Regisseur Lee Unkrich und Produzentin Darla K. Anderson verraten Quotenmeter.de, wie die Arbeit am neuen Pixar-Film «Coco» sie verändert hat und welche Skriptänderungen sie auf Anraten lateinamerikanischer Kollegen vorgenommen haben.
Über die Personen
- Darla K. Anderson ist seit «Toy Story» bei Pixar an Bord und produzierte «Das große Krabbeln», «Die Monster AG», den ersten «Cars»-Film sowie «Toy Story 3» und nun «Coco».
- Lee Unkrich stieg 1994 bei Pixar ein und arbeitete am Schnitt von «Toy Story» sowie «Das große Krabbeln». Nach wechselnden Aufgaben bei diversen Pixar-Filmen übernahm er die Regie bei «Toy Story 3» und nun «Coco». Bei beiden Filmen wirkte er an der Stoy mit, bei «Coco» zudem am Schnitt.
Um einen groben Einstieg für unser Gespräch zu haben: Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, einen Animationsfilm für die ganze Familie zu machen, der ausgerechnet vom Tod handelt?
Lee Unkrich: So gesehen – gar nicht. (schmunzelt) Ich bin zu keinem Zeitpunkt an dieses Projekt mit dem Gedanken herangetreten, dass er vom
Tod handelt. Ich war schon immer von der mexikanischen Tradition des Día de Muertos fasziniert, und kam eines Tages an dem Punkt an, an dem ich beschloss, mehr darüber wissen zu wollen. Also habe ich mich in die Recherche gestürzt, und je mehr ich über den Día de Muertos erfahren habe, desto mehr habe ich begriffen: Dieses Fest handelt nicht vom Tod, sondern von Familie. Es ist eine Feier zu Ehren unserer Vorfahren, damit wir sie besser kennenlernen, sie verstehen und ihr Leben zelebrieren, sowie die Umstände, die dazu führten, dass uns unsere Vorfahren zu dem gemacht haben, was wir jeweils sind. Und dieses Fest handelt obendrein davon, wie wichtig es ist, sich an seine Vorfahren zu erinnern und sicherzustellen, dass sie nie vergessen werden.
Außerdem erfuhr ich während dieses Prozesses mehr über Mexiko und bemerkte nach und nach, dass im Día de Muertos großes Potential für eine Geschichte innewohnt, die einerseits ganz anders ist als das, was wir bei Pixar bisher gemacht haben – und die dennoch alles beinhaltet, wonach wir streben: Tolle Figuren, eine Prise Abenteuer und viel Herz. Besonderes letzteres ist uns sehr wichtig: Egal, was wir erzählen, wir suchen immer nach dem emotionalen Kern der Geschichte.
Hat die jahrelange Arbeit an «Coco» Ihre Perspektive auf das Thema Tod verändert?
Lee Unkrich: Definitiv. Dadurch hat sich mein Gefühl dafür gestärkt, wie wichtig es ist, die Geschichten Anderer weiterzuerzählen. Ich habe Zuhause kistenweise Fotos von Familienmitgliedern – und ich weiß über einige von ihnen gar nichts, bei manchen kenne ich nicht einmal den Namen. Sie sind praktisch vergessen … Und meine Eltern leben zwar noch, doch sie werden zwangsweise älter, und irgendwann wird es zu dem Punkt kommen, an dem sie nicht mehr sie selbst sind. Jetzt verspüre ich diesen Drang, mich mit ihnen zusammenzusetzen und mir ihre Geschichten anzuhören, damit ich ihre Erinnerungen wahren kann – nicht nur an ihr eigenes Leben, sondern auch ihre Erinnerungen an Verwandte, die ich selber nie kennengelernt habe.
Erinnerung ist zu einem wiederkehrenden Thema bei Pixar geworden. Die «Toy Story»-Filme handeln mit wachsender Dringlichkeit davon, dass Woody Angst hat, vergessen zu werden. Mit der Figur Dorie muss ich in dem Zusammenhang ja wohl gar nicht erst anfangen …
Lee Unkrich: … und dann noch «Alles steht Kopf».
Genau. «Coco» packt nun die Furcht vor dem Erblassen von Erinnerungen erneut an. Und das sind jetzt nur die herausstechenden Beispiele. Was hat das Thema des Erinnerns an sich, dass es bei Pixar in einer relativ hohen Schlagzahl vorkommt – und dann stets in einer etwas anderen Herangehensweise?
Lee Unkrich: (grübelt) Keine Ahnung … (schmunzelt) Es kommt zwar nicht in all unseren Filmen vor, aber es häuft sich tatsächlich … Ich muss ja gestehen: Ich habe das selber nie bemerkt – mich musste erst jemand darauf aufmerksam machen. Ich weiß aber nicht, woher das kommt, dass wir wiederholt auf das Erinnern und die Angst vor dem Vergessen eingehen. (denkt) Vielleicht liegt es einfach daran, dass wir nun einmal nicht jünger werden … (schaut Darla K. Anderson fragend an)
Darla K. Anderson: Hey, guck mich doch nicht
jetzt so an! (lacht)
Lee Unkrich: (schmunzelt) Aber so ist es doch. Es ist ein Thema, das uns alle bewegt. (wird nachdenklich)
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Irgendwie sind wir bei Pixar doch ziemlich altmodische Menschen – zumindest, was manche Werte anbelangt. In unserem Studio arbeiten sehr viele Leute, die nostalgisch sind. Menschen, die alte Dinge lieben – etwa aus den 50er-Jahren. Viele lieben alte Filme, manche sammeln Antiquitäten oder verehren Klassiker.
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«Coco»-Produzentin Darla K. Anderson
Darla K. Anderson: Ja, das stimmt. Was mir im Laufe der Jahre aufgefallen ist, die ich bei Pixar bin – und was zudem etwas ist, das mir sehr gefällt: Irgendwie sind wir bei Pixar doch ziemlich altmodische Menschen – zumindest, was manche Werte anbelangt. In unserem Studio arbeiten sehr viele Leute, die nostalgisch sind. Menschen, die alte Dinge lieben – etwa aus den 50er-Jahren. Viele lieben alte Filme, manche sammeln Antiquitäten oder verehren Klassiker. Und in dieser Faszination verbirgt sich wohl schon der Reiz an einer Auseinandersetzung mit dem Thema Erinnerungen.
Durch diese Nostalgie denken wir an Menschen, Situationen und Orte von früher und halten die Erinnerungen an sie aufrecht. Bei Pixar ehren wir sehr die, die zuvor gekommen sind – das ist Teil unserer Firmenkultur. Ich liebe diese Sensibilität – aus ihr ist zum Beispiel «Toy Story» entwachsen. Wenn wir ein altes Spielzeug sehen, denken wir nicht: "Oh, das ist Schrott." Wir bewundern, welches Handwerk da hineingeflossen ist und denken über die damalige Zeit nach sowie darüber, welche Erinnerungen frühere Besitzer damit verbinden könnten – und wir denken auch über unsere eigene Kindheit nach. All diese Nostalgie wird dann mit hochmodernster Technik ausbalanciert – ich liebe diesen komplexen Tanz, den wir somit ausführen.
Lee, ich bin über ein Interviewzitat von Ihnen gestolpert, laut dem Sie bei «Coco» bewusst auf moderne Popkulturreferenzen verzichteten, weil Sie einen zeitlosen Film angestrebt haben. Nun ist es einfach, sich zu sagen: "Ich will einen zeitlosen Film machen", daraufhin aber folgt noch immer ein komplexer Gedankenprozess, um dieses Ziel zu erreichen. Abseits vom Verzicht auf moderne Popkulturgags: Wie sah dieser Gedankenprozess aus?
Lee Unkrich: Unsere Geschichte wirkte zeitlos auf mich. Sie muss nicht in einer bestimmten Epoche verwurzelt sein – und genau daher wollte ich, dass sich «Coco» nicht auf ein konkretes zeitliches Setting festlegen lässt. Das spielt auch unserem generellen Ziel sehr gut in die Karten, Filme zu machen, die in 20, 30 Jahren noch immer genauso relevant sind wie zu ihrer Uraufführung. Daher wollte ich zum Beispiel auf keinen Fall zeigen, wie unser Protagonist Miguel die ganze Zeit am Smartphone klebt. Überhaupt sieht man in «Coco» keine Handys – deren Benutzung wollte ich dringend vermeiden.
Bei den Szenen, die im Reich der Toten spielen, war es wiederum egal, welche Technologien zu sehen sind – solange sie veraltet sind. Die Idee kam uns sehr früh im Produktionsprozess: Das Reich der Toten sollte mit ausgestorbenen Gegenständen und verjährter Mode ausgestattet sein, darüber hinaus wollten wir, dass die architektonischen Stile dort passé sind. Diese Grundideen haben wir in der Umsetzung hochleben lassen.
Ich würde schätzen, dass aus diesem Streben konkrete Faustregeln entwachsen sind, was in Ordnung ist, und was nicht?
Lee Unkrich: Ja. So wollte ich dem Reich der Toten einen Stil geben, der fast schon an Steampunk erinnert, weshalb sich sämtliche Technologien in ein viktorianisch geprägtes Gesamtkonzept fügen. Das hat auch den Hintergrund, dass der Día de Muertos, wie er in Mexiko seit Generationen gefeiert wird, sehr von Kunst geprägt ist, die sich aus dieser Stilepoche bedient. Was die Szenen in der realen Welt anbelangt, haben wir zum Beispiel Miguels alten Schwarz-Weiß-Röhrenfernseher so gerechtfertigt, dass wir uns dachten: Er ist ein neugieriges Kind, vielleicht hat er den Fernseher beim Spielen auf einem Schrottplatz gefunden, mitgenommen und repariert.
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Wir haben jetzt keinerlei Regeln mehr – wir erzählen die Geschichten, die wir für so interessant finden, dass wir sie einfach erzählen müssen. Wenn heute jemand bei Pixar ein klassisches Musical machen wollen würde, er hätte sämtliche Unterstützung dafür. Im spezifischen Fall von «Coco»: Wir wollten ganz bewusst einen Film machen, wie wir ihn noch nie bei Pixar gemacht haben – mit einem völlig neuen Setting und jeder Menge Musik. [...] Wenn man seit 25 Jahren Filme macht, will man es interessant halten und vermeiden, sich zu wiederholen.
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Pixar-Regisseur Lee Unkrich über das Aufgeben alter Einschränkungen innerhalb des Studios
Ich möchte noch kurz beim Themenkomplex "Faustregeln" bleiben. In der Anfangszeit hat sich Pixar als Studio selber definiert, indem es folgende Regeln für seine Filme aufgestellt hat: Es darf nicht gesungen werden, es soll keine "Ich will"-Momente geben, kein "glückliches Dorf", keine Liebesgeschichte und keinen Schurken …
Lee Unkrich: (nickt)
Keine Sorge, ich möchte jetzt nicht die Regelpolizei. Dass «Coco» dieses Regelwerk ignoriert, und dass sich Pixar über auch zuvor mehrfach über einzelne dieser Prinzipien hinweggesetzt hat, verstehe ich. Filmschaffende wollen nicht ewig auf der Stelle treten, das erklärt sich von selbst. Worauf ich aber hinaus möchte: Gab es einen spezifischen Moment, an dem dieses Regelbuch aktiv verworfen wurde – und wie definiert sich Pixar jetzt, ohne dieses Regelbuch?
Lee Unkrich: Wir haben diese Regeln aufgegeben, weil sie in einem Zusammenhang entstanden sind, der so heute nicht mehr besteht. Als wir sie uns gesetzt haben, mussten wir für als Studio eine eigene Identität finden, um uns abzugrenzen. Die Disney-Trickstudios haben damals vornehmlich eine bestimmte Art Filme gemacht. Und John Lasseter, Andrew Stanton sowie Pete Docter hatten sich vorgenommen, den Leuten zu zeigen, dass nicht alle Animationsfilme dem Disney-Schema entsprechen müssen. Sie wollten damals etwas anderes als Disney machen, sie haben das getan und bewiesen, dass man damit erfolgreich sein kann.
Jetzt haben wir keinerlei Regeln mehr – wir erzählen die Geschichten, die wir für so interessant finden, dass wir sie einfach erzählen müssen. Wenn heute jemand bei Pixar ein klassisches Musical machen wollen würde, er hätte sämtliche Unterstützung dafür. Im spezifischen Fall von «Coco»: Wir wollten ganz bewusst einen Film machen, wie wir ihn noch nie bei Pixar gemacht haben – mit einem völlig neuen Setting und jeder Menge Musik. Obwohl es kein Musical ist, steckt er voller Musikperformances. Das hat uns ungeheuren Spaß gemacht. Wenn man seit 25 Jahren Filme macht, will man es interessant halten und vermeiden, sich zu wiederholen.
«Coco» ist der erste Pixar-Originalfilm seit 2015. Die zwei vorherigen Veröffentlichungen waren Fortsetzungen, und aktuellem Stand nach werden auch die nächsten beiden Fortsetzungen sein – erst 2020 soll es wieder einen neuen Stoff geben. War die Idee zu «Coco» daher für die Studioführung ein Grund zur Freude?
Lee Unkrich: Bei uns sind derzeit einige Filme in Arbeit, die keine Fortsetzungen sind. Aber wenn sich Filme in Entwicklung befinden, weiß man nie so recht, wie schnell sie voranschreiten. Manche Geschichten brauchen einfach länger, bis sie reif sind. Aktuell sind bei uns ein paar Filme in Produktion, die wir liebend gern schon früher rausgebracht hätten – aber sie waren einfach noch nicht so weit. Parallel dazu hatten wir Ideen für Fortsetzungen, die einfach sehr zügig Gestalt angenommen haben und daher einen früheren Starttermin erhielten. Das kann man schlicht sehr schwer steuern. Aber ja: Wir sind sehr froh, jetzt einen Originalfilm auf die Leinwand zu bringen – und es werden auf ihn noch viele folgen.
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Wenn sich Filme in Entwicklung befinden, weiß man nie so recht, wie schnell sie voranschreiten. Manche Geschichten brauchen einfach länger, bis sie reif sind. Aktuell sind bei uns ein paar Filme in Produktion, die wir liebend gern schon früher rausgebracht hätten – aber sie waren einfach noch nicht so weit. Parallel dazu hatten wir Ideen für Fortsetzungen, die einfach sehr zügig Gestalt angenommen haben und daher einen früheren Starttermin erhielten. Das kann man schlicht sehr schwer steuern
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«Coco»-Regisseur Lee Unkrich über Pixars zuletzt hohe Schlagzahl an Sequels
Apropos Entwicklungszeit: «Coco» war sechs Jahre in Arbeit. Und nach all den Anstrengungen, die in den Film geflossen sind, erscheint dieser Film über die mexikanische Kultur, in dem zudem eine Brücke zwischen zwei Welten gezeigt wird, zu einem Zeitpunkt, an dem ein gewisser Jemand eine Mauer zwischen den USA und Mexiko bauen möchte …
Lee Unkrich: Als wir mit der Produktion von «Coco» angefangen haben, lebten wir noch in einer ganz anderen Welt, in der ein vollkommen anderes politisches Klima vorherrschte. Wir wollten kein politisches Statement setzen. Wir sind uns aber dessen bewusst, dass wir dies sehr wohl tun, allein dadurch, dass der Film nun erscheint. Aber es ist kein Statement, das wir vorausgeplant haben.
Darla K. Anderson: Wir sind trotzdem sehr froh, jetzt einen Film zu haben, der die Konversation positiv beeinflusst. Mit «Coco» erzählen wir von Familienzusammenhalt, entsenden eine Botschaft der Empathie und zeigen auf, dass unsere Kulturen mehr Gemeinsamkeit haben als Unterschiede.
Lee Unkrich: Und wir fühlen uns sehr geehrt, wie gut es ankommt, dass wir einen Film verwirklicht haben, der diese zuletzt so zu Unrecht niedergemachte Kultur feiert.
Und durch «Coco» werden die US-Kultur und die Kultur Mexikos vielleicht noch ein bisschen enger verknüpft …
Lee Unkrich: Wobei sie ja auch schon vorher verknüpft waren. Überhaupt sind unser aller Kulturen verknüpft. Es gibt schon lange keine Reinkultur mehr, wir alle beeinflussen uns gegenseitig.
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Wir haben die Figuren in frühen Entwürfen oft "Muchacho" sagen lassen, bis Gael García Bernal, die Originalstimme von Héctor, zu uns meinte: "Also, so oft würde ich das niemals sagen. Ich würde in solchen Situationen viel eher 'Chamaco' sagen." Solche Rückmeldungen hatten wir häufiger, das war ein ganz natürlicher Prozess
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«Coco»-Regisseur Lee Unkrich darüber, wie sein Film während der Produktion stets auf Authentizität überprüft wurde
Sie haben bei «Coco» auf einen "Kulturellen Beraterstab" zurückgegriffen, der sicherstellen sollte, dass der Film Mexiko, seine Leute sowie Gepflogenheiten authentisch widerspiegelt. Mir ist bereits eine Anekdote bekannt, dass diese Beratergruppe zum Beispiel Szenenentwürfe bemängelte, in der Miguels Oma ihn mit einem Holzlöffel bedroht – in Mexiko sei es viel üblicher, mit Schuhen Prügel anzudrohen. Welche weiteren, vergleichbaren Rückmeldungen haben Sie erhalten?
Lee Unkrich: Einige, zumal wir ja nicht nur den Beraterstab hatten, sondern auch viele interne Leute mit Latinowurzeln, wie meinen Koregisseur und Koautor Adrian Molina, die uns Feedback gegeben haben. Ebenso wie das Sprecherensemble, das uns kontinuierlich geholfen hat, das Dialogbuch zu verfeinern. So haben wir die Figuren in frühen Entwürfen oft "Muchacho" sagen lassen, bis Gael García Bernal, die Originalstimme von Héctor, zu uns meinte: "Also, so oft würde ich das niemals sagen. Ich würde in solchen Situationen viel eher 'Chamaco' sagen." Solche Rückmeldungen hatten wir häufiger, das war ein ganz natürlicher Prozess. Darla, erinnerst du dich noch an andere konkrete Beispiele?
Darla K. Anderson: Ja. Sowohl Interne als auch Externe haben uns gesagt, dass Latinofamilien viel körperlicher miteinander umgehen als US-amerikanische Familien – sie umarmen sich viel öfter und berühren sich generell häufiger, wenn sie miteinander reden. Das beeinflusste die gesamte Körpersprache unserer Filmfamilie Rivera.
Lee Unkrich: Und noch ein Aspekt, der mir einfällt: Unsere Kulturberater haben sich gewünscht, dass mehr indigene Musikinstrumente zu hören sind, da der Día de Muertos eine sehr indigene, alte Tradition sei, was bis heute zu spüren ist. Deshalb wollten sie diese weit zurückreichende Geschichte des Fests stärker im Klangbild unseres Films reflektiert wissen. Den Ratschlag haben wir sehr gerne befolgt und unseren Komponisten Michael Giacchino darauf hingewiesen. Er hat dann mehr folkloristische Instrumente in das Arrangement seiner Musik eingebaut.
Bei «Coco» hatten Sie ja somit quasi zwei Beraterstäbe – die Kulturberater und den 'Brain Trust', Ihre erfahrenen Pixarkollegen. Gab es Situationen, wo sich die Vorschläge dieser beiden Gruppen gebissen haben?
Lee Unkrich: Durchaus. Aus dem Brain Trust kamen ab und zu Vorschläge, die sich explizit auf die Handlung bezogen haben – Einfälle, wie eine Figur ticken oder wie sich der Storyverlauf entwickeln könnte. Da kam es zwischendurch vor, dass wir, aus dem Team, das fest an «Coco» gearbeitet hat, Ideen abgelehnt haben.
Denn durch die Recherchearbeiten und den Austausch mit unseren Kulturberatern haben wir uns sehr darin hineingesteigert, keinesfalls etwas kulturell Unsensibles oder Unauthentisches machen zu wollen. Wir wussten aber stets: Unsere Kollegen meinen es gut – sie befinden sich nur auf dem Wissensstand über die mexikanische Kultur, auf dem wir uns zu Beginn der Produktionsphase befunden haben … Aber ich muss sagen: Ich könnte mich an kein einziges Beispiel mehr für solche Fälle erinnern. Es waren immer nur kleinere Ideen, die in den Raum geworfen wurden, und bei denen wir dachten: "Nein, danke, das führt am eigentlichen Thema vorbei oder wäre vom Tonfall her etwas unpassend."
Wenn ich nicht irre, war es ja auch der kulturelle Aspekt hinter dem Día de Muertos, der dazu führte, dass die Skelette in «Coco» so freundlich aussehen …
Lee Unkrich: Genau, wir hatten nie auch nur mit dem Gedanken gespielt, die Skelette gruselig aussehen zu lassen. Sie sollten stets einfach nur Leute sein, die anders aussehen. Einige der Skelette sind ja auch Mitglieder von Miguels Familie, und das in einem Film über den Wert der Familie – daher war von Anfang an für uns Voraussetzung, dass sie Freundlichkeit und Familiarität ausstrahlen. Skelette sollten in «Coco» handelnde, ansprechende Figuren sein – und kein abstraktes Symbol zum Thema Tod.
Die scharfe Trennlinie zwischen «Coco» und Halloween ...
... betrifft übrigens nicht nur die Starttermine des Films außerhalb Mexikos. So wurden auf Wunsch Pixars im Disneyland Paris Aufsteller zum Film erst mit Beginn der Weihnachtssaison platziert, und nicht etwa bereits während der im Oktober abgehaltenen Halloweensaison. Auch die «Coco»-Puppenshow im Disneyland Paris durfte erst starten, als die Halloween-Festlichkeiten im Park durch die Weihnachtssaison ersetzt wurden.Mir wurde zugetragen, dass Sie auch mit aller Kraft vermeiden möchten, dass Ihr Film mit Halloween assoziiert wird – ist das korrekt?
Lee Unkrich: Ja, das stimmt. Die beiden Feste sind vom Tonfall und ihren Werten her komplett anders, sie werden vollkommen unterschiedlich gefeiert – sie haben überhaupt nichts gemeinsam. Der Día de Muertos wird ja gemeinhin gerne als "das mexikanische Halloween" bezeichnet, aber das ist inkorrekt und dem Fest gegenüber auch eine sehr ungerechte Umschreibung. Auch wenn ich verstehe, wo dieser große Irrtum herkommt – die beiden Feste finden kurz hintereinander statt, Skelette sind fester Bestandteil der Dekoration und dann haben sie, in den Augen jener, die sich damit nicht auskennen, "irgendwas mit Tod zu tun". Ich kann mir schon erklären, weshalb die Leute das verwechseln.
Trotzdem haben sie eine ganz andere kulturelle Verwurzelung und diejenigen, die es jeweils feiern, gehen ganz anders an Halloween und den Día de Muertos heran. In Mexiko wird es deswegen extrem kritisch betrachtet, wenn Leute von außerhalb diese beiden Feste vermischen. Der Día de Muertos ist ein emotionales Familienfest, das will niemand mit unserem Halloween verwechselt sehen. Dennoch wurde es in den vergangenen Jahren in den USA zu einem kleinen Trend, dass sich Leute zu Halloween einen traditionellen "Sugar Skull" schminken, was eine sehr kritische Debatte über kulturelle Aneignung ausgelöst hat.
Darum haben wir uns auch sehr bewusst dafür entschieden, «Coco» nur in Mexiko im Vorfeld des Día de Muertos zu starten, weil die Leute dort verstehen, dass er halt pünktlich vor dem Feiertag Anfang November in die Kinos gehört. An Halloween hat in Mexiko da niemand gedacht. In allen anderen Ländern startet «Coco» dagegen mit einem respektvollen Abstand zu Halloween – in den USA etwa kommt er passend zum Familienfest Thanksgiving heraus. Wir wollen, dass die Leute keinerlei Assoziation zwischen «Coco» und Halloween herstellen.
«The Skeleton Dance»
«The Skeleton Dance» ist ein Schwarz-Weiß-Zeichentrickkurzfilm aus dem Jahr 1929, mit dem Walt Disney seine Cartoon-Reihe «Silly Symphony» begründete. Der von Ub Iwerks, dem Micky-Maus-Zeichner erster Stunde, animierte Fünfminüter zeigt vier menschliche Skelette, die auf einem Friedhof tanzen und Musik machen.Zum Abschluss muss ich noch eine sehr nerdige Frage stellen: Bevor ich «Coco» gesehen habe, wäre ich jede Wette eingegangen, dass eine Referenz auf «The Skeleton Dance» darin vorkommt. Ich habe aber keine gefunden. Habe ich etwa im falschen Moment geblinzelt?
Lee Unkrich: Nein, in «Coco» kommt keine Anspielung auf «The Skelton Dance» vor. Wir hatten aber in einer früheren Version des Films eine Referenz auf diesen Kurzfilm eingebaut. Es gab eine Szene, die in einem Büro für verlorengegangene Kinder spielen sollte. Das Büro war voll mit Skelettkindern, die alle auf einen Fernseher schauten – und dort sollte der Cartoon laufen. Aber wir haben die Idee wieder aufgegeben.
Oh, weshalb?
Lee Unkrich: Wir haben die Story verändert und dann passte die Szene einfach nicht mehr herein. Ganz zu Beginn dachten wir auch darüber nach, einigen lebenden Berühmtheiten Cameos in Skelettform zu geben, darunter John Lasseter. Das haben wir uns dann aber anders überlegt.
Herzlichen Dank für das ausführliche Gespräch.
«Coco» ist ab sofort in zahlreichen deutschen Kinos zu sehen – in 3D und 2D.
Das Interview entstand am 16. November 2017 in Berlin.