Wie lief der Wahlabend direkt nach den Hochrechnungen im Fernsehen ab und wie lief das funk-Experiment mit diversen YouTube-Gesichtern als Wahlkommentatoren?
24. September 2017, Bundestagswahl in Deutschland. Die AfD holt über 13 Prozent der Stimmen, und wird somit zur drittstärksten Kraft im Bundestag. Auch wenn es mehr als jeder zehnten Person, die wählen ging, entweder egal ist oder sie es sogar befürwortet, so muss es noch einmal mahnend festgehalten werden: Damit ist eine faschistische Partei in den Bundestag eingezogen. Das ist ein Schlag ins Gesicht all jener, die sich unter dem Begriff Freiheit mehr vorstellen als die enge Weltsicht der AfD-Parteispitze. Doch wie gestalteten sich die Reaktionen auf diesen Aufschrei des Wutbürgertums bei den TV-Sendern? Quotenmeter.de zappte sich durch die Wahlberichterstattung im Ersten und im ZDF sowie bei phoenix, Sat.1, RTL, n-tv, N24 und obendrein bei der «Wahlgemeinschaft» von funk.
Etwa alles nur Wahlalltag?
Zähne zeigen? Nur zur Primetime ...
Biss gewann die TV-Wahlberichterstattung erst zur Primetime. Die Elefantenrunde war strittiger als die vergangenen Male und Anne Will demontierte die Plattitüden der AfD sowie das Schuldzuschieben der anderen Parteien in ihrem Talk mit großer Effektivität. Das Ergebnis dieses televisionären Selbstversuchs: Im linearen Fernsehen herrschte "
Business as usual" vor. Punkt 18 Uhr hecheln die Sender durch die ersten Hochrechnungen – die Werte fallen nur um wenige Bruchteile unterschiedlich aus, und nach dem Wahn vergangener Jahre, wo sich die Sender einen Technikkrieg in Sachen aufwändigen Grafiken lieferten, fällt dieses Mal wieder alles eine Spur gemächlicher, überschaubarer aus. Das Erste spurtet am schnellsten durch die üblichen Auswertungen (Prozente, Verluste/Gewinne gegenüber der vergangenen Bundestagswahl, Sitzverteilung), das ZDF folgt dem mit nur wenigen Sekunden Verzögerung, da die Zahlen einen Deut ausführlicher kommentiert werden.
Erste Akzente setzen die Sender daher erst in ihren unterschiedlichen Entscheidungen, welche Inhalte sie direkt nach den ersten Prozentbalken anpacken. Das ZDF sinniert etwas länger über die Koalitionsmöglichkeiten, bei RTL schaltet man am raschesten zur SPD und stellt die Frage, wie sie mit ihrem historischen Tief umgeht. Ein paar Minuten wird hier auch am fixesten thematisiert, dass die SPD es vorzieht, in die Opposition zu gehen. Bei Sat.1, wo die Wahlberichterstattung nur wenig Sendezeit eingeräumt bekommt, hat ein Überblick über die spontanen Reaktionen auf den diversen Wahlpartys Priorität. Bei N24 wird als früher Schwerpunkt das Comeback der FDP gesetzt, n-tv ergattert eines der ausführlichsten frühen Interviews mit Martin Schulz, um zu ergründen, ob er Fraktionschef werden will oder sich eher um die Neustrukturierung der Partei kümmern möchte (Antwort: letzteres).
Und dann beginnt schon das Wettrennen der in den Bundestag ziehenden Parteien, wer wie lange mit den Ansprachen ihrer Spitzenkandidaten die Aufmerksamkeit der Sender behält. Auffällig: Fast immer ziehen alle Sender gleich, wobei stets einer aus der Reihe tanzt und erst später hin- oder wegschaltet. Während etwa alle zu Christian Lindner und der FDP-Party schalten, bleibt N24 am längsten bei Martin Schulz und der SPD, das ZDF wiederum schaltet sich am spätesten zur SPD, um länger von Anti-AfD-Protesten zu berichten. Der erste Bericht darüber wird bei N24 indes rasch abgebrochen, als Cem Özdemir zu seiner Ansprache an seine Grünen Parteikollegen ansetzt.
Was bedeutet diese Besonnenheit?
Generell wurde im ersten Gewusel aus Eindrücken, schnellen Analysen und frühen Koalitionstheorien die Frage "Was machen wir mit der AfD?" nur beiläufig angepackt: Alle Sender haschten mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne von neuen ersten Reaktionen zu den ersten tiefergehenden Stimme der diversen Parteien und zurück, um den Elefanten im Raum zu adressieren. Erst nach über einer Stunde erster Reaktionen wurden bei den Sendern Gesprächsstoffe mit etwas mehr Ruhe angepackt – und nach und nach wurde bei allen Kanälen auch die AfD-Frage gestellt … Zumeist mit derselben Trockenheit wie die Fragen "Wird die Jamaika-Koalition wirklich eintreffen?" und "Welche Wahlthemen hätten Schulz mehr geholfen?"
Stellt sich die Gegenfrage: Ist diese Nüchternheit, sind die diversen "Man muss die AfD differenziert betrachten"-Thesen der richtige oder der falsche Weg? Ein Blick in die sozialen Medien legt nahe: Eine rückwirkende Patentantwort gibt es jedenfalls nicht. Stimmen der Marke "Durch all eure Anti-AfD-Aufrufe habt ihr denen erst zu Aufmerksamkeit und ihren 13 Prozent verholfen" halten sich mit der Gegenthese "Wir haben nicht genug Aufklärung betrieben!" die Waage.
Die Historie zeigt, dass Stillschweigen während des Aufstiegs des faschistischen Gedankenguts nur ins Elend führt, andererseits ließen sich Politik und Medien in den vergangenen vier Jahren zu sehr von den gezielten AfD-Provokationen steuern. Also ist es wohlvernünftig, nicht direkt bei den Analysen der Wahlergebnisse im Fernsehen betrübliche Stimmung heraufzubeschwören. Das schlägt nur die nieder, die sowas gerade in dem Moment nicht brauchen, und stärkt zugleich jene in ihrem verzerrten Bild, die sich in Hass üben. Doch aller Befürwortung für Raison und dem Vermeiden vorschneller Panik: Wenn ein Gauland im Ersten kurz nach der Bekanntgabe der ersten Zahlen über die künftige Bundesregierung sagt, die AfD werde "sie jagen und unser Land und Volk zurückholen", schockiert es, wie still die TV-Sender ihre Füße am Wahlabend gehalten haben und Themen wie Anti-AfD-Proteste, die Wahlreaktionen bei der Linken oder das erneute Aufzeigen der gefährlichen AfD-Wahlziele an den Rand drängten.
Die sofortige kritische Einordnung der AfD-O-Töne im Laufe des Abends wäre das Mindeste gewesen. Aber von sporadischen Fragen an Spitzenpolitiker abgesehen, wie sie im Bundestagsalltag mit den Rechtspopulisten umgehen werden, war es eben doch ein TV-Wahlabend wie jeder andere. Daran ändern auch die sehr ausführlichen Auseinandersetzungen bei N24 mit den Anti-AfD-Protesten und Michel Friedmans Vorschlägen, wie man die Protestwähler wieder mäßigen könnte, nichts. Denn die erfolgten nach 20 Uhr, als Millionen von Menschen wieder zur Primetimenormalität zurückkehrten. Im Sinne der breiten Wahrnehmung gilt also: Mit zahlreichen Eindrücken davon, wie alle großen Parteien freudig eine Wahlparty abhalten und ihr Ergebnis beklatschen, war es einfach nur eine Bundestagswahl. Traurig.
Nicht ganz rund, aber ganz anders: Die Wahlgemeinschaft bei funk
Unter anderem wirkten an «Wahlgemeinschaft» mit ...
- Mirellativegal
- World Wide Wohnzimmer
- MrTrashpack
- Nemi El-Hassan von Jäger & Sammler
- Datteltäter
- Davis Schulz
- Gute Arbeit Originals
- Nihan0311
- Fynn Kliemann und das Kliemannsland
- Rob Bubble
- Rayk Anders
- Walulis
Um eben doch eine ganz andere, neue Einordnung der Wahlergebnisse zu erleben, musste man die von Studio71 für das ARD/ZDF-Jugendangebot funk produzierte «Wahlgemeinschaft» einschalten. Als Livestream via funk.net und YouTube präsentierte sich das Format als jugendorientierte Infotainmentshow mit Sketchnummern, Comedy-Einspielern, humoristisch-kritischen Stand-ups, Musikeinlagen sowie aktuellen Informationen – sowie mit allerlei technischen Problemen.
Teile der Anweisungen ans Studiopublikum wurden kurz vor Beginn des geplanten Livestreams übertragen. Der Ton während der Show war durchweg extrem hallig. Bei YouTube fiel er über weite Strecken komplett aus, es kam zu gelegentlichen Bildaussetzern. Fast könnte man meinen, das Experiment stünde per se unter keinem guten Stern. So fiel sehr kurzfristig Moderatorin Larissa Rieß aus. Ihr Ersatz, Sarah Mangione, schaffte es weder auf der Funk-Homepage noch in der Streaminformationen bei YouTube in die Sendungsbeschreibung – dort blieb es bei der veralteten Angabe.
Von diesen Patzern abgesehen präsentierte sich die «Wahlgemeinschaft» als mutig-andersartiger Versuch, bei dem es an mehreren Ecken und Kanten haperte. Die Stimmung im Saal war bleischwer (angesichts der Wahlergebnisse ist dies dem Saalpublikum aber nicht zu verdenken). Die Bekanntgabe der ersten Hochrechnung erfolgte viel später als im linearen Fernsehen, und auch wenn die Idee, ARD- und ZDF-Zahlen gegenüberzustellen, pfiffig war, erfolgte die Umsetzung in Form eines zähen Sketches. Auch die Anmoderationen diverser Gesprächsthemen oder Showeinlagen war oft sehr hölzern, da sie zumeist in Form eines semi-improvisierten Theaterstücks erfolgte – und dafür waren die Schauspielkünste innerhalb dieser sich über eine Drehbühne ausgebreiteten WG schlicht zu unausgewogen.
Die Pluspunkte: Phil Laudes die Makel des Formats selbstironisch einordnende Moderation hielt es in seinen orientierungslosen Momenten versiert am Laufen und Sarah Mangione funktionierte sehr gut als Laudes weniger zynischer Gegenpol. Und anders als die linearen TV-Sender kam ausgerechnet das Jugendangebot ruhiger daher: Die Themenpunkte an der Tagesordnung wurden Stück für Stück abgehakt – während die TV-Konkurrenz eilig von Ministatement zu Ministatement schalteten, kamen in der «Wahlgemeinschaft» junge Politikerinnen und Politiker ausführlich zu Wort. Sie durften über das Abschneiden ihrer Partei reflektieren sowie laut darüber nachdenken, was das AfD-Ergebnis für sie bedeutet und was ihre Ideen sind, wie man den Rechtsruck in Deutschland rückgängig machen könnte. Die Comedyeinlagen diverser Gesichter aus der funk-Familie waren zwar Hit & Miss, aber alle Beteiligten blieben ihrer sonstigen funk-Identität treu, ohne dabei am Anlass vorbeizuziehen. Das eindeutige Highlight dürfte dennoch ganz unüberraschnd Walulis pointierte Einschätzung der Wahlkampffehler diverser Parteien darstellen – prägnant und humorvoll.
Die zwischendurch unbeholfene Art der «Wahlgemeinschaft» und der wiederholte Leerlauf zwischen festen Programmpunkten mildert den Gesamteindruck des funk-Experiments – aber es hat Respekt verdient, da es Haltung zeigte (wenn auch in einer gemäßigten Form – den Beteiligten war wiederholt anzumerken, wie sie sich sprichwörtlich auf die Zunge bissen, nicht deutlicher zu werden). Und weil mit einem Info- und Entertainmentmix einen Gegenpol zum TV-Angebot darstellte und so andere Zielgruppen an das wichtige Thema anlockte. Der Versuch darf gerne wiederholt werden – dann in etwas strafferer Form und ohne den schauspielerischen Überbau. Lasst die Internettalente doch einfach moderieren, statt dafür zu sorgen, dass sie sich an einem Impro-Polit-Sitcomtheater verheben …