«The Keepers»: Alte Dämonen schlafen nicht

Die Netflix-Dokuserie ist Zumutung und Offenbarung. Ausgehend vom Mord an einer Nonnenschwester zeichnet sie das Bild korrupter Institutionen, kirchlicher Verbrechen und gebrochener Frauen. Wie «The Keepers» das True-Crime-Genre weiterentwickelt.

Crew von «The Keepers»

  • Regisseur: Ryan White
  • Ausf. Produzenten: White, Jessica Hargrave, Josh Brown u.a.
  • Editors: Kate Amend, Mark Harrison, Helen Kearns
  • Produktion: Film 45, Tripod Media für Netflix
  • Folgen: 7 (je ca. 60 Min.)
Es ist ein Gegensatz, der magisch anziehend wirkt: Verbrechen und Kirche. Die Institution, die so viel Gutes predigt, aber so viel Schlechtes tun kann. Auch in «The Keepers» ist dieser Gegensatz allgegenwärtig. «The Keepers» ist der neueste Hit im sogenannten True-Crime-Genre, das von wahren Verbrechen erzählt und deren neuerliche Ermittlungen emotional begleitet. True Crime erreichte durch Podcast-Formate wie «Serial» sowie die TV-Serien «The Jinx» und «Making A Murderer» große Beliebtheit. Letztere Serie ist bis heute eine der erfolgreichsten bei Netflix. «The Keepers» ist nahtlos in diese Reihe der großen True-Crime-Formate einzureihen. Und dabei doch völlig anders.

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist der Mord an der jungen Nonnenschwester Cathy Cesnik, die als Lehrerin an einer katholischen Mädchen-Privatschule in Baltimore arbeitete. Sie verschwand im November 1969, ihr toter Körper wurde zwei Monate später an einem Waldstück nahe ihres Wohnhortes gefunden. Eine zweite Frau, Joyce Malecki, verschwand kurz nach Cesnik, auch sie fand man kurze Zeit danach ermordet auf. Beide Opfer verbindet einiges: Sie waren jung, unverheiratet, attraktiv, lebten im selben Ort. Und beide Morde wurden nie aufgeklärt, trotz damaliger Ermittlungen des FBI. Der Täter könnte noch heute frei herumlaufen.

Seit einigen Jahren machen sich zwei ehemalige Schülerinnen Cesniks daran, den Mörder endlich zu finden, knapp 50 Jahre später. Sie sammeln Regale voller Beweise, knüpfen Netzwerke bei Facebook, reden mit allen Menschen, die damals mit der Nonnenschwester und der Schule in Berührung kamen. Diese Geschichte dieser beiden „Privat-Detektive“ Gemma und Abbie ist auch die Geschichte von «The Keepers». Die Serie begleitet ihre Arbeit, zeigt Interviews und Beweisdokumente.

Anders als bei vielen anderen True-Crime-Produktionen sind nicht die Serienmacher selbst die Hauptermittler, sondern andere Personen. Dies führt dazu, dass die Produzenten der Serie eine emotionale Grunddistanz zum Geschehen wahren können und keine Haltung einnehmen. «The Keepers» zeigt saubere journalistische Arbeit, erzählt von verschiedenen Standpunkten. Probleme wie beim großen «Making a Murderer» werden vermieden: Die Macher dieser Serie hatten von Anfang an eine Story im Kopf, die sie erzählen wollten – die von der Unschuld des bis heute verurteilten Mörders. Das führte dazu, dass sie in der Serie Beweise unterschlugen und Details vorenthielten – und später massive Kritik für ihre Vorgehensweise einstecken mussten. Als Zuschauer bekam man nicht die ganze Geschichte erzählt.

Andere Serien sind wie «True Detective», diese ist wie «The Wire»


Statt eine spannende Dramaturgie mit bestimmten – und für den Zuschauer befriedigenden – Ende zu forcieren, ist der Mord an Cathy Cesnik nur der Aufhänger, um in den grausamen Mikrokosmos an der katholischen Schule einzutauchen. Somit wird aus «The Keepers» neben dem Whodunit eine Charakterstudie über starke Frauen, über ihre Leiden und an ihr begangene Ungerechtigkeiten, über Vertuschung und Intrige, über eine Gesellschaft im Umbruch, in Zeiten von Hippie-, 68er- und Bürgerrechtsbewegung. Die Interviews mit den damaligen Schülerinnen gehen unter die Haut. Sie zeichnen das Bild eines früheren Amerika, und gleichzeitig sehen wir das aktuelle Amerika, in ihren Mittelklasse-Häusern, in den Trailerparks, den maroden Schulgebäuden. Die Serie spinnt ein Netz faszinierender Charaktere, in deren Leben – und deren schlimme Erfahrungen – man mit grausamer Neugier eintaucht. Ob am Ende der Mordfall überhaupt gelöst wird, ist da nur zweitrangig.

«The Keepers» vermeidet also den Fehler, die journalistische Sorgfalt zugunsten einer dramatisch-einseitigen Story aufzugeben. Dies liegt sicher auch daran, dass einige der damaligen Protagonisten – darunter potenzielle Täter – heute bereits tot sind. Anders als viele andere True-Crime-Produktionen nutzt «The Keepers» diesen Umstand, um den beschriebenen anderen Fokus als Charakterstudie zu setzen. Diese Serie erzählt nicht von einem Verbrechen, sondern von vielen, nicht von einem Opfer, sondern von zahlreichen. Diese Serie hat nicht einen Ermittler, sondern mehrere. Diese Serie fokussiert sich nicht auf wenige Protagonisten, sondern baut ein komplexes Netzwerk unterschiedlicher Charaktere auf, die alle ihre eigenen Geschichten erzählen. Während andere True-Crime-Serien eher im Stile von «True Detective» erzählen, findet «The Keepers» sein fiktionales Pendant in «The Wire».

Trotz des komplexen Charakter-Netzwerks verliert das Format nie den Überblick. Oft nimmt man sich sehr viel Zeit in der Darstellung, zeigt die Frauen in ihrem Lebensalltag, nimmt das Tempo raus. Die heutige Zeitebene wird ergänzt um eine zweite, die in Schwarzweiß-Aufnahmen damalige Ereignisse um 1969 nachstellt. Totalaufnahmen von Baltimore, Nachtaufnahmen der Schauplätze sowie der einfühlsame Soundtrack erzeugen ein beklemmendes Stimmungsbild.

«The Keepers» mag vielleicht keine neue Verurteilung herbeiführen, keine neue Gerichtsverhandlung oder einen Freispruch, dies kann man einige Monate nach dem Netflix-Start festhalten. Stattdessen aber ist die Serie so empathisch, emotional mitfühlend und charakterstark wie keine andere True-Crime-Produktion. Und damit ein Vorbild für zukünftige Genrevertreter.
27.07.2017 12:10 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/94715