Die Missbrauchsvorwürfe gegen Hollywoods mächtige Männer werden jeden Tag erschreckender. Die Wirklichkeit scheint abstoßender als jede düstere Fiktion. Wird deshalb bald alles besser?
Rachel Maddow war vermutlich die Erste, die auf eine erstaunliche Diskrepanz hinwies: Im Weißen Haus sitzt mit Donald Trump ein Mann, von dem es bereits lange vor der Wahl veröffentlichte Videoaufnahmen gibt, auf denen er damit protzt, wahllos Frauen sexuell zu belästigen. Und gleichzeitig ist es die Ära Trump, in der sexuelle Belästigung und sexueller Missbrauch durch Personen in besonders exponierten Machtpositionen so umfassende und vernichtende Konsequenzen hat wie nie zuvor.
Die Liste der Fälle scheint täglich länger zu werden. Gegen Bill Cosby kursierten bereits lange Gerüchte, er habe über Jahrzehnte Frauen unter Drogen gesetzt und sich dann an ihnen vergangen; doch erst als die Berichterstattung 2014 zunahm, erreichten die glaubhaften Aussagen von Betroffenen in der Öffentlichkeit eine kritische Masse und vernichteten nicht nur seinen Ruf, sondern hatten auch, soweit dies noch möglich war, entsprechende juristische Konsequenzen.
2016 wurden Vorwürfe gegen den einflussreichen Fox-News-Chef Roger Ailes publik, wie er zahlreiche Frauen, darunter zwei bekannte Moderatorinnen seines Senders, bereits Jahre zuvor sexuell bedrängt habe. Trotz anfänglicher Ableugnungen führten sie zügig zu seinem Rücktritt, nach dem er wenige Monate später starb.
Ebenfalls 2016 kam eine außergerichtliche Einigung zwischen dem damaligen Fox-News-Aushängeschild Bill O’Reilly (Foto rechts) und einer Frau zustande, die glaubhafte Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen ihn erhob, bevor im Frühjahr 2017 bekannt wurde, dass Fox News im Zuge zahlreicher weiterer außergerichtlicher Einigungen bereits seit Jahren Schweigegeld an diverse Frauen bezahlte, die gegen O’Reilly entsprechende Vorwürfe erhoben hatten. O’Reilly musste den Sender alsbald verlassen, nachdem sich über 60 Unternehmen weigerten, im Umfeld seiner Show Werbung zu buchen.
Mit einer ordentlichen Portion linksliberalem Zynismus konnte man die Fälle Trump, Ailes und O’Reilly noch als zwar erschreckend erwartbar, aber doch auf den rechtsreaktionären Bereich tumber Alt-Herren-Lüstelei beschränkt abtun. Der Fall Weinstein sprengte hingegen jegliche Vorstellungskraft. Denn Weinstein ist Demokrat, progressiv, ein Humanist, marschiert auf Demonstrationen für Frauenrechte, unterstützt mit Feuer und Flamme eine offene, pluralistische, egalitäre, fortschrittliche Gesellschaft. Und dieser Mann hat jahrzehntelang Frauen sexuell bedrängt, belästigt, mitunter wahrscheinlich auch vergewaltigt.
Im Nachhinein meint man, Hinweise darauf zu finden. Einige wenig versteckte Anspielungen bei «30 Rock» oder bei der Ankündigung von Oscar-Nominierungen. Man achte bei letzterem Beispiel auf die Zuschauerreaktionen – vielen anwesenden Branchenschaffenden blieb das laute Lachen schnell im Halse stecken.
Somit stellt sich die Frage: Wer in Hollywood wusste wann was? Und je zahlreicher die Anschuldigungen werden, je detaillierter die journalistischen Darstellungen, je umfangreicher die polizeilichen Ermittlungen und je lauter und mutiger die Geschädigten, desto mehr drängt sich die Hypothese auf: alle. Hollywood war zum großen Teil ein Kartell des Schweigens, voll stiller Mitwisser, die – man darf hier freilich spekulieren – ob aus Scham, aus Angst, aus Bequemlichkeit oder aus Gewinnsucht die Sache abtaten, kleinredeten oder in den meisten Fällen: einfach schwiegen. Immerhin steht nun eines fest: Für Weinstein werden die Konsequenzen letztlich doch verheerend sein.
Ähnlich gelagert: der Fall Spacey. Binnen einer Woche wurde die Zahl der glaubhaften Anschuldigungen so immens, während klare Dementis von Spacey ausblieben, dass Netflix keine andere Möglichkeit hatte, als jedwede Zusammenarbeit unverzüglich zu beenden, um nicht selbst der Komplizenschaft beschuldigt zu werden. Für ein Unternehmen, das in solchem Maße auf eine junge und damit entsprechend progressive, prinzipientreue Kundenklientel setzt, hätte jedes längere Zögern der Todesstoß sein können.
Auch die angelsächsische Politik bleibt nicht verschont: Im Vereinigten Königreich musste kürzlich der Verteidigungsminister zurücktreten, weil er unter anderem gegenüber der Vorsitzenden des Unterhauses (und Beinahe-Premierministerin) Andrea Leadsom sexuell ausfällig geworden war. Angesichts der systemischen Auswüchse dieser Unarten in Westminster, von denen in den letzten Wochen in der englischen Presse zu lesen war, wird sein Rücktritt wohl nicht der letzte bleiben.
Es scheint die Zeit des Großreinemachens, eines großen, kathartischen Kladderadatsches, der (zumindest in der angelsächsischen Welt) die politischen, aber vor allem kulturellen Führungsstrukturen in eine zivilgesellschaftlich annehmbare Struktur bringen soll.
Diese inhaltlich zutreffende Wahrnehmung verdeckt allerdings eine wichtige Frage: Wann war es je anders? Aus den 30er und 40er Jahren wird von Hollywoods legendärem Studiochef Louis B. Mayer Erschreckendes berichtet, wenige Jahrzehnte später ist von Alfred Hitchcock nicht minder Abstoßendes bekannt. Hollywood war – wie die meisten elitären Entitäten der westlichen Gesellschaft – dominiert von weißen Männern, die sich im Mindesten daneben benahmen.
Die neue Entwicklung der letzten Jahre – und mit Weinstein, Spacey und Roy Price der jüngsten Vergangenheit – besteht darin, dass diese chauvinistischen bis kriminellen Verhaltensweisen ans Licht kommen und diese Männer gesellschaftlich vernichten, dass das Kartell des Schweigens systematisch brüchig wird, bis der Damm bricht.
Die juristischen Konsequenzen werden die Gerichte entscheiden: Im Fall Cosby endete ein Verfahren mit einer uneinigen Jury; eine Wiederaufnahme des Prozesses ist möglich. Im Fall Weinstein ermitteln die zuständigen britischen und amerikanischen Strafverfolgungsbehörden; zumindest die New Yorker Polizei wurde bereits 2015 auf ihn aufmerksam, nachdem eine mutmaßliche Geschädigte die Tat zur Anzeige gebracht und anschließend als Agente provocatrice eingesetzt worden war.
Im Raum steht nun die erschütternde, aber wohlbegründete Hypothese, dass in der Wirklichkeit alles noch viel schlimmer ist, als es sich die Fiktion je vorstellen konnte. Wenn sich der amerikanische Film oder die amerikanische Literatur mit sich selbst oder mit der amerikanischen Großstadt beschäftigten, lassen sich schnell die Motive Weinstein und Spacey erkennen, die Geschichten um lüsterne, von Selbsthass zerfressene, mächtige Männer, die ihre Macht brutal missbrauchen und an von ihnen beruflich abhängigen Personen (sexuelle) Verbrechen begehen. Verbrechen und Niedertracht sind das Leitmotiv, das James Ellroys Gesamtwerk über Los Angeles (und damit unweigerlich über den Film und die Kunst) miteinander verbindet. Die filmische Metafiktion kennt Hollywood spätestens seit dem Film Noir hauptsächlich als verderbten Moloch, in dem eine archaische, bestialische Männlichkeit dominiert, die sich gerade durch die Erniedrigung von Frauen immer wieder selbst in ihrer Maskulinität bestätigen muss.
Vor diesem Hintergrund war auch Mayim Bialiks Text in der New York Times erschreckend, weil seine Verfasserin von völlig falschen Motiven und Denklogiken ausgeht: In ihrem Gastbeitrag argumentierte sie, dass sie es als einen persönlichen Vorteil sehe, keine
perfect 10, also nicht umwerfend attraktiv zu sein, da sie somit den sexuellen Bedrängungen und Belästigungen eines Harvey Weinstein aus dem Weg gehen könne. Doch im Fall Weinstein – wie in allen anderen hier beschriebenen – geht es nicht um Attraktivität, sondern um Macht. Die Attraktivität des Opfers spielt höchstens eine untergeordnete Rolle. Vielmehr geht es um die Behauptung der eigenen Überlegenheit, und die Betonung des Ausgeliefertseins der Person, die belästigt und bedrängt wird. Und davor sind auch bekannte, selbst mächtige Personen nicht gefeit: die Beispiele Rose McGowan und Andrea Leadsom.
In Zeiten der unbedingten und unmittelbaren Öffentlichkeit von Social Media ist es erstaunlich, dass diese Prozesse weiterhin ungehindert und über Jahrzehnte stattfinden können, dass trotz Gerüchten und einem omnipräsenten Hollywooder Flurfunk erst spät eine kritische Masse erreicht ist, die durch eine gesellschaftliche Ächtung unmittelbare Konsequenzen bewirken kann. Das alte einfache Prinzip des kollektiven Totschweigens funktioniert immer noch hervorragend – bis es nicht mehr funktioniert, bis die kritische Masse erreicht ist, bis die Berichterstattung und unerbittliche, aber unweigerlich aufrichtige und seriöse journalistische Arbeit eindeutige Schlussfolgerungen zulässt, nach denen die anderen
Powers that be nicht mehr tatenlos weitermachen können, ohne selbst in die Schusslinie zu geraten. Die Stürze von O’Reilly, Weinstein und Spacey funktionierten genau nach diesem Schema. Bleibt abzuwarten, ob die verkrusteten, archaischen Machtstrukturen und Männlichkeitsfantasien diese Katharsis überstehen werden – oder ob die progressiven Ideen, derer sich Weinstein gerne öffentlich rühmte, vielleicht bald auch in Hollywood gelebt werden.