«Gypsy»: Hypnosetherapie für das Publikum

Naomi Watts steckt in einem langweiligen Drama fest, das die Bezeichnung Psychothriller nicht verdient hat. Dabei schmerzt vor allem das viele verlorengegangene Potenzial der neuen Netflix-Serie.

Cast & Crew

  • Idee und Drehbuch: Lisa Rubin, Jonathan Caren
  • Executive Producer: Lisa Rubin, Naomi Watts, Tim Bevan, Liza Chasin, Eric Fellner, Sean Jablonski, Andrew Stearn, Sam Taylor-Johnson
  • Darsteller: Naomi Watts, Billy Cudrup, Sophie Cookson, Karl Glusman, Poorna Jagannathan, Brooke Bloom, Lucy Boynton, Melanie Liburd, Brenda Vaccaro
  • Musik: Jeff Beal
  • Produktion: Universal Television, Working Title Television
Eine US-Krimiserie mit sechs Buchstaben – Diese Frage schwirrte mir beim Schauen der neuen Netflix-Produktion «Gypsy» eine Weile lang im Kopf herum. Ungefähr in der Mitte der Staffel lächelte mich das verwaiste Rätselbuch auf meinem Schreibtisch an und ich ließ mich überzeugen. Nicht, weil ich eine Pause vom angeblichen Netflix-Psychothriller brauchte, sondern weil ich verzweifelt nach einer spannenderen Beschäftigung als dieser Serie suchte.

Patienten-Stalking


Aber beginnen wir von vorne. Eigentlich hat Jean Holloway (Naomi Watts) ein perfektes Leben: Als erfolgreiche Psychotherapeutin lebt sie gemeinsam mit ihrem charmanten Ehemann Michael (Billy Cudrup) und ihrer Tochter Dolly (Maren Heary) in einem opulenten und direkt einem Design-Katalog entsprungenen Haus in einem New Yorker Vorort. Doch ihre scheinbar perfekte Fassade zeigt Risse, als sie ihren Mann des Fremdgehens verdächtigt und ihre Tochter erste Anzeichen einer Geschlechtsidentitätsstörung zeigt. „Es gibt eine Kraft, die noch stärker ist als der freie Wille. Unser Unterbewusstsein“ erzählt Jean zu Beginn bedeutungsschwanger aus dem Off. Sie wünscht sich ein anderes Leben, zurück in ihre wilde, unstete Vergangenheit.

Sie beginnt von nun an, sich aktiv in das Leben ihrer Patienten einzumischen – ohne deren Wissen. Ob Jean ihren Patienten oder nur sich selbst mit den an Stalking grenzenden Handlungen helfen will, bleibt bis zum Ende unklar. Vor allem die Ex-Freundin ihres Patienten Sam Duffy (Karl Glusman) hat es ihr angetan: Jean trifft die ihr nur aus Erzählungen bekannte junge Frau zufällig in einem Coffeeshop und erfindet für Sidney (Sophie Cookson) ein neues Ich: Diane Hart, freiberufliche Journalistin. Jean ist fasziniert von der Sängerin, die sie an ihre eigene Jugend erinnert und das Gegenteil ihres derzeitigen Hochglanz-Lebens verkörpert.

Newcomerin Lisa Rubin


Stück für Stück baut Jean ein zugegebenermaßen nicht allzu kompliziertes Lügenkonstrukt um die Vertuschung ihres unprofessionellen Verhaltens gegenüber ihren Patienten und die Affäre mit der jungen Sidney auf. Die Macherin von «Gypsy», Newcomerin Lisa Rubin, flüchtet sich leider stets in die erwartbarste Handlungsoption und verdeutlicht die inneren Konflikte der Hauptdarstellerin auf einfachste Art und Weise mit realitäts-vermischenden Träumen und Medikamentenmissbrauch.

Doch die flache Symbolik – von den ständig auftauchenden Spiegeln zur Verdeutlichung der verschiedenen Persönlichkeiten der Hauptdarstellerin oder der Textzeile im Intro „She was just a wish“ möchte ich erst gar nicht anfangen – ist noch eines der geringsten Probleme von «Gypsy». Rubin gelingt es leider nicht, die Geschichte von Jean Holloway für die Zuschauer mitreißend zu erzählen. Als das Lügenkonstrukt am Ende der Staffel zu bröckeln beginnt, begegnet man dem Zusammenbruch von Jeans Scheinwelt ziemlich indifferent.

Hauptdarstellerin Naomi Watts, die derzeit auch im «Twin Peaks»-Revival zu sehen ist, kann einem beinahe leidtun, da sie eigentlich einer der kleinen Lichtblicke dieser Serie ist. Die Ambivalenz des Charakters spielt sie den Umständen entsprechend gut. Doch das schwache Drehbuch mit den faden Dialogen hindern sie daran, ihr volles Potenzial zu zeigen. Jean kommt nicht als sympathische oder unausstehliche Figur daher. Beide Eigenschaften könnte man konsequent erzählen, was «Gypsy» so oder so mehr Schub geben würde. Doch Jean kann man weder lieben noch hassen – vielleicht einer der größten Fehler, den man in der Charakterzeichnung begehen kann.

Das schmerzliche Potenzial der Serie


Auch die erzählerischen Ideen in «Gypsy» sind nicht sonderlich kreativ, die Handlungsstränge hängen alle nur lose miteinander zusammen. Das funktioniert nur, wenn jeder Strang für sich eine überzeugende Geschichte erzählt. Doch die Autoren machen viele Fässer auf, keines wird jedoch konsequent zu Ende gebracht. Worauf wollen Lisa Rubin und Jonathan Caren hinaus? Welche Storywollen sie überhaupt erzählen? Besonders schmerzlich sind dann jene Momente, in denen das große Potenzial der Serie durchschimmert. An der ein oder anderen Stelle leistet «Gypsy» sogar einen wichtigen Beitrag dazu, Geschlechtsidentitätsstörungen bei Kindern zu entstigmatisieren – doch auch diese Botschaft wird nicht konsequent genug erzählt.

Ihre Stärken zeigt «Gypsy» in den viel zu seltenen Momenten des ausgebrochenen Konflikts. Am Ende der dritten Episode eskaliert eine Familienfeier: Jeans freundliche Fassade bröckelt kurzzeitig. Und sofort wird die Therapeutin richtig authentisch und erzeugt beim Zuschauer sogar Mitgefühl. Doch das Momentum währt nur kurz und die anschließenden Folgen werden wieder zur Quälerei – die Hoffnung auf mehr Spannung zerschellt, während Episode fünf hatte ich erstmals das Rätselbuch in der Hand.

Von wegen Psychothriller


«Gypsy»? Vielleicht lieber «GLOW»

Die bessere Netflix-Alternative ist derzeit der Überraschungshit des Sommers: «GLOW» erhält sowohl von Kritikern als auch vom Publikum Bestnoten. Hier gibt es unsere Kritik zu den "Gorgeous Ladies of Wrestling".
Während der insgesamt zehn Episoden geschieht schlicht und ergreifend zu wenig und selbst die raren Höhepunkte bieten kaum Spannung. Ein beinahe-Unfall mit einem Taxi ist da schon der aufregendste Moment der Serie – ein trauriges Zeugnis für einen Psychothriller. Vielleicht sollte Jean Holloway sich auf Hypnosetherapie spezialisieren? Am Bildschirm hält letztlich nur die Frage, wie ihr Lügenkonstrukt am Ende zusammenbricht – zum Schluss deuten sich dann sogar entscheidende Twists an, Folge zehn endet mit einem interessanten Cliffhanger. «Gypsy» mag gegen Ende der Staffel dann also doch nochmal ein paar Prozentpunkte zulegen, doch der Weg dahin ist deutlich zu zäh.

«Gypsy» hätte eine faszinierende Charakterstudie einer Therapeutin mittleren Alters sein können, die sich in ihrem scheinbar perfekten Leben nicht wohlfühlt. Doch leider ist die Serie trotz einer guten Naomi Watts und einer hochwertigen Produktion eine Ansammlung fader Handlungsstränge und wenig mitreißender Charaktere. Egal, was passiert: als Zuschauer ist einem das Schicksal der Hauptprotagonistin herzlich egal und «Gypsy» wird letztlich zum stetigen Kampf gegen den Griff zur Fernbedienung. Nach einigem Rätseln bin ich übrigens während der sechsten Episode dann doch noch auf die Lösung gekommen: US-Krimiserie mit sechs Buchstaben? «X-Files» – und die betrübliche Erkenntnis: Ich hätte mir vielleicht einfach ein paar Fälle von Mulder und Skully anschauen sollen.

«Gypsy» ist seit dem 30. Juni 2017 auf Netflix zu sehen.
02.07.2017 17:00 Uhr  •  Robert Meyer Kurz-URL: qmde.de/94156