In den vergangenen Monaten hat unser Kinokolumnist einige männliche Stereotypen aus dem Filmjournalismus beschrieben – aber es gibt auch weibliche Klischees, die durch die Branche wandeln.
Ich muss gestehen, dass ich keinen Schimmer habe, wie es Personen in anderen Berufsfeldern ergeht. Aber als Filmkritiker bekomme ich von branchenfremden Mitmenschen immer die gleichen Fragen gestellt: "Oh, wie wird man das? Kann man davon leben? Was muss man da machen? Macht man da den ganzen Tag nur ein und dasselbe?" Ich bemühe mich, diese Fragen zutreffend und geduldig zu beantworten. Aber einen ganz dringenden Tipp habe ich mir bislang stets verbissen. Aus Angst, dass die ihm innewohnende, sarkastische Verbitterung fehlinterpretiert wird und man mir im Gespräch nicht die Chance gibt, meinen Standpunkt korrekt auszuführen.
Dabei genügt vor einer ganz normalen Pressevorführung ein Blick ins Kinofoyer, um sich diese Antwort auf die Frage "Wie schafft man es, mit Kinokritiken Geld zu verdienen", die ich mir bisher verkniffen habe, selber zu geben. Wie man es ins Geschäft mit Kinokritiken schafft, fragt ihr? Zunächst einmal: Es hilft ungemein, ein Mann zu sein!
'Und was sagt die Frau dazu?'
So. Alle, die diese Kolumne nun nicht bereits abgebrochen haben und mich voreilig als Chauvischwein abgestempelt haben, erhalten nun auch die Erläuterung, weshalb es im Filmkritikengewerbe ungemein hilft, ein Mann zu sein. Denn das ist kein Wunschdenken von mir, sondern eine zähneknirschende, augenrollende Feststellung. Es gibt ein gewaltiges Geschlechtsungleichgewicht in dieser Branche – und das sollte so nicht sein. Repräsentativ ist das ganz und gar nicht! Laut der FFA waren vergangenes Jahr 51 Prozent aller Personen, die in Deutschland ins Kino gegangen sind, weiblich – da läge eigentlich der Gedanke nahe, dass sich die Geschlechter nicht nur im regulären Kinosaal ungefähr die Waage halten, sondern auch in der Pressevorführung.
Und wie es auch in anderen Berufsgruppen der Fall ist: Existiert erst einmal ein Ungleichgewicht, wird es zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Es gibt mehr männliche Kritiker, weil sich mehr Männer in die Vorstellung festbeißen, diesen Beruf zu erfüllen. Doch es wollen deshalb mehr Männer Kritiker sein, weil sie in Pressevorführungen ihresgleichen stärker repräsentiert sehen als all jene Frauen, die überlegen, in diesen Beruf einzusteigen.
Die geschätzte Kritikerin Maria Muster muss sich, während sie einfach nur ihren Job erledigen will, im Foyer mit dem stinkfaulen Siegfried Schmarotzer, dem untätigen Ulf Ungerecht und dem albernen Aaron Autsch rumschlagen – und bekommt vorgelebt: Die drei Typen werden noch immer zu Pressevorführungen eingeladen, obwohl sie gar nicht ernsthaft in dieser Branche tätig sind. Und dann wird Maria Muster nach jedem neuen Teil der misogynen Actionreihe «Shoot That Bitch!» von ihnen vollgesülzt, weil ihre dezent unterdurchschnittliche Meinung zum Film "voll mimmi" sei. Sie könne ja "einen echten Männerfilm" nicht nach ihren "Alice-Schwarzer-Kriterien" beurteilen. Jau.
Was für ein Glück, dass Maria Muster ungeheuerlich in ihren Beruf verschossen ist. Sonst wären Frauen noch mieser repräsentiert. Quiterie Quittier dagegen hat nach vier Monaten Praktikum bei der örtlichen Wochenzeitung aufgrund dieses Kollegiums das Handtuch geworfen. Krakeelende Kollegen, die ja eigentlich noch nicht einmal Kollegen sind, weil sie nicht als Kritiker arbeiten, schreiben einer wirklich tätigen Person vor, was sie zu denken hat? "Ja, ne. Lass mal. Lieber in ein anderes Fach wechseln", dachte sie sich – und nahm Maria Muster somit eine Kollegin, an die sie ihr verzweifeltes Augenrollen richten konnte, wenn die PV-Touristen einmal mehr den Motivationskiller spielten.
Zumal wir gerade nur von der ätzenden Wirkung der PV-Touristen sprechen. Die sind harmlos im Vergleich zu Karl Konsens – einem Waschlappen von einem Filmanalysten, der einfach nur das nachbrabbelt, was die Mehrheit zuvor gesagt hat. Und der kommt damit durch!
Oh, aber was sich Maria Muster von ihren Auftraggebern (die natürlich allesamt männlich sind) alles anhören muss! "Ja, liebe Maria, besprich «Metzel & Motorgrollen 4: Heiße Kurven, pulsierende Rohre» aber bitte nicht zu hart, nur weil du eine Frau bist!" "Weißt du, Maria, ich würde dich ja liebend gern in «Lieb mich, wenn du endlich die Zeit dafür findest, Süßer!» schicken, aber, ich habe Angst, des Sexismus beschuldigt zu werden. Wenn ich dir die ganzen Kritiken für Liebesfilme gebe, wie sieht das denn aus? Außerdem: Der Tox Testosteron hat sicher eine viel originellere Meinung zu dem Film als du … Der kriegt den Auftrag!" "Ach, Maria, du findest die letzten vier Ryan-Gosling-Filme alle gut … Denk beim Schreiben doch bitte nicht so mit den Eierstöcken, sollte ich dich in «La La Land 2: Make Me Go La La» schicken!"
Kein Wunder, dass Maria Muster neulich ihre neue Kollegin Fiona Frischling anraunzte, als sie mutmaßte, dass Maria sich einfach nur anstellt. "Karl Konsens verdient mit seinem Nachgeplapper genug, um sich über Weihnachten seine fünfte, private Urlaubsreise in diesem Jahr zu leisten?! Und ich musste mir gerade die Monatsfahrkarte vom Leib absparen? Wo leben wir eigentlich hier?!"
Auftritt Emma Emotional
Wo wir hier leben, liebe Maria? Maria, ich fürchte, wir leben in einer Gesellschaft, die die Weichen für Kritikerinnen wie Emma Emotional stellt. Ach, Quatsch. Wir leben in einer Gesellschaft, die filminteressierte Frauen dazu zwingt, so zu werden wie Emma Emotional. Nicht, weil es toll ist, so zu sein wie sie. Aber weil es die einfachste Möglichkeit ist, in der Kritikerbranche als Frau Geld zu verdienen. Denn Emma Emotional bekommt genauso viel Gegenwind wie all ihre stilistisch in zig Richtungen verstreuten männlichen Kollegen: Nur ein bisschen was – und nicht wie Maria einen ganzen Orkan.
Emma Emotional betrachtet Filme nicht im kinowirtschaftlichen Gesamtkontext, nicht im Hinblick auf ihr Fachhandwerk, nicht aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive oder, oder, oder. Sie schreibt einfach Artikel, die ausdrücken, wie gefühlvoll diese Filme sind, und wie es ihr wegen ihnen geht.
Von Emma Emotional bekommt «The First Avenger: Civil War» ein glühendes Lob, weil es so rührend war, als Black Widow in einem traurigen Moment Captain America tröstet. Und wie schön wahr es bitte, dass der gesamte Grundkonflikt auf emotionalen Bindungen basiert? Mensch, was hat Emma Emotional «Kingsman – The Golden Circle» gehasst, weil er so zynisch ist. Zynismus braucht die Welt gerade ja so gar nicht. Und Pixar-Filme bewertet Emma Emtional allein daran, wie viele Taschentücher sie während der Pressevorführung verbraucht. «Metzel & Motorgrollen 4: Heiße Kurven, pulsierende Rohre» hat Emma Emotional hingegen nicht besprochen – obwohl sie alle Teile der Reihe privat unzählige Male verschlungen hat. Ihr Publikum interessiert sich für diese Filme nämlich nicht, warum also darüber schreiben?
Nicht, dass Emma Emotional im Unrecht liegt. Das Menscheln in «The First Avenger: Civil War» ist ein großer Pluspunkt, und über den Zynismus der «Kingsman»-Filme lässt sich streiten. Schade ist aber, dass Emma Emotional ausschließlich über so etwas schreibt und den Rest der von ihr besprochenen Filme komplett ausblendet. "Wie geht es meiner Lieblingsfigur, habe ich viel gejauchzt, wie schön ist das Ende?" – das sind die Fragen, die Emma Emotional bewegen. Zumindest in ihren Artikeln und YouTube-Videos. Richtig traurig ist indes, dass Emma Emotional in Wahrheit gar keinen so eng fokussierten Blick auf Filme hat und sich dazu zwingen muss, so große thematische Scheuklappen aufzusetzen.
Sie heißt auch gar nicht Emma Emotional – das ist nur ihr Künstlername. Vicki Vollumfänglich heißt sie mit bürgerlichem Namen. Sie liebt Kino abgöttisch und wer sich in einem ruhigen Moment nach einer Pressevorführung, weit weg von Karl Konsens, Siegfried Schmarotzer und Tox Testosteron mit ihr unterhält, wird lernen, dass sie über jeden Film sehr komplexe, punktgenaue Analysen anstellt. Und das aus dem Stehgreif.
Nur hat sie, anders als die sich bereits über Gebühr abrackernde Maria Muster, weniger Glück und daher jahrelang keinen Fuß gefasst. Dann fing sie aus der Not an, für ein Fernsehportal in blumiger Sprache unter einem Pseudonym Serienkolumnen zu schreiben. Auftrag vom Chefredakteur: "Wir brauchen die weibliche Sicht auf die neuen Hitserien – wer soll wen kriegen, wen finden die Fans süß, wie traurig ist die Trennung von Paar XY, sowas!" Damit war endlich ein geregelter Auftrag drin, und irgendwie ist Vicki alias Emma in diese Schiene reingerutscht. Denn "sowas wollen die Leute lesen, und das könnt nur ihr Frauen schreiben", wie ihr mal gesagt wurde. "Naja, es ist ein Einkommen und ich schreib über das, was ich liebe: Film und Fernsehen", seufzt Vicki alias Emma. Während die Jungs nicht nur über das schreiben, was sie lieben, sondern auch darüber schreiben, wie es ihnen beliebt.
Klar. Maria Muster ist nicht allein in der Kritikerwelt. Sie hat ein paar Kolleginnen, die es auch geschafft haben, sich treu zu bleiben. Selbst wenn es neulich in ihrer PV-Stadt zu einem Miniskandal führte, als YouTuberin Beverley Beautiful es wagte, an einem sommerlichen Herbsttag im zierlichen Kleidchen zur Pressevorführung zu kommen. Noch wochenlang wurde hinter ihrem Rücken getuschelt: "Habt ihr damals Beverley gesehen? Die muss auch um jeden Preis auffallen … Klar, Frauen – die punkten mit dem Aussehen, wir müssen Inhalte liefern!" Respekt an Beverley Beautiful, Maria Muster und Co., dass sie sich durch sowas nicht von ihrer Arbeit abbringen lassen.
Verflucht schade nur, dass Beverley Beautiful, Maria Muster und Co. dramatisch in der Minderheit sind, weil viele potentielle Kolleginnen aufgeben – oder sich verstellen. Wie Emma Emotional, die übrigens, um noch mehr Ungerechtigkeit ins Spiel zu bringen, von manch dummen Zungen als die Schurkin in diesem Stück bezeichnet wird. Weil sie ja ihre Ideale verraten würde. Klar. Genau. Wenn wir uns hier auf Fehlersuche begeben, fangen wir natürlich bei Emma Emotional an … Sonst begeht ja absolut gar niemand einen Fehler, klaro …