigens» oder ein Song-Soundtrack wie bei «About a Girl». Darüber hinaus entwickelt man sich als Komponist immer weiter, man findet neue Inspirationen und das verändert die Arbeit automatisch. Ich nehme mir viel Zeit für jeden einzelnen Film und versuche, eine eigene und ganz spezifische Tonsprache zu finden. Dazu gehört zum Beispiel in der Frühphase der Arbeit das Sampling, das experimentieren mit Sounds und Effekten. Auch arbeite ich sehr gern mit Tonelementen aus dem jeweiligen Film und baue diese in die Musik ein –
wie etwa dem besagten «Tatort», in dem ich das Geräusch eines Zählgeräts übernommen habe, das der Mörder bei sich trägt.
Auch bei «Unter Verdacht – Verlorene Sicherheit» hat die Soundpalette eine entscheidende Rolle gespielt. Früh war mir klar, dass ich keine ethnischen Instrumente nutzen wollte, obwohl sie sich bei dem Thema angeboten hätten. Eine wichtige Rolle spielt stattdessen eine extra programmierte, bewegte Synth-Fläche, die immer wieder auftaucht. Sie liegt wie eine dunkele Wolke über allem und gibt dem Film eine bedrückte Grundstimmung. Mir war es wichtig dem Film etwas hinzuzufügen, eine weitere Ebene einzuziehen und nicht das Bild mit einem nah-östlichen Einschlag zu sehr zu paraphrasieren.
Ist es Ihnen als Komponist, der viel experimentiert, schon passiert, dass Sie gebeten wurden, diese Experimentierfreude zu drosseln und lieber etwas Konventionelles zu schreiben?
Persönlich habe ich es zum Glück noch nicht sehr häufig erlebt, dass man mich bittet, meine Kreativität zu zügeln und nur vorgegebene Wege zu gehen. Was aber nicht heißen soll, dass es solche Fälle in unserer Branche nicht geben kann. Ich denke, dass das Potential der Filmmusik in der deutschen Film- und Fernsehbranche teilweise noch nicht komplett ausgeschöpft wird. Filmmusik ist in Deutschland oft noch ein Bereich, der in den Überlegungen zum Gesamtprojekt eine kleinere Rolle spielt. Zumindest, wenn man es mit den USA vergleicht. Das sieht man auch an der Größe der Teams die sich dort mit Musik und Ton auseinandersetzen.
Bei den meisten deutschen Fernsehproduktionen ist eine Pauschale vorgegeben, die Komposition und Produktion der Musik einschließt und deren Höhe fast immer gleich ist. Leider muss man sich hier was die Live-Aufnahmen angeht oft einschränken. Nicht selten bleiben Musiken für diese Formate komplett digital. Wenn ich mit Zuschauern spreche, höre ich immer wieder, dass das auch auffällt - gerade bei Musiken, die echte Aufnahmen bräuchten, wo aber aufgrund des Budgets auf Samples aus dem Computer zurückgegriffen werden muss. Glücklicherweise habe ich in letzter Zeit einige Fernseh-Event oder Kinoproduktionen machen dürfen, in denen wir ein echtes Musikbudget kalkuliert haben, welches sich in ein Budget für Komposition und Produktion aufteilte. Darin enthalten waren zum Beispiel die Kosten für sehr umfangreiche Orchesteraufnahmen. Ich versuche mich bei solchen Verhandlungen in der Regel am Gesamtbudget des Films zu orientieren, denn die Erfahrung zeigt, dass dies eine gute Richtschnur im Kontext des gesamten Films ist – so bleibt es für alle Beteiligten eine faire Sache.
Würden Sie sagen, dass ein Umdenken hinsichtlich des Entgelts für Film- und Fernsehkomponisten nötig ist?
Ein höheres Musikbudget würde in einigen Fällen sicher sehr helfen. Aber das sagen wahrscheinlich alle Head of Departments, wenn sie gefragt werden. Trotzdem gibt es wohl kein anderes Gewerk in der Produktion, dass für eine Pauschale auf eigenverantwortlicher Basis vorab alle Produktionsmittel zur Verfügung stellen muss, oft in Unkenntnis einer genauen Idee zur Musik und damit dem Umfang der Produktion. In der Regel haben alle Komponisten ein eigenes professionelles Studio, dass sie über Jahre aufgebaut und selbst finanziert haben. Dass dieses vorhanden ist, wird vorausgesetzt und in der Pauschalvergütung inkludiert.
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Ich denke, es würde der deutschen Film- und Fernsehbranche helfen, wenn man den Kreativen und ihren Visionen stärker trauen würde. Denn wie in jeder Kreativbranche schaffen wir nur dadurch Weiterentwicklung und Innovation. Der Durchschnitt mehrerer Meinungen ist eben zwangsweise eines: durchschnittlich – dass dabei etwas Besonderes entsteht, ist weniger wahrscheinlich.
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Sebastian Pille
Wie reagieren Sie auf wirtschaftliche oder andere produktionstechnische Einschränkungen?
Ich gehe mit den Produktions-Beschränkungen so um, dass ich überlege, was ich in dem jeweiligen Rahmen verwirklichen kann. Mit der richtigen Einstellung lassen sich finanzielle Grenzen auch als kreative Herausforderungen annehmen. Sobald jedoch ein Orchesterscore oder ein anderes Live-Ensemble gefordert ist, hilft dieser Gedanke leider wenig, denn hier hört man sehr schnell die qualitativen Unterschiede zwischen der echten Einspielung und einem Score aus dem Rechner.
Ich denke, es würde der deutschen Film- und Fernsehbranche helfen, wenn man den Kreativen und ihren Visionen stärker trauen würde. Denn wie in jeder Kreativbranche schaffen wir nur dadurch Weiterentwicklung und Innovation. Der Durchschnitt mehrerer Meinungen ist eben zwangsweise eines: durchschnittlich – dass dabei etwas Besonderes entsteht, ist weniger wahrscheinlich. Das Vertrauen in eine spezifische Vision führt eher zu Dingen, die neu sind und über die die Leute deshalb sprechen. So eine Mund-zu-Mundpropaganda passiert aber nur bei Dingen, die man - zumindest so – noch nicht gesehen hat. Das gleiche versuche ich auch auf der musikalischen Seite, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.
Vielen Dank für das Gespräch.
«Unter Verdacht – Verlorene Sicherheit» ist am 17. Juni 2017 ab 20.15 Uhr im ZDF zu sehen.