Die Spielorte und Genres der beiden Serien mögen sich unterscheiden. Was sie eint, ist ihre erzählerische und visuelle Wirkung: das Entrückte, das Befremdliche, das Eigentümliche.
Vince Gilligan schneidet nicht sonderlich viel. Besonders auffallend wird das bereits in der ersten Sequenz von «Better Call Saul», in der wir, angeschlossen an einen kurzen Eröffnungsprolog und den psychedelischen, mit abgebrochenen Gitarrenriffs unterlegten Vorspann, Jimmy McGill im Ausgangszustand erleben: Im Gerichtssaal von Albuquerque lässt er auf sich warten. Der Richter schaut genervt auf seine Uhr, die Protokollführerin saugt an ihrem Super-Size-Softdrink, der adipöse Gerichtsdiener beordert schließlich Strafverteidiger McGill in den Saal.
Dort angekommen hält er ein bemühtes Plädoyer, in dem er mit übertriebenen Worten und messianischem Duktus die Geschworenen um Milde für seine Mandanten bittet: Die seien eigentlich ziemlich intelligente örtliche High-School-Schüler, die etwas Dummes gemacht haben, ein momentaner Lapsus ihres Urteilsvermögens, den sie freilich zutiefst bereuen, und selbstverständlich wird eine solche Dummheit nie wieder vorkommen, versprochen, Ehrenwort, Hundertpro. Die Geschworenen sollen diesen an sich anständigen, netten, sympathischen jungen Männern doch bitte nicht ihre ganze Zukunft verbauen, indem sie sie in den Knast schicken. Sie waren doch auch mal jung. Und Milde ist doch eine Kardinaltugend.
McGill nimmt neben seinen Mandaten Platz, sieht bedächtig-wichtig auf seine Notizen. Der Staatsanwalt erhebt sich wortlos, zieht einen Fernseher vor die Geschworenen, legt eine Kassette in den Videorekorder und zeigt ihnen (vermutlich nicht zum ersten Mal), weswegen die drei Männer angeklagt sind: Zu sehen ist, wie sie unter allerhand halbstarken Sprüchen in ein Leichenhaus eingebrochen sind, dort unter Gelächter und gegenseitiger Bestärkung eine der Leichen zersägt und sich (wahrscheinlich) auch an ihr vergangen haben. Die Jury, das erfahren wir in der nächsten Szene, hat keine Milde mit den Angeklagten gezeigt und sie schnurstracks in die Justizvollzugsanstalt geschickt.
Auch wenn diese recht lange Gerichtsszene nicht ohne Schnitte auskommt, bleiben wir doch sehr lange an einem Ort. Auf Zeitsprünge wird ebenso verzichtet wie auf Ortswechsel. Der ganze weite Weg, den der Staatsanwalt den Fernseher vor die Augen der Jury schiebt, all die kleinen Nebensächlichkeiten, an denen Gilligan uns in dieser Sequenz teilhaben lässt, werden lange und mehr als zur Genüge vorgetragen.
Andere Zeit, anderer Ort: Twin Peaks, Washington, im Winter 1990. David Lynch und Mark Frost hatten ähnliche Vorstellungen von Kamera- und Schnittführung: Ungewöhnlich lange Sequenzen, ob in Ben Hornes
Great Northern Hotel, in Normas Diner bei einer
Damn Fine Cup of Coffee oder in psychedelischen Motiven in der ominösen
Black Lodge, dominierten auch hier nicht selten den Eindruck.
Betrachtet man das Figurenpersonal beider Serien eingehend, stößt man auf nicht minder frappierende Ähnlichkeiten: Tragende Eigenschaften der Bewohner von Twin Peaks, auf die FBI-Agent Dale Cooper im Zuge seiner Mordermittlungen trifft, sind oftmals ihre seltsam anmutenden Persönlichkeitszüge. Die
Log Lady, eine ältliche Frau, trägt stets einen Holzscheit mit sich herum, mit dem sie zu kommunizieren glaubt. Die detaillierten Hintergründe dieser Anwandlung bleiben unbekannt. Leland Palmers immer schockierendere Wahnanfälle und Dale Coopers tibetanische Gedankenrituale wirken nicht minder sonderbar. Ganz zu schweigen vom Figurenpersonal aus dem vage gehaltenen mystischen Reich, Killer BOB und dem kleinwüchsigen alten Mann. All diese mystischen, exzentrischen oder abstrusen Merkmale, seien sie visuell, narrativ oder psychologisch, verleihen der Serie ihre entrückte Wirkung: Die Möglichkeit, eine Welt zu betrachten und zu analysieren, die unserer in vielerlei Hinsicht – gerade auch in den exzentrischen und abstrusen Elementen – gleicht, gleichzeitig aber von ihr so entrückt und verschieden ist, dass wir das Fiktive mit gebührendem Abstand betrachten und analysieren können.
«Better Call Saul» zeigt uns ebenfalls Figuren mit Anwandlungen, die den Bewohnern von Twin Peaks im Sinne ihrer Seltsamkeit in nichts nachstehen: Man denke an Jimmys Bruder Chuck, einen äußerst erfolgreichen Unternehmensanwalt, Mitbegründer einer Großkanzlei, der aber schon zu Beginn der ersten Staffel seit einem Jahr keiner Geschäftstätigkeit mehr nachgehen kann, weil er meint, an krankhafter Elektrosensitivität zu leiden, im Zuge derer er sein Haus mit Alufolie ausgekleidet hat und sämtliche Besucher ihre tragbaren Elektrogeräte im Briefkasten deponieren und sich vor Betreten des Hauses an einem Metallstab erden müssen.
Die genauen Hintergründe dieser bizarren Lebensweisen bleiben ungeklärt: Wie Chucks Elektrowahn grundsätzlich entstanden ist, warum die
Log Lady ihren Holzscheit mit sich herumträgt – in beiden Serien wird dem Zuschauer keine allumfassende Erklärung jedes Details der Lebenswelt ihrer Figuren zuteil. Wie im richtigen Leben.
Obwohl «Twin Peaks» und «Better Call Saul» ganz unterschiedliche Stoßrichtungen haben – «Twin Peaks», jene düstere Mischung aus Psycho-Horror und einer ambitioniert erzählten, tiefenpsychologisch wertvollen Soap, «Better Call Saul» als hochintelligente Charakterstudie und schwarzhumoriges Traktat über Schuld und Gerechtigkeit – sind sie in der entrückten Wirkung ihrer beiden Welten doch recht ähnlich. Das heiße New Mexico und das nasskalte Washington mögen sich in Wetter und Klima unterscheiden, Vince Gilligan und das Duo David Lynch/Mark Frost hinsichtlich ihrer künstlerischen Ambition. Die Welten, die sie erschaffen haben, sind sich jedoch wesentlich ähnlicher, als es der erste Blick vermuten ließe.