Der neue «Tatort» aus der Schwabenmetropole macht sich die Gegebenheiten der gleichnamigen Verkehrssituation zu Nutze. Außerdem wird das in Stuttgart bekannte Thema „Wutbürger“ wieder aufgegriffen.
Cast & Crew
Vor der Kamera:
Richy Müller als Thorsten Lannert
Felix Klare als Sebastian Bootz
Rüdiger Vogler als Günther Lommer
Amelie Kiefer als Sophie Kauert
Bernd Gnann als Kommissar Stolle
Susanne Wuest als Ina Klingelhöfer
Jacob Mateschenz als Bernd Hermann
Sanam Afrashteh als Ceyda Altunordu
u.v.m.
Hinter der Kamera:
Regie: Dietrich Brüggemann
Buch: Dietrich Brüggemann, Daniel Bickermann
Kamera: Andreas Schäfauer
Musik: Dietrich Brüggemann
Produktion: Franziska SpechtDer neue Stuttgarter
«Tatort» nimmt bereits im Titel vorweg, worum sich seine Geschichte hauptsächlich dreht. Ebenso verhält es sich mit den ersten Minuten des von Dietrich Brüggemann geschriebenen und inszenierten Films. Das Wort „Stau“ kann dort gar nicht oft genug fallen. Für viele Autofahrer in und um die deutschen Großstädte ist ein Stau eine unangenehme Alltagssituation: zeitraubend und nervenaufreibend. In einem Autoland wie Deutschland, und speziell einer Autostadt wie Stuttgart drängt sich das Thema nahezu auf – Trotzdem ist es eine frische Idee. Dass ein Stau jedoch nicht nur nervig sein muss, sondern auch ein wunderbarer Aufhänger für eine Kriminalgeschichte sein kann, beweist der neue «Tatort» aus dem Hause SWR:
In einem Wohngebiet steht ein dreijähriger Junge am Fenster und schaut hinaus auf die Straße. Es tut einen Schlag, dann liegt ein halbwüchsiges Mädchen tot auf der Straße, und ein Auto fährt weg. Die Kommissare Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) kommen an den Unfallort, stehen über der Leiche und stellen fest: Die Straße führt aus dem Wohngebiet nur in eine Richtung, mündet in die nächstgrößere Ausfallstraße, und da ist ein großer Feierabendstau. Der Unfall ist gerade mal 20 Minuten her, also steht der Unfallfahrer möglicherweise noch in genau diesem Stau.
Während Bootz also versucht, aus dem dreijährigen Unfallzeugen irgendwie herauszukriegen, was für ein Wagen den Unfall verursacht hat, und andere Zeugen sucht, begibt sich Lannert in den Stau, auf die Weinsteige, wo vor dem großen Panorama einer nächtlichen Stadt nichts vorangeht, und stellt sich der unmöglichen Aufgabe, sämtliche Autofahrer zu befragen, wo sie herkommen, ob sie durch das besagte Wohngebiet gefahren sind und vielleicht irgendwas gesehen haben. Bootz kriegt aus dem Jungen zwar keine Automarke, aber eine andere Information heraus: Das Mädchen wurde aus dem Auto geworfen, behauptet der Dreijährige. War es also gar kein Unfall – sondern ein Sexualdelikt? Ermitteln die Ermittler die ganze Zeit in die falsche Richtung? Im Stau steigt der Unmut und die Zeit wird knapp.
Bereits von Beginn an wird klar: Es ist durchaus clever, einen Stau als große Bühne für einen Krimi auszuwählen. Es gibt keine Möglichkeit für Fahrzeuge, die Szenerie zu verlassen und sich somit der Fahndung zu entziehen. Gleichzeitig gibt es eine dreistellige Anzahl von Fahrzeugen und in Form von deren Insassen unzählige mögliche Verdächtige und Zeugen. Die Masse an Menschen, die dort auf vergleichsweise engem Raum aufeinandertreffen, ermöglicht zudem das Treffen von vielen, ganz unterschiedlichen Charakteren. So bleibt zwar eine ausgiebige Zeichnung dieser Charaktere aus, diese ist aber gar nicht nötig, um der Story Esprit zu verleihen. Es geht nicht um die eine große Geschichte, sondern um viele kleine Geschichten, die auf Fahrersitz und Rückbank der Wägen Platz nehmen. Vom von der Chefin gegängelten Chauffeur, über den sturzbetrunkenen Junggesellenabschied, bis zur Mutter, die eine nervtötende Tochter und deren Musikwünsche ertragen muss.
Somit handelt es sich nicht nur um einen Krimi, sondern auch um eine komödiantische Gesellschaftsstudie. Protagonisten sind die Autofahrer in einer deutschen Großstadt an einem gewöhnlichen Abend. Die Story macht sich die Gegebenheiten der Stausituation zur Nutze und hält die Spannung auf einem konstant guten Niveau. Hinzu kommen einige Wendungen, die zusätzlich für Kurzweil sorgen. Dem «Tatort» aus der Schwabenmetropole gelingt es darüber hinaus, mit kleinen humoristischen Momenten zu punkten. In diesem Metier tut sich speziell die rüstige alte Dame hervor, die Bootz als Zeugin vernimmt. Der breite Dialekt und die resolute Art der von Sabine Hahn verkörperten Frau sorgen für Schmunzler. Zudem bildet die Dame eine vermeintlich schwäbische Spießigkeit ab. Außerdem gibt es einen Verweis auf den Nachrichtendienst Twitter, auf dem die Autofahrer ihrem Ärger Luft machen und über die Situation ihre Witzchen reißen.
Dabei kommt die Geschichte mit lediglich zwei Hauptlocations aus. Kommissar Bootz hält sich fast ausschließlich rund um den Tatort auf und versucht, dem kleinen Zeugen mit der Hilfe von Spielzeugautos und Kritzeleien zu entlocken, wie das tote Mädchen denn nun auf der Straße gelandet ist. Eine Tätigkeit, die dem Wesen des einfühlsamen Polizisten zu Gute kommt. Währenddessen stellt sich Kollege Lannert der undankbaren Herausforderung, die Autofahrer innerhalb des Staus in seiner ihm typischen rauen aber zielführenden Art zu befragen. Da wird auch schon mal darüber hinweggesehen, dass ihm aus einem Transporter der Rauch eines Joints entgegen bläst – schließlich geht es um wichtigeres. Doch nicht nur die schiere Anzahl an zu überprüfenden Fahrzeugen samt Insassen macht ihm das Leben schwer, sondern auch der zunehmende Druck von außen.
Denn der Volkszorn wächst spürbar. Anfänglich sind die Fahrer lediglich dezent genervt aufgrund ihrer Situation, doch mit zunehmender Dauer und dem Gefühl nicht voranzukommen, kippt die Stimmung der Betroffenen und sie machen ihrem Ärger Luft. Und welche Tatort-Stadt würde besser passen, das Thema Wutbürger aufzugreifen, als Stuttgart? Eben. Die Erinnerung an die Proteste gegen das Bahnhof-Projekt Stuttgart 21 ist bei den Einwohnern noch absolut präsent. Es ist offensichtlich, dass das Buch von Dietrich Brüggemann und Daniel Bickermann hier versucht, darauf zu verweisen. Natürlich sind ein überlanger Stau und ein riesiges Bauprojekt mit neunstelligen Kosten gegen den Willen eines Teils der Bevölkerung nicht vergleichbar, allerdings trägt dieser Verweis zum Verstehen der Aufruhr bei. Nach der teils willkürlichen Polizeigewalt von damals genießt die Staatsgewalt nicht mehr bei allen Stuttgartern uneingeschränkten Respekt.
«Tatort - Stau» läuft am Sonntag, 10. September 2017, um 20.15 Uhr im Ersten.