Die glorreichen 6 – Beeindruckende Kammerspiele (Teil IV)
Begrenzter Raum, unbegrenzter Filmgenuss: Wir präsentieren sechs filmische Kammerspiele – mal humorvoll, mal hochspannend. Dieses Mal stellen wir den spanischen Heimkino-Renner «Der unsichtbare Gast» vor.
Darsteller: Mario Casas, Ana Wagener, Jose Coronado, Jose Coronado, Francesc Orella
Musik: Fernando Velázquez
Kamera: Xavi Giménez
Schnitt: Jaume Martí
Veröffentlichungsjahr: 2016
Laufzeit: 106 Minuten
FSK: ab 16 Jahren
Ein verschlossener Raum, eine Leiche und ein dringend Tatverdächtiger: Der erfolgreiche Geschäftsmann Adrián Doria (Mario Casas), gleichzeitig der Liebhaber der Toten. Frau und Tochter hat er in der Folge bereits verloren, ebenfalls den Kampf um die öffentliche Meinung. Bis die Anwältin Virginia Goodman (Ana Wagener) an seine Tür klopft – mit neuem Zeugen und neuen Fragen im Gepäck. Der Beginn eines nervenaufreibenden Katz- und Mausspiels, in dessen Verlauf die Geschichte von Adrián immer neue Löcher, aber auch immer neue, atemberaubende Wendungen erhält.
Der Schauplatz
Die Frage, ob der spanische Thriller «Der unsichtbare Gast» ein Kammerspiel ist, oder nicht, ist auf den ersten Blick gar nicht so leicht zu beantworten. Tatsächlich spielt der düstere Crime-Film nämlich gar nicht ausschließlich an einem Ort, doch für den Handlungsverlauf relevant, ist in erster Linie die Frage, was sich genau wann und wo ereignet: Das sich nahezu in Echtzeit abspielende Verhör, Kernstück des Thrillers, findet im Rahmen der vier Wände eines Hotelzimmers statt. Nach draußen begibt sich Regisseur Oriol Paulo (schon sein «The Body» konzentrierte sich ausschließlich auf eine Kulisse) lediglich dafür, um die im Film wichtigen Rückblenden zu veranschaulichen.
Dreh- und Angelpunkt der Handlung sind die Gespräche und die Intensität des verbalen Austauschs zwischen Anwältin und Mandant. «Der unsichtbare Gast» bräuchte die Bebilderung der von Adrián geschilderten Ereignisse nicht einmal. Die größte Kraft geht von den Dialogen aus - damit sehen wir den Status von «Der unsichtbare Gast» als Kammerspiel trotz kurzer Abstecher in andere Settings außerhalb des Hotelzimmers erfüllt.
Die 6 glorreichen Aspekte von «Der unsichtbare Gast»
Ein des Mordes angeklagter Mann schildert seiner Anwältin die Tat und ihre Hintergründe aus seiner Sicht – bis diese den Ball zurückspielt und sich die wildesten Theorien zusammenspinnt, wie es vermutlich auch die verhandelnden Richter und Staatsanwälte tun würden, wenn sie den Angeklagten in die Mangel nehmen. Der besondere Clou: Wir als Zuschauer wissen zu keinem Zeitpunkt, welche Fassung eigentlich der Wahrheit entspricht. Drehbuchautor und Regisseur Oriol Paulo lässt sich erzählerisch zwar so weit in die Karten gucken, dass ersichtlich ist, wessen Erzählungen das Publikum gerade Folge leistet. Doch die dadurch stets vollkommen subjektive Erzählperspektive formt das Geschehen auf ihre eigene Weise. Mitunter widersprechen sich die sich nach und nach doppelnden Rückblenden immer mehr – und Paulo ist ein so geradliniger Geschichtenerzähler, dass für den Moment nie infrage gestellt wird, dass das jetzt nun aber wirklich der Wahrheit entspricht. Dieses Konzept der sich in jeder Szene abwechselnden Erzählperspektiven könnte vor allem dann schief gehen, wenn die Darsteller diesem permanenten Wechsel nicht gewachsen wären; immerhin sollte man Mario Casas («69 Tage Hoffnung») sowohl den potenziellen Mörder, als auch das brave Unschuldslamm (oder eben den „Businessman of the Year“) glaubhaft abnehmen. Dasselbe gilt für Hauptdarstellerin Bárbara Lennie («Die Haut, in der ich wohne») sowie für die undurchsichtige Ana Wegener («Fliegende Liebende») als knallharte Anwältin Virginia Goodman, die so etwas wie Good und Bad Cop in einem ist.
Das Ensemble trägt diese schwierige Aufgabe souverän auf seinen Schultern und bleibt trotz des permanenten Perspektivwechsels jederzeit glaubhaft fokussiert. In der Position des mutmaßlichen Mörders verleiht Mario Casas seinem Adrián jene Gefühlskälte, die es braucht, um auch den Zuschauer davon zu überzeugen, dass hinter der hübschen Stirn finstere seelische Abgründe schlummern könnten. Im nächsten Moment erscheint er wie das Opfer einer um ihn herum gesponnenen Intrige, was er mit Zerbrechlichkeit und Unsicherheit hervorragend unterstreicht. Auch die Ermordete, jedoch über große Teile der Laufzeit in den Rückblenden auftauchende Bárbara Lennie schafft es gekonnt, den Zuschauer um den Finger zu wickeln – ist sie doch je nach Perspektive mal ein eiskaltes Luder und mal einfach nur das von ihrer Affäre erschlagene Opfer. Besonders intensiv gerät außerdem die Performance von Ana Wegener, die ganz und gar in ihrer Rolle der abgebrühten Anwältin aufgeht, das Gefühl, mit allen Wassern gewaschen zu sein, jedoch auch abseits ihrer beruflichen Tätigkeit transportiert. Ergänzt wird der Cast durch eine Handvoll wichtiger Nebendarsteller, doch um nicht zu viel Aufschluss über den Handlungsverlauf zu geben, seien diese an dieser Stelle nicht weiter beleuchtet. Tatsächlich entfaltet sich «Der unsichtbare Gast» dann nämlich am besten, wenn man im Voraus möglichst wenig über die Geschichte weiß.
Im Original heißt «Der unsichtbare Gast» «Contratiempo», was auf Deutsch soviel bedeutet wie „Widrigkeit“ oder „Unannehmlichkeit“. Obwohl der deutsche Titel die inszenatorische Ähnlichkeit zu diversen Hitchcock-Thrillern unterstreichen kann, trifft es die Aussage des Originaltitels doch deutlich besser; der Film ist nämlich nicht bloß ein spannendes Verwirrspiel mit dem Zuschauer und stellt ein intensives Machtspiel zwischen Angeklagtem und Anwältin dar. Er ist obendrein auch eine bitter-zynische Veranschaulichung der Mechanismen innerhalb unserer Gesellschaft, in der ein Mord manchmal nicht mehr ist, als ein unangenehmer Image-Schaden, den es zu verheimlichen gilt. Mit den oberen Zehntausend wird gnadenlos abgerechnet, während die Aufgaben von Polizei und Rechtsstaat kontinuierlich infrage gestellt werden. Passend dazu kleidet Kameramann Xavi Giménez («Der Maschinist») seinen Film in pessimistisch-düstere Bilder, die an «House of Cards» und «Shining» erinnern, während Komponist Fernando Velázquez («Sieben Minuten nach Mitternacht») den Film in ein subtil-bedrohliches Musikgewand kleidet. Die zwischenzeitlich eingeschobenen Beziehungsdramaelemente fallen gegen die eigentliche Aufklärungsarbeit ein wenig ab und scheinen eher wie notgedrungen ins Skript eingefügt. Diese Kleinigkeit lässt sich jedoch hervorragend verschmerzen, wenn man bedenkt, dass Zeugen auch im echten Leben nicht unbedingt immer das erzählen, was für den Kriminalfall eigentlich relevant ist.
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