Wir setzen unsere Reihe innerhalb der Reihe fort und präsentieren einen weiteren, wandelnden Kritiker-Stereotypen. Dieses Mal: Die Konsens-Rezitiermaschine auf zwei Beinen.
Pressevorführungen. Sie existieren in vielen Formen. Vor dem Hintergrund unserer heutigen Analyse des Subkosmos Filmkritik wollen wir sie aber ganz schlicht in zwei Kategorien einteilen: Pressevorführungen, die stattfinden, bevor Rottentomatoes einen Konsens vorgegeben hat. Und Pressevorführungen, die erst dann abgehalten werden, nachdem das stark frequentierte Portal seinen noch häufiger zitierten Wert veröffentlicht hat, wie sehr ein Film denn nun gemocht wird. Und ohne jeden Zweifel: Die Pressevorführungen, bei denen das versammelte Kritikerpublikum sozusagen einen Blindflug startet, sind wesentlich spannender. Dann ist das die Kinoveranstaltung umrahmende Kollegengespräch nämlich auf reizvolle Weise unsortierter.
"Ich hab echt keinen Schimmer, was uns jetzt erwartet", begrüßt Viktor Vorfreudig bei seiner Ankunft das Kollegium mit ratlos-neugierigem Lächeln. "Zumindest die Trailer waren ja … hm … von variierender Qualität", ringt sich Udo Unsicher eine vage Prognose ab, während Mike Miesepeter auf die Theke haut, seinen doppelten Espresso bestellt und dann raunzt: "Der Kameramann hat in den letzten sechs Jahren nur bei Scheißfilmen mitgearbeitet, also sagt uns Adam Statistikriese, dass das jetzt wahrscheinlich auch nichts wird!" Und da Mike Miesepeter heute einen guten Tag hat, zwinkert er nach dieser These selbstironisch – genau wissend, dass er seinem Ruf mal wieder gerecht wurde. Daraufhin entbrennt ein angeregtes, unvoreingenommenes Gespräch darüber, wie denn der gleich laufende Film werden könnte. Maria Muster nickt schüchtern zustimmend, ehe sie einwirft: "Ich mag ja Filme zu dem Thema, aber der Regisseur hat sich ja eigentlich eher in anderen Genres seinen Namen erarbeitet. Ich bin echt gespannt."
Nach dem Film geht das Debattieren erst so richtig los – und da es keinen Meinungsinput von außerhalb gibt, wird erstmal fleißig gesammelt, mit spitzen Ohren zugehört, erwidert und zugestimmt. Zunächst ist jede Meinung von Relevanz, weil alle gern wissen wollen, wie denn nun so die Durchschnittsmeinung ist. Und je nach Tagesform, Film und Zusammensetzung der Gruppe wird selbst, sobald sich eine klare Mehrheit für gut oder schlecht abzeichnet, jedes Minderheitsvotum fasziniert zur Kenntnis genommen.
Kritikerdebatten vor und nach Pressevorführungen von Filmen, bei denen bereits der Rottentomatoes-Wert feststeht, sind dagegen regelrecht monoton. "Das kann ja jetzt nichts werden", prophezeit kurz vor Beginn Willi Webmeinung. "18 Prozent bei Rottentomatoes! Wenn schon die Amis den Film zu pathetisch finden, kommt mir sicher gleich das Kotzen!“, erwartet Dietrich Deutschtum. "Ach, ich bin ja noch immer froher Hoffnung … auch wenn der bisherige Kritikerspiegel meine Vorfreude ja schon etwas gedämpft hat", seufzt Theo Trailerfreund. Und nach dem Film? Da dreht sich jedes verflixte Statement entweder um "Ja, die Mehrheit hat völlig recht!" oder um "Also, ich weiß echt nicht, was alle haben." Und die, die nicht in Richtung Rottentomatoes-Urteil tendieren, ja, die müssen sich gehörig rechtfertigen. Wenn die Gesprächsentwicklung bei einer Pre-Rottentomatoes-Pressevorführung sieben Kurven und dreieinhalb Haken schlagen kann, bringt es eine Post-Rottentomatoes-Pressevorführung höchstens auf eine gescheiterte Pirouette mit harter Landung.
Tja. Und dann ist da noch Karl Konsens. Der langweiligste Typ im gesamten Kollegium. Während manche mal begeistert die Mehrheit angreifen, sie andere Male ebenso lautstark verteidigen und wieder andere Male schulternzuckend ihre eher müde Meinung zum ihrer Ansicht nach wenig bemerkenswerten Film dahinsäuseln, ist bei Karl Konsens die Antwort auf die Frage "Na, wie fandst du es?" jedes Mal vorprogrammiert. Wortwörtlich. Manche finden ihr Urteil erst, während sie sprechen, andere wollen erstmal über Inhalt oder Stilistik diskutieren, wieder andere scherzen. Es gibt große und kleine Übereinstimmungen mit dem, was die Vorredner oder Rottentomatoes sagen. Nicht so bei Karl Konsens.
Er wartet bei Post-Rottentomatoes-Pressevorführungen fünf, sechs Urteile ab. Schüttelt bei herben Konsenswidersprüchen dezent den Kopf. Dann geht er einen Schritt vor, schaut mit abgeklärtem Blick in die Runde und legt eine Prise Belehrung in seine müde Stimme. Es folgt eine Wiedergabe des Rottentomatoes-Konsens in halbherzig abgewandelten Worten. "Super. Die Inszenierung ist sensibel, die Hauptdarstellerin charismatisch und die Musik mitreißend", sagt er über einen 93%-Film, der laut Rottentomatoes eine sympathische Hauptdarstellerin, packende Musik und eine einfühlsame Machart hat. Dann nickt er bedeutsam, macht eine kleine "Ich habe gesprochen"-Geste, um körperlich nochmal zu unterstreichen, dass alles Wichtige gesagt wurde. Und dann geht Karl Konsens langsamen Schrittes, damit er das zustimmende Raunen seiner Clique noch hören kann.
Oh, aber die Qual, wenn eine Pressevorführung stattfindet, bevor auch nur irgendein Embargo gelüftet wurde. Dann steht Karl Konsens kleinlaut am Rand. Und nickt vor sich hin, vollkommen wahllos macht er ab und zu eine "Na, ich weiß nicht"-Wackelhandbewegung. Und er geht wieder, ohne seine Meinung gesagt zu haben – es sei denn, die Agenturvertretung fragt ihn aktiv. Dann plappert er zusammenhangslos die meistgesagten Worte aus den vergangenen Minuten nach. Und schreibt zur Not das absolute Gegenteil in seine Kritik, sollte zwischen Pressevorführung und Veröffentlichungstermin Rottentomatoes endlich den Wert des zu besprechenden Films offenbart haben. Es ist fast so, als hätte Karl Konsens keine Ahnung. Von Filmen. Vom Argumentieren und Analysieren. Und davon, einen packenden Text zu schreiben. Er wollte einfach nur umsonst Filme gucken, ist irgendwie in diese Misere reingerutscht und macht daher vor jeder Pressevorführung eifrig seine nachplapperbaren Hausaufgaben, damit er ja nicht auffliegt.
Glücklicherweise ist Karl Konsens eine völlig unrepräsentative Minderheit unter den Kritikern – ironisch, nicht wahr? Wo Karl Konsens doch stets die Fahne der repräsentativen Meinung hochhält. Aber eine kleine Handvoll Verwandter hat er. Doch selbst wenn es Karl, Konrad und Kevin Konsens gibt, so existiert keine Keira Konsens. Mr. Konsens ist, das mögen nun manche für sexistisch halten, tatsächlich immer ein Mister. Denn Filmjournalismus ist eine männlich dominierte Branche – und Jungs ziehen liebend gern ihre Kumpels in dieses Metier. Frauen dagegen müssen es sich hart erkämpfen, in diesem Club mitzuspielen. Da haben faule Nachplapperlieschen keinen Platz – nur Kritikerinnen, die sich ihre Meinung passioniert und durchdacht selber bilden, haben langfristig eine Chance.
Und wer weiß. Vielleicht sind Maria Muster, Svenja Schauspieltheorie und Rita Regielexikon eines Tages der Tod von Karl Konsens. Die PV-Touristen dieser Welt werden ihn betrauern. Und alle, die vom Portal ihrer Wahl einfach nur erwarten, dass es 1:1 die Rottentomatoes-Meinung bestätigt, genauso.