Filmfacts: «Mord im Orient-Express»
- Regie: Kenneth Branagh
- Produktion: Ridley Scott, Mark Gordon, Simon Kinberg, Kenneth Branagh, Judy Hofflund, Michael Schaefer
- Drehbuch: Michael Green; basierend auf dem Roman von Agatha Christie
- Darsteller: Kenneth Branagh, Penélope Cruz, Willem Dafoe, Judi Dench, Johnny Depp, Josh Gad, Derek Jacobi, Leslie Odom Jr., Michelle Pfeiffer, Daisy Ridley
- Musik: Patrick Doyle
- Kamera: Haris Zambarloukos
- Schnitt: Mick Audsley
- Laufzeit: 114 Minuten
- FSK: ab 12 Jahren
1934 wurde mit «Mord im Orient-Express» einer von Agatha Christies berühmtesten Kriminalromanen veröffentlicht. Die Geschichte, in welcher der immens von sich selbst überzeugte belgische Privatdetektiv Hercule Poirot eine entspannte Zugreise von Istanbul nach London unternehmen will und stattdessen mit einem seiner schwierigsten Fälle konfrontiert wird, wurde oft adaptiert und kopiert. 40 Jahre nach Ersterscheinung des Romans gelangte eine gefeierte Leinwandadaption in die Kinos: Der von Sidney Lumet inszenierte, mit Stars wie Albert Finney, Sean Connery, Lauren Bacall, Anthony Perkins und Ingrid Bergman besetzte Film wurde unter anderem für sechs Oscars nominiert. In der Kategorie "Beste Nebendarstellerin" wurde er dank Bergmans Darbietung sogar mit dem Academy Award gekrönt.
Nun, etwas mehr als 40 Jahre später, wagt sich Kenneth Branagh an einer weiteren Kinoverfilmung der legendären Vorlage. Und der Regisseur ist wie gemacht für diesen Stoff. Der bereits fünf Mal für den Oscar nominierte Brite mag einem jüngeren Publikum zwar primär als der Verantwortliche hinter dem ersten «Thor»-Film und Disneys «Cinderella»-Realverfilmung mit Lily James in der Hauptrolle bekannt sein. Zuvor machte er sich allerdings einen Namen als populärer Shakespeare-Verfilmer, zudem adaptierte er Mary Shelleys «Frankenstein» und Anthony Shaffers «Sleuth» (dt. Filmtitel: «1 Mord für 2»). Da ist es fast schon ein Unding, dass sich Agatha Christies Landsmann erst jetzt dieser einflussreichen Autorin widmet.
Jetzt hat Brangah jedoch Blut geleckt. Bereits im Frühling 2017 kündigte er an, gerne weitere Hercule-Poirot-Fälle als Regisseur und mit sich selbst in der Hauptrolle verfilmen zu wollen. Den Segen von Christies Urenkel James Prichard hat er bereits erhalten. Nun steht nur abzuwarten, ob das zahlende Publikum ausreichend in Kinotickets investiert, um weitere Branagh/Poirot-Filme zu rechtfertigen. Aber ganz gleich, was die filmwirtschaftliche Geschichtsschreibung eines Tages über diesen «Mord im Orient-Express» sagen wird – eines lässt sich schon jetzt nicht leugnen: Branagh hat sich außerordentlich bemüht, um seinem Publikum etwas für sein Kinogeld zu bieten – ganz gleich, ob es mit der Story bereits vertraut ist oder nicht.
Obgleich ein Großteil der Handlung auf einen einzelnen Schauplatz beschränkt bleit, schlägt Branagh einen inszenatorischen Weg ein, der praktisch entgegengesetzt ist zu dem, was einst Lumet leistete. Fokussierte sich dieser auf das "Wer hat wie und warum den titelgebenden Mord begannen?"-Kriminalelement und reihte mehrere im Speisewagen abgehaltene Verhöre der Verdächtigen aneinander, macht Branagh aus dem Stoff ein opulentes Kinoerlebnis.
Es ist allerdings nicht so, dass sich dies so anfühlen würde, als wolle der 56-Jährige krampfhaft sein vor Jahren neu gewonnenes Disney/Marvel-Publikum anlocken oder sich nach dem enttäuschenden «Jack Ryan: Shadow Recruit» endlich als Regisseur fetziger Streifen behaupten. Branagh, seit jeher ein Handwerksnostalgiker, setzt in «Mord im Orient-Express» auf bewährte, altmodische Mittel, um dieser Mördersuche zu Prunk zu verhelfen. Wie schon seine «Hamlet»-Verfilmung drehte Branagh «Mord im Orient-Express» mit 65mm-Filmkameras, was ein großes, natürliches Farbspektrum sowie ein gigantisches Bildformat mit sich bringt. Lobenswerterweise spendiert der verantwortliche Verleih 20th Century Fox dieser Großproduktion daher IMAX-Kopien (digital sowie analog), zudem wird er in ausgewählten Spielstätten als 70mm-Filmkopie aufgeführt.
Und Branagh weiß, den von ihm gewählten, riesigen Bildausschnitt auszufüllen: Die prachtvollen, eleganten Kostüme Alexandra Byrnes, akzentuieren die Charaktermerkmale aller wichtigen Figuren. Produktionsdesigner Jim Clay erschafft einen nahezu traumhaften Eindruck der frühen 1930er-Jahre und dank der makellosen Ausleuchtung durch Kameramann Haris Zambarloukos sowie mehrere minutiöse Plansequenzen fühlt man sich wiederholt so, als würde man im Orient-Express sitzen und zufrieden grinsend Mäuschen spielen, während Poirot ob des Mordfalls frustriert herumgrübelt.
Bei allem visuellen Glanz und nostalgischen Glamour tut es dem filmischen Gourmet nur umso mehr weh, wenn Branagh auf digitale Effekte zurückgreift. Dies ist selten der Fall, etwa, wenn er das Stadtbild Istanbuls vergangener Tage künstlich erweitert oder den Orient-Express in eine Lawine fahren lässt. Trotzdem stechen diese digitalen, klinisch sauberen und unwirklichen Bilder aus dem restlichen, galant-praktikablen Film heraus, wie die Nase aus einem Gesicht – um es mit Poirots Worten zu sagen.
Branaghs Poirot hat neben diesem zitierfähigen Spruch generell sehr viel zu sagen – manch eine gehässige Seele wird Branagh daher maßlose Selbstverliebtheit vorwerfen. Jedoch hat die Verschiebung von der reinen Tätersuche hin zur Charakterbeobachtung, wer Poirot eigentlich ist und was dieser knifflige Fall mit ihm macht, durchaus Methode:
In einer Medienepoche, in dem das Publikum in TV-Krimis nahezu ertränkt wird, und in der viele Krimifans eh wissen, wie «Mord im Orient-Express» ausgeht, ist es nur clever, dass Drehbuchautor Michael Green dem Protagonisten einen guten Deut mehr Aufmerksamkeit schenkt. Branaghs Poirot hat bereits ein paar Fälle zu viel am Stück geknackt, ist der Welt beinahe überdrüssig und hat einen krankhaften Ordnungssinn … Wie das Rätsel um den Mord im Orient-Express ihn zu immer neuen, verzweifelten Aussprüchen treibt sowie zum Überdenken seiner eigenen Art, ist ebenso staubtrocken-humorvoll wie es auch der Figur eine dramaturgische Fallhöhe gibt, die Finney im Lumet-Film beispielsweise nicht vergönnt war.
Einen Hauch an Leinwandzeit musste dafür das restliche Figurenensemble abgeben, dessen Verhörgespräche in der Branagh-Version spärlicher ausfallen als bei Lumet. Darüber hinaus verteilen sich die Verhöre, ganz kinematisch, über den ganzen Zug und spielen sich teils sogar um ihn herum ab. Löcher reißen Branagh und Green jedoch keine in den Kriminalplot – selbst in gestraffter Form bleibt er ein wichtiges Augenmerk des Films und hat Hand und Fuß. Manch eine Schlussfolgerung Poirots ist sprunghaft, von diesem Makel können sich allerdings weder Christies Original noch Lumets Verfilmung freisprechen.
Dafür nimmt sich diese Filmversion Zeit für einen stimmigen, kurzen Epilog, der zur Reflektion auf das Geschehen einlädt – und auf der Reisestrecke bis zu diesem Zeitpunkt gibt es ein Schaulaufen zahlreicher Schauspielgrößen. Penélope Cruz, Willem Dafoe, Judi Dench, Johnny Depp, Josh Gad, Derek Jacobi, Leslie Odom Jr., Michelle Pfeiffer und Daisy Ridley sowie die noch eher unbekannten Lucy Boynton und Sergei Polunin haben zwar allesamt nur jeweils eine kleine Handvoll an Szenen, um ihre Rollen mit Leben zu füllen, aber es gelingt ihnen allen, Eindruck zu hinterlassen. Selbst wenn das Skript in nur manchen Fällen das Zeug für dreidimensionale Charakterzeichnung hegibt – Daisy Ridley als freundlich-engagierte und dennoch verschlossene Gesprächspartnerin Poirots und Michelle Pfeiffer in ihrer pointierten Rolle einer Schwätzerin stechen dahingehend am meisten aus der Masse hervor.
Die Sache mit dem Schnauzer
Nicht nur Kenner des Lumet-Films stutzten, als sie erste Bilder von Kenneth Branagh mit Riesenschnauzer sahen – mit Albert Finneys Bart im Film von 1974 hat das kaum etwas gemeinsam. Aber: Agatha Christie soll an dem Filmklassiker nur einen Kritikpunkt gehabt haben – sie fand angeblich Finneys Bart zu schmächtig. Nun macht Branagh der Schriftstellerin also posthum ein Geschenk ... Ebenso stechen ein paar sprunghafte Szenenaneinanderreihungen ins Auge, die sich teils als Anschlussfehler bezeichnen lassen – sonderbar, wurde der Film gemeinhin doch von Cutter Mick Audsley eher in einer ruhig-graziösen Art zusammengefügt. Vielleicht verzichteten Audsley und Branagh in diesen Passagen auch schlicht auf gemächlichere Szenenübergänge, um eine Laufzeit von knackigen 114 Minuten zu ermöglichen. In dem Fall wären sie besser beraten gewesen, drei, vier Dialogpassagen zu kürzen, in denen Poirots Gesprächspartner erstaunt oder ehrfürchtig dessen ausformulierte Gedankengänge mit anderer Wortwahl wiederholen – anders als von Poirots versteckten Sticheleien gibt es davon nämlich mehr als genug.
Fazit: Einsteigen, die Aussicht genießen und wahlweise miträtseln oder über die bewussten, organischen Änderungen gegenüber der Vorlage sinnieren: «Mord im Orient-Express» ist ein opulent ausstaffierter, spitzenmäßig besetzter Krimi, der auf der größtmöglichen Leinwand genossen werden sollte.
«Mord im Orient-Express» ist ab dem 9. November 2017 in vielen deutschen Kinos zu sehen.