Unsere westlichen Nachbarn in Frankreich haben eine sprudelnde, vielfältige Filmkultur. Doch durch die Welle an immergleichen Exporten droht dies in Vergessenheit zu geraten.
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Ein Abstecher ins Kleinstadt- und Programmkino oder ins gut sortierte Multiplex genügt – und schon grüßen die meist farbintensiven Poster für neue französische Komödien. Dabei lässt sich rasch ein Schema erkennen: Der Monsieur Claude hat Stress mit seinen Töchtern, Monsieur Henry serviert Frühstück, Monsieur Pierre geht online und Madame Anne schlägt sich mit einer anstrengenden Schulklasse durch, während Omar Sy wieder einmal eine tragikomische Geschichte erlebt. Frankreichs Filmschaffen besteht aus Konflikten, die mit einer variierenden Balance aus Hau-drauf-Witz und Feinfühligkeit geschlichtet werden; so suggeriert es einem die Auswahl der Filme, die hiesige Verleiher betont stark vermarkten. Arm gegen reich, liberal gegen konservativ, alt gegen jung, seit Generationen in Frankreich lebend gegen kürzlich immigriert …
Doch Frankreich würde sich nicht seit Jahrzehnten als einer der ergiebigsten Filmexporteure erweisen, hätten seine Filmschaffenden nur diese eineinhalb Noten in Dur und Moll zu bieten.
Anlässlich des Kinostarts der bislang kostspieligsten Produktion der französischen Filmgeschichte bietet Quotenmeter.de einen Erfrischungskurs in Sachen cinéma français …
Ein Filmerbe, das andere Nationen vor Neid erblassen lässt
Als Geburtsstätte der Film- und Kinotechnologie hat Frankreich seit jeher eine Vorreiterstelle im cineastischen Geschehen – zahlreiche Strömungen der Filmgeschichte nahmen in Frankreich ihren Anfang, ehe US-amerikanische Produktionen sie mit größerem kommerziellen Erfolg imitierten. Der Film Noir, die Ära der extrataffen Privatdetektive, die in mit scharfkantigen Schatten überaus atmosphärisch daherkommenden Kriminalgeschichten Fälle für verführerische Frauen übernommen haben? Frankreich hat's zuerst getan, erst dann schlüpften Bogart und Konsorten in den Trenchcoat.
Die Nouvelle Vague wiederum, um nur ein weiteres Beispiel unter vielen einflussreichen französischen Bewegungen zu nennen, widerstrebte der Auffassung von Film als kommerziell gesteuertes Medium der Kollaboration und distanzierte sich von Hollywoods Studiosystem. Junge, verspielte, nahezu ausschließlich männliche Regisseure (oftmals zuvor als Filmkritiker tätig) wirbelten das Kino mit kostengünstigen, formal experimentierfreudigen Filme auf, in denen oftmals aufwändige Kamerafahrten dafür sorgten, dass Storys über existentielle und zwischenmenschliche Fragen visuell aufregende Gestalt annahmen.
Und da viele von diesen Werken mit Ironie sowie Sarkasmus gewürzt sind, stellen die Nouvelle Vague auch deutlich zugänglichere Filme dar, als es das Klischeebild vom französischen Kunstkino suggeriert – sehr, sehr freimütig gesprochen kamen die französischen Revoluzzer wie Jean-Luc Godard und François Truffaut also all den 90er-Indie-Darlings und heutigen Sundance-Entdeckungen zuvor, wie Zach Braff («Garden State»), Marc Webb («(500) Days of Summer») oder auch Wes Anderson («Grand Budapest Hotel») und Damien Chazelle («La La Land»).
Bis an die Grenzen des Zumutbaren
Dem US-amerikanischen Kino sind die puritanischen Wurzeln seiner Nation nicht auszutreiben. Und in Deutschland genießt zwar Literatur den Schutz der Kulturwächter, aber das im Vergleich deutlich jüngere Medium Film muss sich – selbst wenn sich die Lage seit den 80ern deutlich besserte – noch immer vor Jugendschützern in Acht nehmen. In Frankreich hingegen genießt die Filmindustrie aufgrund der reichhaltigen Historie an einheimischen Produktionen einen beneidenswerten Schutz in Form der Kunstfreiheit – was rund um die Jahrtausendwende schlagartig zahlreiche Regisseurinnen und Regisseure ausnutzten.
Die New French Extremity war geboren, eine Welle an derben, kompromisslosen Thrillern und Horrorfilmen. Das Genre umfasst Filme wie den explizite, unsimulierte Sexszenen zeigenden Rachethriller «Baise-moi» (der lautstarke Anti-Zensur-Proteste nach sich zog, als er kurzzeitig aus der Zirkulation genommen wurde), Alexandre Ajas berüchtigten Psychohorror «High Tension» (in Deutschland in ungekürzter Fassung indiziert, in Frankreich ab 16 Jahren) sowie den soziopolitische Untertöne aufweisenden Folterhorror «Martyrs» (der 2015 ein softeres US-Remake erhielt).
Die immer intensivere Tabubrüche anstrebende Schockwelle mag mittlerweile abgeklungen sein, dennoch sind die Einflüsse der New French Extremity weiterhin zu spüren –
etwa in den expliziten Sexeskapaden im Schaffen des Wahlfranzosen Gaspar Noé oder im Horrorthriller «Among the Living - Das Böse ist hier», der mit seinem Kinostart 2014 als Trendnachzügler durchgeht, selbst wenn er stilistisch wie aus dieser kurzen, intensiven Zeit gefallen scheint.
Besetzt mit Hollywood, sieht aus wie Hollywood, kommt aber aus Frankreich
Ein Filmemacher, dessen Regiearbeiten und Produktionen die Grenzen der Definition "französischer Film" weit ausloten, ist Luc Besson: Der Pariser, der einst Meeresbiologe werden wollte und durch einen Tauchunfall in seiner Jugend von diesem Weg abgebracht wurde, begann 1994 mit «Léon – Der Profi», seine Filme in englischer Sprache zu drehen, um sie so besser im Rest der Welt vermarkten zu können. Dennoch filmt Besson seine Filme teilweise oder gar komplett in Frankreich – und auch die finanziellen Mittel generiert er primär aus seinem Heimatland. Die französische Filmakademie erkennt Bessons Werke als französische Werke an und qualifiziert sie regelmäßig für ihren Pendant zum Oscar – den César.
Doch schon vor seiner Reihe an international besetzten Filmen wie dem besagten Kultthriller «Léon – Der Profi» (mit Gary Oldman und Natalie Portman), «Das fünfte Element» (Gary Oldman, Bruce Willis, Chris Tucker und Milla Jovovich), «Johanna von Orleans» (Milla Jovovich, Dustin Hoffman, Faye Dunaway), «The Lady» (Michelle Yeoh), «Lucy» (Scarlett Johansson, Morgan Freeman) und «Valerian – Die Stadt der tausend Planeten» (Clive Owen, Rihanna, Ethan Hawke, Cara Delevingne, Dane DeHaan) bahnte sich Besson mit Filmen in US-amerikanischer Optik seinen Weg – wie etwa mit dem Thriller «Subway» und dem surrealen Sci-Fi-Film «Der letzte Kampf».
Der Grund, weshalb Besson mit seiner Produktionsfirma, die unter anderem auch die «Transporter»-Reihe und die «Taken»-Filme verantwortete, mit hohen Budgets hantieren und internationale Namen anlocken kann? Ganz einfach: Arbeitsethos! Besson hat den Ruf,
seine Filme stets pünktlich abzuliefern und nie den Finanzrahmen zu sprengen, darüber hinaus ist er hervorragend im Klinkenputzen bei den internationalen Vertriebspartnern – so konnte Besson allein mit dem Pitch zu «Valerian» innerhalb eines Tages 80 Millionen Dollar durch Vertriebs-Vorverkaufsrechte generieren.