Das Ende von «LOST» hält einer verkorksten Gesellschaft unbewusst den Spiegel vor - und ist nebenbei viel besser als sein Ruf

Für viele Genrefans war «LOST» sechs Jahre lang die Serie überhaupt. Das Ende jedoch scheint den positiven Eindruck weitestgehend zunicht gemacht zu haben. Doch zurecht? Wie gestaltet sich das Erbe der Serie sieben Jahre nach Ausstrahlung der letzten Episode?

Es gibt Phänomene, die überdauern Zeit und Raum - so wirkt es jedenfalls. Obwohl die ABC-Serie «LOST» bereits 2010 endete, spaltet die Art, wie man dieses Ende gestaltete, noch heute die ehemaligen Fans der Serie.

Zwar wird mit dem Abstand von sieben Jahren bei Weitem nicht mehr so hitzig debattiert, kritisiert und seziert wie damals, aber dafür mindestens noch genauso emotional. Doch woran lag es überhaupt, dass die letzten Momente der Serie einen derart schweren Stand hatten?

Genaugenommen gibt es auf diese Frage auch gar nicht die eine, sondern eher zwei Kernantworten. Diese betreffen auf der einen Seite auch gar nicht exklusiv das Finale der Serie, also die letzte Episode, sondern mindestens die letzte Staffel und auf der anderen Seite sogar die gesamte Serie an sich.

Faktor 1: Crashed, Lost, Forgotten - Die unvollständige Mythologie


Es war spontane Liebe, als ABC 2004 die neue Serie von Mastermind J. J. Abrams ins Programm hievte. «LOST» erzählte die Geschichte des Fluges Oceanic 815 von Australien nach Los Angeles, der unter mysteriösen Umständen ein jähes Ende auf einer scheinbar unbewohnten Insel fand. Das Publikum fand bereits zum Auftakt in Scharen den Weg zur Show - Abrams war ein ganz heißes Ding gelungen.

Bereits mit den ersten Episoden legte man den Grundstein für eine Mythologie, die mit jeder Episode anwachsen sollte. Mysteriöse Zahlen, ein Rauchmonster, Eisbären, sonderbare Bewohner, Erscheinungen und später Zeitreisen, eine Organisation und weitere Player wie Ben Linus, Jacob oder Richard machten aus der Inselidylle ein schier unüberschauberes Konstrukt, bei dem mehr und mehr Zuschauer ausstiegen oder nach Antworten riefen, die in Teilen kamen, aber niemals alles abdecken konnten.

Und wirklich: Diverse eingeführte Elemente entpuppten sich am Ende als Deus Ex Machina. Die Produzenten reicherten den Plot mit ihnen an, um falsche Fährten zu legen, auf Zeit zu spielen oder hatten gar etwas anderes vor, mussten ihren Plan aber dann anpassen. Nicht schön, aber auch keine ganz neue Entwicklung bei Serien, die über mehrere Jahre laufen und den Konventionen des Network-TV unterworfen sind.

Das meiste jedoch ergibt in der Rückschau erfreulich viel Sinn - was ich bis heute alles vollkommen ausreichend erachte. Dennoch kann ich auch jeden Fan von Herzen verstehen, dem hier und da eine schlüssige Auflösung fehlte.

Faktor 2: Faith vs Science: Der emotionale Kern


Doch gab es neben den losen Enden der Mythologie noch einen anderen Punkt, der im Fokus der Kritiker landete - wenngleich ich vermute, dass bei Vielen im ersten Moment mangelndes Verstehen für die Intention der Autoren der Grund war. In der letzten Staffel wurde eine Nebenhandlung eingeführt, bei der Flug Oceanic 815 sicher in Los Angeles landete und man zu sehen bekam, was in der Folgezeit aus den Losties wurde. Diese sogenannten Flash Sideways zeigten im Kontrast zu den Rückblenden und Sprüngen in die Zukunft, die die Serie bereits von Beginn an etabliert hatte, keine wirklich linear erzählte Handlung sondern einen gemeinsamen Ort, den sich diese Gruppe Menschen durch ihre gemeinsame Erfahrung als eine Art Vorraum zum Jenseits erschaffen hatte.

Außerhalb von Zeit, Raum und Vorstellungskraft trafen sich hier alle Charaktere weit nachdem alle verstorben waren wieder und durften schlussendlich gemeinsam erlöst werden. Erklärbar ist dieses Konstrukt kaum, kreativ und auf eine sehr religiöse Art ergreifend aber ohne Frage. Letztlich sagen die Autoren hier nur aus, dass sich am Ende alle, die einem im Leben wichtig waren, ohne die Fesseln von Leben, Tod, Raum oder Zeit wiedertreffen und die letzte Grenze gemeinsam überschreiten. Unabhängig woran man im Detail glaubt - kann es eine Vorstellung geben, die mehr Kraft und Zuversicht verleiht?

Zugegeben. Es kann dauern, bis man das Gezeigte derart interpretieren und erfassen kann. Dabei gebe ich gerne zu, dass auch ich eine Weile brauchte, bis Erkenntnisse durchsickerten. Und wenn bei Ausstrahlung eines Serienfinales gefühlte 75% der Zuschauer nicht dahinterkommen und „Sie sind also alle von Anfang an tot gewesen!“ rufen, haben die Macher den Bogen vermutlich auch überspannt und das Publikum überfordert oder nicht ausreichend abgeholt. Überspringt man diese Hürde jedoch, ergeben sich viele andere Dinge ganz organisch.

Es gibt Stimmen die behaupten, die Macher der Serie wären am Ende nur derart religiös und charakterorientiert geworden, weil ihnen die eigene Mythologie entglitten und über den Kopf gewachsen sei. Es gibt jedoch simple Gründe, warum ich bis heute nicht an diese Deutung glauben kann.

Es ging bei «LOST» von der ersten Staffel an immer um die Charaktere und ihre Lebensgeschichten. Wie wurden sie zu dem, was sie sind? Was kann aus ihnen werden? Was treibt sie an? Was hemmt sie? Und das über das Stilmittel der Rückblenden ausufernd wie in keiner Serie zuvor oder danach. Die Vergangenheit war vom ersten Moment an ebenso wichtig wie die Haupthandlung auf der Insel.

Und am Ende der Serie ging es dann fast nur noch um die Charaktere und ihre Lebensgeschichte - konsequent, detailreich, emotional und liebevoll gezeichnet bis zum Ende, dem Tod. Hier gibt es keinen Widerspruch, hier gibt es nur Maßarbeit. Fehlerbehaftet hier und da - aber im Kern immer mit dem Herz am rechten Fleck.

Nebenbei war es Jacks Vater, der am Ende die Losties ins Licht führte. Dass dieser Charakter bereits ganz zu Beginn der Serie eingeführt wurde und Christian Shephard, sinngemäß und frei übersetzt also Christus, der Hirte, heißt, ist mit Sicherheit nicht als reiner Zufall abzutun, oder? Kurz und auf einen der zentralen Charaktere gemünzt: Jack Shephard folgte dem Sarg seines verstorbenen Vaters (mit dem ihn viele lose Enden verbanden) nach Los Angeles, geriet dabei auf die Insel, setzte sich endlich mit sich und seinem Leben auseinander und folgte am Ende des Weges dem Abbild seines Vaters mit allen, die ihm auf diesem letzten Weg etwas bedeutet hatten, in die Ewigkeit. So erging es vielen Charakteren. Klingt nicht, als hätte man sich diesen Background tatsächlich erst ganz spät überlegt.

Wenn man es auf einen ganz simplen Nenner herunterbrechen will, ist «LOST» die wahrscheinlich längste und anrührendste, hoffnungsvollste und das Leben und die Liebe feiernde als Mystery-Serie getarnte Sonntagspredigt, die das TV je erlebt hat.

Wir leben in unserem eigenen, kleinen Gefängnis


Was uns zu einem Punkt führt, der alle Fragen zur Serienmythologie oder zum Sinn oder Unsinn einer explizit religiösen Auflösung der Gesamthandlung ins Nichts führt. Woran wir als TV-Konsumenten scheitern, ist oft das Gleiche, woran wir tagtäglich im Leben scheitern. Wir versehen Mitmenschen, Lebenspartner, Eltern, Nachbarn, Kollegen, Freunde, Taxifahrer und den Zeitungsjungen mit einer individuellen Erwartungshaltung. Der Abgleich zwischen dieser Erwartung und der Realität führt dabei zumeist nicht zu Deckungsgleichheit. Die Menschen ticken eben verschieden und lassen sich schwer in Raster oder Schubladen pressen. Diese Diskrepanz führt dann ebenso oft zu Unmut - einseitig oder beidseitig. Doch gehen wir nicht nur bei den Menschen in unserem Umfeld auf diese Weise vor. Wir stülpen unsere Erwartungshaltung auch auf die Qualität eines Restaurants, auf Filme, neue CDs, Konzertbesuche, Festivitäten, Geschenke oder Events. Nur die wenigsten Zeitgenossen schaffen es, ohne ein Raster aus Wünschen, Mindestanforderungen und selbst auferlegten Bedingungen in eine Situation zu gehen. Wie sollten sie auch? Dieses Verhalten ist ur-menschlich. Und auch hier führt der Abgleich zwischen Erwartungshaltung und Realität oft nicht zu Deckungsgleichheit - und in der Summe wieder zu Frust.

This is the place that you all made together so that you could find one another. The most important part of your life was the time that you spent with these people. That’s why all of you are here. Nobody does it alone, Jack. You needed all of them and they needed you.
Christian Shephard
In diese Falle ist auch «LOST» bei vielen Menschen getappt. Man baute große Mysterien auf, die es aufzulösen galt. Wie diese Auflösungen auszusehen hatten, darüber wurde zudem jahrelang haarklein gesprochen, geschrieben oder geunkt. Kaum eine Serie musste und durfte mehr Interpretationsversuche und Theorien über sich ergehen lassen, als «LOST». Und plötzlich war es an der Zeit, mit anzusehen, dass die Produzenten einen gänzlich anderen Weg einschlugen. Einen Weg, der Fragen offen ließ, der Erwartungen enttäuschte und an dem aufgebauten Idealbild vieler scheiterte. Krachend scheiterte sogar. Dabei fordert uns gerade eine Erzählung dieser Art auf so besondere Weise heraus. Wir sind gezwungen aus dem Nichts heraus unsere eingefahrenen Denkmuster über den Haufen zu werfen und uns einzulassen. Einlassen, auf etwas Neues, Anderes, Verwirrendes. Etwas, das für den Moment nicht in unser Weltbild passen will. Das ist ambitioniert und definitiv keine leichte Kost. Schon gar nicht, wenn dazu ein Bereich wie der Glaube herangezogen wird, der so viele Menschen verbindet - und zugleich auf das Schärfste teilt, das darüber Kämpfe, Terror und Gewalt zum Einsatz kommen.

Ich will gar nicht behaupten, dass die Autoren es den Zuschauern leicht gemacht hätten. Vielmehr mussten sie sich vorwerfen lassen, sie hätten es sich selber viel zu leicht gemacht. Doch ob dieser Vorwurf angesichts einer Serie, die durchgehend so nah am Menschsein agierte und bis zum Schluss nie den Fokus verlor, wirklich haltbar ist? «LOST» hat einen komplexen Cast vom Damals über das Jetzt bis hin zum Danach und noch darüber hinaus gezeichnet. Hat Motivationen hinterfragt, Entscheidungen grundiert, Entwicklungen unterfüttert und immer wieder gefragt: Wer sind wir? Und wo gehen wir hin? Das ist existentialistisches TV. Das ist viel mehr als das Gros an Unterhaltungssendungen bereit wäre, überhaupt nur anzufassen.

Amen


«LOST» war damals und ist heute noch eine wunderbare Serie über Menschen, ihren Lebensweg und Werdegang, ihre Sozialisation und ihr Streben nach Liebe, Glück und innerem Frieden. Sie erzählt uns von den Dämonen und Versäumnissen, den losen Enden und stellt die alles umfassenden Frage nach dem Sinn. Wer bin ich? Warum bin ich hier? Wohin führt mich das?

Damit ist «LOST» eine Serie über das, was uns menschlich macht und über den Weg, den wir alle gehen müssen. Dass die Serie außerdem noch eine verspielt-clevere Mystery-Welt baute, die zwar nicht zur Gänze logisch war, aber immer unterhaltsam und intelligent daherkam, macht die Serie in der Summe auch dreizehn Jahre nach dem Start zu einer der feinsten Erzählungen im TV.

Einzige Einschränkung: Man musste bereit sein, sich darauf einzulassen - ganz ohne selbst auferlegte Zwänge der Erwartungshaltung.
27.08.2017 11:00 Uhr  •  Björn Sülter Kurz-URL: qmde.de/95263