Die glorreichen 6 – Remakes, die das Original schlagen (Teil V)

Neuverfilmungen genießen noch immer einen schlechten Ruf. Dabei gibt es einige von ihnen, die ihre Vorlagen überbieten – wie Kenneth Branaghs galant-opulenter Krimi «Mord im Orient-Express».

Die Handlung


Filmfacts: «Mord im Orient-Express»

  • Regie: Kenneth Branagh
  • Produktion: Ridley Scott, Mark Gordon, Simon Kinberg, Kenneth Branagh, Judy Hofflund, Michael Schaefer
  • Drehbuch: Michael Green; basierend auf dem Roman von Agatha Christie
  • Darsteller: Kenneth Branagh, Penélope Cruz, Willem Dafoe, Judi Dench, Johnny Depp, Josh Gad, Derek Jacobi, Leslie Odom Jr., Michelle Pfeiffer, Daisy Ridley
  • Musik: Patrick Doyle
  • Kamera: Haris Zambarloukos
  • Schnitt: Mick Audsley
  • Laufzeit: 114 Minuten
  • FSK: ab 12 Jahren
Der belgische Privatdetektiv Hercule Poirot möchte eigentlich mit dem Orient-Express eine entspannte Zugreise von Istanbul nach London unternehmen. Doch auf dieser Fahrt wird er stattdessen mit einem seiner schwierigsten Fälle konfrontiert. Denn einer der Passagiere des Calais-Waggons wird ermordet – und die Indizien, wer der Täter oder die Tätern sein könnte, sind sehr verwirrend …

Poirot wird darum gebeten, den Fall aufzuklären, so dass die Zuggesellschaft der jugoslawischen Polizei einen fertig bearbeiteten Mordfall präsentieren kann, sobald der Orient-Express seinen nächsten planmäßigen Halt macht. Poirot zögert kurz, willigt aber ein. Und so stellt er sich einem gesamten Zugwaggon an Verdächtigen. Wer von den aus verschiedenen Winkeln der Welt stammenden Passagieren hat die Tat begangen?

Das Original und die Neuauflage


Der mit 65mm-Kameras gefilmte «Mord im Orient-Express» von und mit Kenneth Branagh basiert auf dem gleichnamigen Kriminalroman aus dem Jahre 1934 sowie auf der 1974 in den Kinos angelaufenen Leinwandadaption des Agatha-Christies-Klassikers. Sowohl der Roman als auch Sidney Lumets Verfilmung wurden von Kritik und Publikum sehr warm aufgenommen – so wurde der mit Stars wie Albert Finney, Sean Connery, Lauren Bacall, Anthony Perkins und Ingrid Bergman besetzte Sidney-Lumet-Film für sechs Oscars nominiert. Einen Academy Award ergatterte er sogar: Bergman wurde als beste Nebendarstellerin prämiert.

Branaghs Version setzt, viel stärker als Lumets Adaption des Stoffes, auf visuelle Opulenz, wobei sich Branagh den Big-Budget-Konventionen des Jahres 2017 widersetzt, da er auf den Glamour setzt, wie ihn Filme des "alten Hollywoods" ausgemacht haben. Inhaltlich nimmt die neue «Mord im Orient-Express»-Version etwas Fokus vom Verhör der Verdächtigen hinfort, um stattdessen etwas mehr Aufmerksamkeit auf die Charakterisierung Poirots zu legen. Die Kritik begrüßte Branaghs Film zwar durchaus positiv, allerdings wurde er weitestgehend als schwächerer filmischer Neuaufguss betrachtet. Aber es gibt gute, zum Teil Spoiler beinhaltende Gründe, anderer Meinung zu sein …


Die 6 glorreichen Aspekte von Branaghs «Mord im Orient-Express»


Wenn sich Sidney Lumets Version von «Mord im Orient-Express» ihrem Ende entgegenneigt, erläutert Hercule Poirot, charmant gespielt von Albert Finney, in aller Seelenruhe seine beiden Theorien, wie sich der titelgebende Mord ereignet haben könnte. Von potentiellen Tätern umringt kann er, ohne jegliche Unterbrechung, seinen Monolog abhalten, Anwesende des Mordes bezichtigen, und seine Gedankenschlüsse ausformulieren. Die Beschuldigten hängen gebannt an seinen Lippen, regen sich kein Stück. Das lässt sich so erklären, dass sie von der Schuld wie gelähmt sind – vor allem aber ist es schlicht eine Kriminalgenre-Konvention jener Zeit und noch viel mehr ein Agatha-Christie-Klischee: Am Schluss eines Krimis erklärt der Ermittler, wer die Tat wann, wo, wie und warum begangen hat. Das gehört sich so, also wird das nicht hinterfragt. Da hat «Cluedo» auch seine Spielkonzept-Grundidee her …

Kenneth Branaghs Version verwirklicht die Auflösung ein Stück weit glaubwürdiger: Poirot erzählt den Verdächtigen auch in seiner Filmfassung seine beiden Theorien – zückt dabei aber eine Waffe, für den Fall, dass die potentiellen Täter ihn in einem Akt überwältigen wollen. Zudem lauschen ihm die von einem Starensemble verkörperten Beschuldigten nicht mit der Seelenruhe, die sie im Lumet-Film zu Tage legen – sie rechtfertigen sich, verteidigen sich, sind sichtbar von Poirots Theorien aufgewühlt.

Generell ist Branaghs Version emotionaler. Machte Lumet aus Christies Vorlage einen intensiv gespielten, aber sehr stringenten "Whodunit?", der sich primär aus eben dieser Frage nach dem Täter nährt, geben der die Hauptrolle übernehmende Regisseur Kenneth Branagh und Drehbuchautor Michael Green («Logan – The Wolverine») dem Stoff eine charakterbezogene emotionale Fallhöhe. Sie filtern den kniffligen Fall so, dass es nur sekundär darum geht, wer denn nun die Tat begangen hat, und sich die Erzählung primär darum dreht, wie schwer es dem mit extrem übersteigerten Selbstbewusstsein gesegneten Privatdetektiv fällt, diese Nuss zu knacken, und was diese Herausforderung mit Poirot macht. Puristen werden über die Änderung streiten, ob Poirot sich im stillen Kämmerlein in Selbstzweifel üben darf, und wie sehr es Christies Version der Figur entspricht, wenn er damit ringt, den plausibleren Lösungsansatz zu verfolgen. Aber es erhöht die schauspielerische Anforderung an Poirots Darstellung und ist daher in einer filmischen Version ein sehr attraktiver Ansatz für diese Geschichte – konsequent, ist Branaghs Film mit seiner elegant-prunkvollen Ausstattung doch eh schon cineastischer veranlagt als Lumets Fassung.

Dies mündet auch in ein gehaltvolleres Filmende: Bei Lumet endet der Film nach der Auflösung ziemlich abrupt, frei nach dem Motto: "Täter gefunden, dieser Krimi hat seine Aufgabe erfüllt, tschüss!" Bei Branagh und Green dagegen gibt es einen kleinen Epilog, der zeigt, wie Poirot mit seiner Entscheidung, welche seiner beiden Theorien er den Behörden vorstellt, umgeht. Der ihm zunächst schwerfallende Entschluss sackt langsam, was Branagh in seiner charmant-großspurigen und trockenhumorigen Performance sehr gut rüberbringt. Daraufhin endet der Film mit einem spröden Witz, der zeigt, dass Poirot entgegen all seinen Beteuerungen, sich zur Ruhe setzen zu wollen, partout nicht aus seinem Arbeitswahn befreien kann. Ein pointiertes Ende, dass die Handlung abrundet, statt sie einfach abzuhaken.

«Mord im Orient-Express» ist aktuell in vielen deutschen Kinos zu sehen.
12.11.2017 13:06 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/97038