«Marvel's Daredevil»: Overhype mit dem extra Kick an Prügelei

Nicht nur die IMDb-User zählen die Superheldenserie von Marvel und Netflix zu den besten TV-Serien aller Zeiten. Unser "Serientäter" Sidney Schering steht ratlos vor diesem Hype und versucht sich an einem Widerspruch, der nicht so zähflüssig ist wie die Serie, die er kritisiert.

«Marvel's Daredevil»-Cast

  • Charlie Cox
  • Deborah Ann Woll
  • Elden Henson
  • Toby Leonard Moore
  • Vondie Curtis-Hall
  • Bob Gunton
  • Ayelet Zurer
  • Rosario Dawson
  • Vincent D'Onofrio
  • Jon Bernthal
  • Élodie Yung
  • Stephen Rider
Die Geschichte eines blinden Anwalts, der bei Nacht als kostümierter Rächer das Recht selbst in die Hand nimmt, gehört diversen Quellen zufolge zu den meistgesehenen Eigenproduktionen des Streaminggiganten Netflix – und die beachtliche Fanbasis von «Marvel's Daredevil» ruft dieses Superheldendrama seit 2015 beharrlich als eine der besten Serien der TV-Geschichte aus. Doch wenn man mich fragt, ist «Marvel's Daredevil» ein Paradebeispiel dafür, wie sehr sich Menschen blenden lassen. Nach einer langen Reihe an jugendtauglichen Filmen wagte sich Marvel mit dieser zum "Marvel Cinematic Universe" zählenden Produktion in andere Gefilde vor: Die erste Staffel erhielt von der FSK in Deutschland eine Altersfreigabe ab 16 Jahren, Runde zwei wurde sogar mit einer 18er versehen. Eine düstere, schattige Ästhetik und ein hoher Grad an Gewalt, die alles andere als zimperlich ist, machten «Marvel's Daredevil» zu einem gewaltigen Ausreißer aus dem sonstigen Stoff seines Medien-Franchises. Und, oh, anders ist mutig, Gewalt ist was für Erwachsene, also ist «Daredevil» ein mutiges Marvel für Erwachsene, und wer das zu verdauen weiß, darf sich somit als besonders reif feiern und auf andere Marvel-Fans herabblicken. Geil …

Okay, wer meinen kleinen Anflug an Polemik durchstanden hat und diesem Artikel weiterhin die Stange hält, hat a) einen größeren dramaturgischen Schub mitgemacht als in 26 Folgen «Marvel's Daredevil» und b) ein Anrecht darauf, zu fordern, dass ich meine feisten Querschüsse erläutere. Rummaulen, «Marvel's Daredevil» seit brutal überbewertet und danach nicht zu liefern, ist immerhin genauso aggressiv und hohl, wie unentwegt zu poltern, «Marvel's Daredevil» sei ein beispielloser Geniestreich, ohne mehr Argumente zu liefern also "Ja, das ist so … düster! Und brutal!"

Ein grau-schwarz-blutroter Klecks


Ich weiß ja nicht, wie es euch geht. Aber wenn ich versuche, mich an «Marvel's Daredevil» zu erinnern, verschwimmen die mehr als 20 Fernsehstunden zu einem einzigen, unförmigen Fleck. Bei praktisch jeder Serie, die ich gesehen habe, egal ob gut oder schlecht, stechen mehrere Episoden hervor. Aber bei der vermeintlichen Speerspitze der Superhelden-Serienunterhaltung bin ich aufgeschmissen. War ich etwa dermaßen unaufmerksam, dass die Serie in meiner Erinnerung verschwimmt?

Nein. Zur Vorbereitung auf diesen Artikel habe ich mich noch einmal in das Meer an Folgenzusammenfassungen geworfen, das unser geliebtes Internet zu bieten hat. Und, siehe da: «Marvel's Daredevil» ist noch formelhafter als eine Durchschnittssitcom aus den 90er-Jahren. Kein Wunder, dass in meiner Erinnerung die Serie zu einer wahllosen Aneinanderreihung von Seitenstraßen-, Flur-, und Hausdachprügeleien und ellenlangen Gesprächen mutiert. So richtiges erzählerisches Momentum gibt es in «Marvel's Daredevil» nicht, und so fällt es schwer, die Kämpfe zu untereilen, in "Oh, der Kampf, in dem es um X ging, und durch diesen lernten wir Y". Ja, hübsch sehen sie aus, und mit der an «Oldboy» angelehnten Plansequenz in Staffel eins gibt es auch einen Kampf, der stilistisch hervorsticht. Aber sonst? Abwechslung ist nicht die größte Stärke der «Daredevil»-Stuntchoreographen. Für Binge-Watching-Fanatiker mag das reichen – die können am nächsten Arbeitstag allen Kollegen vorschwärmen, dass «Marvel's Daredevil» so viele tolle Faust- und Messerkämpfe hat. Da ist es egal, wenn sie die beim Nacherzählen durcheinanderwerfen. Doch wäre es wirklich zu viel verlangt, etwas mehr Kreativität aufzubringen?

Gemeinhin wirkt «Marvel's Daredevil» wie eine Antithese zur ständig geäußerten Behauptung, Netflix sei frei von den Zwängen des klassischen Fernsehens. Denn beide Seasons dieser Superheldenserie bersten geradezu vor erzählerischem Leerlauf, so, als wären die Showrunner beim Versuch verzweifelt, 13-teilige Staffeln einer Serie mit rund 50-minütigen Episoden abzuliefern. Acht Folgen zu je 40 Minuten hätten es wesentlich besser getan. Dann müssten Karen Page (Deborah Ann Woll) und Foggy Nelson (Elden Henson) nicht andauernd Gespräche zu Dingen führen, über die sie in leicht anderen Worten schon einmal gesprochen haben. Dann müssten die Hauptdarsteller keine Sechs-Minuten-Monologe führen, in denen alles anhält, damit sie ihre tränenreiche Kindheitserinnerung/Freundschaftsanekdoten bis ins kleinste Detail skizzieren können.

Diese pathetischen Analogien über aktuelle Herausforderungen der Figuren zerbrechen die selbstauferlegte Bürde der Serie, überrealistisch und nass-grau-dreckig zu sein – denn selbst in Christopher-Nolan-Filmen, wo hypnotische Monologe Alltag sind, hält niemand so lange inne, um jemandem zuzuhören, geschweige denn in der Wirklichkeit. «Marvel's Daredevil» guckt sich wie ein sogenannter "Assembly Cut". So nennt man im Filmfachjargon die Version eines Films, die wirklich alle gefilmten Szenen und Dialogzeilen beinhaltet. Sie sind gemeinhin ungeheuerlich lang und werden kleingeschliffen, wenn die Regie und das Cutter-Team nach und nach das ganze Fett wegschneiden – zu lange Szenenübergänge, Dialoge, die eine Gesprächsschlaufe zu viel machen, und so weiter. «Marvel's Daredevil» wirft einem dagegen alles vor die Füße, egal, wie unwichtig es ist. Wie etwa einen überdramatischen Krach zwischen dem Protagonisten und dessen besten Freund, der so absolut überhaupt gar nicht damit klar kommt, dass er der Selbstjustiz verübende Daredevil ist. Viel Gezeter später ist es dann so, als sei nie was gewesen. Aber, hey, Netflix hat uns 40 Minuten länger online gehalten. Freude!
«Marvel's Daredevil» ist ...
... großartig, was soll dieser Artikel?!
44,8%
... sehr gut, aber, ja, die Serie hat Schwächen.
33,9%
... mir unbekannt.
12,6%
... schwach, ich stimme dem Artikel zu!
8,6%

Es ist nicht alles Dreck, was farbentsättigt ist


Doch egal, wie seelenlos die ganze Schar an Nebenfiguren ist, ganz egal, wie sehr die vielen guten Kämpfe verschwimmen und wie sperrig die vermeintlich tiefschürfenden Dialoge über Gut und Böse, Moral und Pflicht sein mögen: «Marvel's Daredevil» ist kein völlig hoffnungsloser Fall. Charlie Cox ist in seiner "Doppelrolle" als Anwalt und Rächer magnetisch, Vincent D’Onofrio hat als Kingpin eine enorme Präsenz (selbst wenn der Plan des schurkischen Immobilenhais, mal unter uns gesprochen, für die Katz ist) und Rosaria Dawson ist als empathische Krankenschwester mit großem Mundwerk eine echte Wohltat. Jon Bernthal als Punisher fällt dagegen in die Kategorie "Er macht keinen schlechten Job, aber warum genau gehen jetzt alle total auf ihn ab?" …

Kurzum: Aufgegeben habe ich «Marvel's Daredevil» noch lange nicht. Cox' Spiel und die immer gleichen, aber auch immer gelungenen Kampfszenen hielten mich als Zuschauer beschäftigt genug, mich durch die ersten zwei Staffeln zu kämpfen. Sie sind ja wahrlich kein Grauen – nur halt auch echt nicht gut. Trotzdem ich werde mich durch Staffel drei schlagen, wenn sie eines Tages online geht – vielleicht hat die ja weniger "Bla Bla" und endlich mehr Gehalt?

Syfy wiederholt ab Donnerstag, den 6. August 2020, die dritte Staffel von «Daredevil». Außerdem sind alle Folgen bei Netflix abrufbar.
15.08.2017 12:05 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/95118