Während VOX zur Primetime in «6 Mütter» den Kuschelkurs fährt, gräbt sich der Sender zu späterer Stunde nun dienstags vor in die Untiefen der pädagogischen Unzulänglichkeiten. Das birgt Zündstoff, wird aber authentisch und sachlich vorgetragen - und löst damit noch größere Beklemmung beim Zuschauer aus.
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Unser Hingeschaut zum Start der zweiten «6 Mütter»-Staffel.
Längst nicht alle Twitter-Kommentare zu «6 Mütter» fielen am Dienstagabend wohlwollend aus, an einigen Stellen war auch die Rede von einer zu zähen und belanglosen Aufmachung. Und in der Tat kann man der von Endemol Shine verantworteten Sendung vorhalten, sehr stark auf Wohlfühl-Atmosphäre ohne größere Konflikte zu setzen, was über zwei Stunden hinweg zur besten Sendezeit dann vielleicht auch irgendwann etwas fade daherkommt. Der 22:15-Uhr-Neustart
«Richtig (v)erzogen - Wir erziehen anders» war da schon ein ganz anderes Kaliber und dokumentierte in einer beinahe schon aufreizenden Gelassenheit abseitige, diskutable, aber vor allem teilweise auch kaum mehr gesellschaftlich hinnehmbare Erziehungsstile nahe an der Kindeswohlgefährdung, bei denen der Rezipient mehrfach schlucken musste. Eine spannende Stunde Doku-Fernsehen war somit gewiss.
Das Konzept der zunächst nur drei von imago TV und 99pro Media prodzuzierten Folgen ist ebenso schlicht wie ergreifend: Familien mit spannenden, außergewöhnlichen Erziehungsansätzen werden in ihrem Alltag begleitet und erzählen, weshalb sie sich für diesen von der Norm abweichenden Lebensstil aller Hürden zum Trotz entschieden haben. In jeder Episode werden drei Elternpaare (oder -teile) porträtiert, den Auftakt machen Mascha und Avraham, die großen Wert auf eine streng jüdische Erziehung ihrer Kinder legen, die Jet-Set-Mama Julia, die ihrem Sohn gerne das volle Verwöhnpaket zukommen lässt sowie Sarah und Tom, die extra nach Frankreich gezogen sind, um ihre Kinder daheim unterrichten zu dürfen - das geht zum Ärger des die Schulpflicht ablehnenden Paares in Deutschland nämlich nicht so leicht.
Schulaversion und Waldgeburten: Verstörendes aus Frankreich
Durchaus spannende Lebensentwürfe also, wobei sich schnell das Homeschooling-affine Paar als zweifelhafte Helden des Abends herauskristallisieren. Zu einem nicht unerheblichen Teil schon deshalb, weil sich Mutter und Vater offensichtlich in nahezu keinem erziehungsrelevanten Thema einig sind und die Sympathien des Zuschauers relativ schnell in eine Richtung tendieren. Hier die Öko-Fundamentalistin, die zu wissen glaubt, dass Schule den Kindern eigentlich eh nichts bringt, durchschnittlich eine Stunde Bildung am Tag schon reicht, wenn der Nachwuchs sich eben danach fühlt, soziale Kontakte unter Peers für völlig überschätzt hält und sich bei der Geburt eines weiteren Kindes am liebsten wahlweise im heimischen Garten oder im Wald aufhält. Dort der in Deutschland praktizierende Arzt, der das Geld ranschafft, die Mädchen und Jungen in Vereinen anmeldet, um sie wenigstens dort mal unter Gleichaltrigen verkehren zu lassen, geradezu um Hilfe flehend in die Kamera stiert, wenn seine Partnerin spricht und sich sogar Vorwürfe dafür gefallen lassen muss, den Kindern einmal wöchentlich den Konsum von Süßigkeiten zu erlauben.
Das Maximum der Beklemmung wird hier in den (relativ häufigen) Passagen erreicht, in denen Sarah und Tom nebeneinander sitzend interviewt werden und sich eine zwischenmenschliche Dissonanz nach der anderen schon an Mimik und Gestik der beiden ablesen lässt. Sie hält ihn offensichtlichst für einen Waschlappen und duldet nur schwerlich von ihrer Haltung abweichende Wortmeldungen, er ist von Homeschooling, der Isolation der gemeinsamen Kinder sowie ihren Kalbungsritualen im Einklang mit Wald und Wiese gar nicht mal so angetan, aber gleichzeitig zu schwach, um mit Nachdruck Kontra zu geben - und wünscht sich nichts mehr als "dass ich mal etwas sage und es wird dann einfach gemacht".
Das ist in vielen Momenten unfreiwillig komisch, es ist bizarr, weil dem Zuschauer zu keinem einzigen Zeitpunkt evident ist, warum sich diese beiden Menschen gefunden und nicht schon längst wieder getrennt haben, es ist aber bisweilen auch mit Blick auf das Kindeswohl sehr bedenklich. Dass diese sich in den wenigen Momenten, in denen sie sich mit Schulaufgaben befassen, nicht konzentrieren können, dass sie aus der Sicht einer pensionierten Lehrerin, die sich zumindest um die Weiterbildung der älteren Kinder im Fach Französisch kümmert, viel zu langsam und schwach für ihr jeweiliges Alter sind, dass sich die älteste Tochter schon glücklich darüber zeigt, in diesem Jahr zumindest mal kurz ein anderes Mädchen kennengelernt zu haben - das sind alles keine guten Argumente für das Homeschooling und stellen jeden empathischen Zuschauer, der nicht nur zum Lästern fernsieht, unweigerlich vor die Frage: Muss dort nicht zwingend eingegriffen werden?
Die beiden anderen Familien stehen dagegen relativ deutlich im Schatten Sarahs und Toms - auch deshalb, weil sie mit "Benimm-Tabellen" zur Konditionierung ihres Nachwuchses hin zu einem ständig um gute Taten bedachte Menschen und für den durchschnittlichen Mitteleuropäer absurd anmutenden religiösen Ritualen im Falle der jüdischen Familie bzw. einem arg protzigen Gesamtauftreten im Falle Julias zwar auch durchaus stark von der Norm abweichen, die Protagonisten aber auch liebenswürdige Seiten zeigen, die erahnen lassen, dass diese Familienkonstellationen im Alltag durchaus funktionieren können. Kontrovers ja, aber mit Fürs und Widers ist in diesen beiden Fällen das Motto - bei Sarah und Tom dagegen ergreift einen automatisch der Fluchtinstinkt, sobald insbesondere Erstere von ihren Sichtweisen und Erziehungsmethoden referiert. Und das tut sie nicht selten.
Wie hat euch der Auftakt von «Richtig (v)erzogen» gefallen?
Fazit: Mit dem ganz realen Irrsinn zum Superhit? Gut möglich.
Da bei all dem aber niemals der Eindruck aufkommt, dass im Zuge der Produktion künstlich nachgeholfen wurde, die Akteure authentisch in ihrem Sprechen und Handeln wirken und sich auch Off-Stimme, Kamera und audiovisuelle Aufmachung sehr schlicht und "unverfälscht" daherkommen, hinterlässt «Richtig (v)erzogen» nachhaltigen Eindruck beim Betrachter. Man nimmt diesen Menschen durchaus ab, dass sie leben wie sie dort von ihrem Leben erzählen, möchte dies aber in einigen Momenten kaum für wahr halten - insbesondere eben bei Sarah und Tom, mit denen man aller moralischer und pädagogischer Bedenken zum Trotz aus der Warte eines Fernsehmachers einen echten Glücksgriff gelandet hat.
Die Konfliktivität und Kontroversität, die «6 Mütter» nach wie vor ein wenig abgeht, ist hier zu jedem Zeitpunkt zu finden, weshalb der Neustart vielleicht sogar das spannendere und potenziell quotenträchtigere Format am neuen VOX-Dienstagabend ist - immerhin erinnert diese Doku-Spielform ein wenig an die Grundausrichtung der Brennpunkt-Dokus «Hartz und herzlich» und «Asternweg», die mit einem ähnlichen Stil große Erfolge haben erzielen können. Der Erfolg aber wird auch davon abhängen, wie konsequent man das Narrativ in den kommenden beiden Wochen wird aufrecht erhalten können und ob man hier erneut spannende, authentische Familien bekommen hat - vielleicht nach dem Gruselkabinett made in France ja demnächst die große Erfolgsgeschichte einer intakten, durch und durch liebenswürdigen und bewundernswerten Familie mit speziellem Ansatz.
VOX zeigt auch in den kommenden beiden Wochen jeweils gegen 22:15 Uhr neue Folgen von «Richtig (v)erzogen», dann jeweils mit drei neuen Familien.