Schmiese: ,Einordnungen sind keine Lügen'

Bundestagswahl, «heute journal» und «TV total»: Für "2017 - Ihre Wahl" haben wir ausführlich mit Dr. Wulf Schmiese, dem neuen Redaktionsleiter des «heute journal», gesprochen.

"Nur mit einem türkisch sprechenden Paranoia-Therapeuten zur Seite"

  1. Wissen Sie schon, wen Sie im Herbst wählen werden oder müssen Sie sich noch entscheiden? W. Schmiese: Da warte ich noch, denn es gibt ja viele mögliche Kombinationen. Das Tolle in der Demokratie ist doch unsere Wahlfreiheit. Die nutze ich jedes Mal auf´s Neue.
  2. Wen würden Sie gerne einmal interviewen – und was würden Sie ihn fragen? W. Schmiese: Präsident Erdogan um zu erfahren, was er eigentlich mit seiner Politik erreichen will. Aber nur streng „unter 3“ und mit einem türkisch sprechenden Paranoia-Therapeuten zur Seite.
  3. Wie können Sie als Journalist gegen Politik-Verdrossenheit vorgehen? W. Schmiese: Indem wir die Geschichten so spannend und interessant erzählen, wie sie tatsächlich sind.
  4. Haben Sie jemals überlegt, selbst in die Politik zu gehen? W. Schmies: So gesehen bin ich ja in der Politik, und so breit aufgestellt von links bis rechts wie kein Politiker: als Beobachter. Das ist echt spannend.
  5. Was würden Sie tun, wenn Sie einen Tag lang Bundeskanzler wären? W. Schmiese: Den Leuten klarmachen, dass es ein unterbezahlter Knochenjob ist, der per se Idealismus braucht, täglich jedoch schwer erklärbaren Pragmatismus erfordert.
Herr Schmiese, seit vier Monaten sind Sie nun Redaktionsleiter beim «heute-journal». Hat Ihnen Ihre Vorgängerin Anne Reidt vor Ihrem Amtsantritt etwas mit auf den Weg gegeben?
Anne hat mir ein Spitzenteam mit auf den Weg gegeben, selbstbewusste, aber nicht überhebliche Kolleginnen und Kollegen vor und hinter der Kamera. Sie hat mir gesagt, dass mich ein hochspannender Job erwartet. Eine pralle Mischung aus Journalismus auf der einen und Management innerhalb der ZDF-Chefredaktion auf der anderen Seite.

Wie also ist es Ihnen in Ihrer neuen Rolle in den ersten Wochen ergangen?
Sehr gut! Und ehrlich gesagt viel besser als ich dachte! Obwohl ich das Job-Angebot großartig fand, hatte ich anfangs gehadert nach Mainz zu wechseln. Das hatte persönliche Gründe, weil meine drei Kinder in Berlin verwurzelt sind. Doch nun hat sich das alles gefügt, meine Familie zieht nach von der Spree an den Rhein. Auf unsere Zeit hier freue ich mich. Sogar das spezielle Karma vom Lerchenberg gefällt mir, dieses Arbeiten auf dem journalistischen Campus.

Anders als zur Ihrer Zeit als «Morgenmagazin»-Moderator oder Hauptstadtkorrespondent stehen Sie nun nicht mehr regelmäßig vor der Kamera. Fehlt das Ihnen manchmal?
Das habe ich gerne gemacht, und ich werde auch weiterhin im On sein. Als Kommentator oder als Sonder-Korrespondent des «heute journals» habe ich dazu ja immer wieder die Möglichkeit. Vor allem möchte ich jetzt aber das machen, was ich in meiner Position neu kennenlerne.

Was genau haben Sie schon neu gelernt?
Ein heterogenes Team aus lauter Profis zu führen. Jeden Tag bei neuer Lage versuchen wir, gemeinsam das Wichtigste auszuwählen. In kürzester Zeit geht es darum, die richtigen Bretter zusammenzusetzen, und oft müssen wir alles ruck zuck aufreißen, um- und neu bauen. In keinem Gewerk darf dann trotz allerhöchstem Zeitdruck eine Hand zittern. Jede neue Nachricht muss stets kühl abgewogen, eingeordnet und TV-gerecht darstellbar gemacht werden. Diese Arbeit im Off für ein erfolgreiches On zu verantworten ist jener Teil des Journalismus, den ich hier Tag für Tag mehr erlerne.

Neun Jahre lang arbeiteten Sie für die FAZ, bevor Sie 2010 zum ZDF kamen. War Ihnen die Entscheidung vom Print- hin zum Fernsehjournalismus schwergefallen?
Und wie! Nachdem ich meinen Herausgebern der FAZ sofort mitgeteilt habe, dass es ein reizvolles Angebot vom ZDF gibt, habe ich es mir Monate lang überlegt. Denn meinen Posten bei der FAZ habe ich geliebt, ich hatte bei der FAZ alle Freiheiten und eine großartige Redaktion. Um es ein wenig pathetisch auszudrücken: Eine glückliche Beziehung habe ich verlassen für etwas Neues, das ich spannend fand…

Meinen Posten bei der FAZ habe ich geliebt, ich hatte bei der FAZ alle Freiheiten und eine großartige Redaktion. Um es ein wenig pathetisch auszudrücken: Eine glückliche Beziehung habe ich verlassen für etwas Neues, das ich spannend fand…
Wulf Schmiese über seinen Wechsel zum ZDF
Wie viel Zeit bleibt Ihnen täglich, um sich politisch zu informieren? Schaffen Sie es noch, in die FAZ zu schauen?
Selbstverständlich täglich! Fernseh- und Print-Journalismus gehen Hand in Hand. Der Morgen beginnt mit FAZ, Süddeutscher und Spiegel online. Zudem versuche ich weiterhin, möglichst viel aus erster Hand erfahren. Deshalb pflege ich meine Kontakte nach Berlin in die Innen- und Außenpolitik. Gespräche mit Regierung, Opposition und Fachleuten in- und außerhalb der Politik helfen bei der Einschätzung.

Ein erstes großes Ereignis in Ihrer Zeit als «heute journal»-Redaktionsleiter bildete der G20-Gifpel in Hamburg. Können Sie zusammenfassen, wie Sie diese Tage in der Redaktion erlebt haben?
Die Gipfel-Tage selbst war ich als Beobachter und Berichterstatter in Hamburg. Unseren Konferenzen war ich zugeschaltet. So konnte ich mitten aus dem Geschehen vorschlagen, was wir wie aufgreifen sollten. In Mainz hatten die Kollegen die ganze Lage im Blick – das ergänzte sich gut.

Am Ende wurde die Berichterstattung zum Treffen von Krawallen dominiert. Wurde über die politischen Aspekte des Treffens zu wenig berichtet?
Nicht bei uns. Die Gefahr haben wir in der Redaktion von Anfang an gesehen. In unseren Sendungen haben wir uns immer erst der Politik gewidmet: Wie verlief die erste Begegnung zwischen Putin und Trump? Wie das Aufeinandertreffen von Merkel und Erdogan? Auch die friedlichen Gegner von G20 standen in unseren Sendungen weit vorn. Erst danach haben wir über die gewalttätigen Auseinandersetzungen berichtet.

So langsam geht auch der Bundestagswahlkampf in die heiße Phase. Wissen Sie schon, welche Akzente Sie im «heute journal» setzen wollen?
Da sind wir gerade mitten in den Planungen. Klar ist, dass wir auf die vielen Ehrenamtlichen hinweisen wollen, die politisch aktiv sind. Zum Beispiel die, die Wahlkampfstände aufbauen oder demnächst Plakate kleben werden. Es sind ja Abertausende, die sich politisch engagieren. Ihnen wird häufig zu wenig Beachtung geschenkt. Ohne diese Menschen liefe unsere Demokratie nicht rund. Wir wollen zeigen, für welche Ideale sie stehen. Das ist zumindest ein Aspekt, den wir uns vornehmen.

Bei einem Blick auf die derzeitigen Umfrage-Werte der SPD: Wie spannend kann der Wahlkampf 2017 noch werden?
Niemand weiß, wie es kommt. Über Nacht kann sich die Lage ändern, wir leben in Zeiten der politischen Überrumpelung. Der vielzitierte Brexit oder die Wahl von Trump - solche Ergebnisse hatten wenige auf dem Zettel. Selbst das Türkei-Referendum ging am Ende denkbar knapp aus. Wie es in Polen weitergeht, weiß man auch nicht. Wir haben noch etliche Sonntage bis zur Wahl. Ein von Flüchtlingen verübter Anschlag kann für Angela Merkel als vermeintliche Flüchtlingskanzlerin ein unberechenbares Problem sein. Oder eine Leak-Affäre, mit deftigen Veröffentlichungen aus dem Adenauer-Haus… Das alles ist natürlich komplett ins Blaue gesprochen.

Die Zeit anschwellender Anti-EU-Stimmung war damit vorbei. Viele in Europa merken, dass man - bei allen Schwierigkeiten - in der Gemeinschaft stärker ist als alleine. Auch Wutbürger erkennen derzeit, dass Wutwähler ein Scherbengericht angerichtet haben.
Dr. Wulf Schmiese
„Die Themen des Tages gewichten und einordnen“: So bezeichnete Anne Reidt 2013 bei Quotenmeter.de die Erfolgsformel des «heute journal». Inzwischen sehen einige Menschen genau darin aber Meinungsmache. Exemplarisch hierfür ist wohl der Vorwurf der Lügenpresse. Kann das für das «heute journal» zur Bedrohung werden?
Nein, denn Einordnungen sind keine Lügen. Unsere Sendung hat ja das Wort „journal“ im Titel - folglich gehört das Format in den Magazin-Journalismus, der von uns Einordnung erwartet - ähnlich wie in gedruckten Magazinen, etwa bei Zeit und Spiegel. Glasklar abgesetzt davon sind die Nachrichtenblöcke in unserer Sendung - die sollen so wenig interpretierbar sein wie möglich.
Einordnungen gibt es im «heute journal» übrigens seit 39 Jahren. Deshalb schauen und folgen uns täglich viele Millionen Zuschauer. Mein Eindruck ist, dass die Schar der Kritiker des Bewährten wieder leiser wird angesichts radikaler Umbrüche andernorts.

Waren Trump und der Brexit also eine Art Warnschüsse?
Ganz bestimmt. Der Brexit scheint ein Desaster für Großbritannien zu werden. Die Zeit anschwellender Anti-EU-Stimmung war damit vorbei. Viele in Europa merken, dass man - bei allen Schwierigkeiten - in der Gemeinschaft stärker ist als alleine. Auch Wutbürger erkennen derzeit, dass Wutwähler ein Scherbengericht angerichtet haben.

Nächstes Jahr - Sie erwähnten es bereits - feiert das «heute journal» 40. Geburtstag. Ist die Party schon geplant?
Nein, aber danke für die gute Idee! Da wird uns noch etwas zu einfallen, in der Redaktion denken wir immer von Tag zu Tag und sind sehr lässig, was solche Planungen angeht.

Anderes Thema: Wissen Sie, wen Stefan Raab in «TV total» einmal als „coolsten Mann im ZDF“ bezeichnete?
(lacht) Wenn Sie schon so fragen… hat er vielleicht mich gemeint?

Zur Person: Dr. Wulf Schmiese

Schmiese wurde 1967 in Münster geboren. Er studierte Geschichte, Politik und Nordamerikanistik in Münster und ab 1989 in Berlin. Nach einem Forschungsaufenthalt in New York und der Ausbildung zum Redakteur in verschiedenen Redaktionen promovierte er 1998 an der FU Berlin in Geschichte. Neun Jahre lang war er daraufhin für die FAZ tätig, bevor er 2010 als Hauptmoderator des «ZDF Morgenmagazins» ins Fernseh-Geschäft wechselte. Seit 2014 war er als Korrespondent im ZDF-Hauptstadtstudio tätig, im Frühjahr dieses Jahres kam er für den Posten des «heute journal»-Redaktionsleiters nach Mainz. Schmiese ist verheiratet und Vater von drei Kindern.
Genau. Es ging um Ihre Moderationen im «Morgenmagazin», die damals von dem einen oder anderen auf den Arm genommen wurden. Unter anderem Stefan Raab in «TV total» und Oliver Welke in der «heute show» parodierten Sie. Fiel es Ihnen damals schwer, darüber zu lachen?
Sagen wir’s mal so: Erst war ich schon etwas erstaunt und verunsichert. Manches fand ich auch witzig. Anderes nur mäßig lustig. So erging es den Machern dann wohl auch bald. Aber klar, dass Stefan Raab und Oliver Welke Stoff für Ihre Sendungen brauchten, und wenn dann jemand wie ich als Neuling anders auftrat, kam denen das sehr gelegen. Wir sind ein Medium, und in Medien werden seit Jahrhunderten Handelnde karikiert. Dann müssen wir auch selbst damit klarkommen, wenn es mal uns selbst trifft. Heute lache ich sehr darüber, und zwar in good terms mit Olli Welke!

Sie sind jetzt Redaktionsleiter der erfolgreichsten Nachrichtensendung Deutschlands. Gibt es für einen politischen Journalist eigentlich noch mehr zu erreichen?
Das ist eine nette Frage, die ich nicht beantworten kann, weil ich viele Positionen einfach nicht kenne. Was ich sagen kann, ist, dass ich echt glücklich bin, hier arbeiten zu dürfen. Obwohl das nie mein Ziel war. Jetzt gerade schaue ich von meinem Büro über die Felder rund um den Lerchenberg weit ins Land hinein - klingt weit weg von allem, ist aber ein guter Ort für Fernblick.

Von Mainz aus können Sie den Menschen besser auf den Zahn fühlen als in Berlin?
Frank Schirrmacher, der frühere Mitherausgeber der FAZ, wollte 2001, als die FAS auf den Markt kam, am liebsten die ganze FAZ nach Berlin versetzten, was aber schon deshalb nicht ging, weil die Zeitung „Frankfurt“ im Namen trägt. Das inhaltliche Argument aber gegen den Umzug war, dass man in der Hauptstadt manchmal Gefahr läuft, den Wald vor lauter Bäumen aus den Augen zu verlieren. Gut möglich also, dass wir auch hier in Mainz leichter den Blick aufs Ganze haben!
03.08.2017 11:37 Uhr  •  David Grzeschik Kurz-URL: qmde.de/94802