Nein, hier werden nicht die besten Kritiker gewürdigt, die Filme besprechen. Sondern die besten Kritiker, die je aus Filmen hervorgebracht wurden. Wobei unser Kolumnist "die Besten" sehr freimütig definiert …
Escortservicekritiker The Erotic Connoisseur (Glenn Kenny) in «Girlfriend Experience - Aus dem Leben eines Luxus-Callgirls»
Ein ekelerregender Schmarotzer höchster Güte: Er ist nur für den Ruhm und die Gratis... äh …bespaßung in diesem Metier. Das ist im Erotikgewerbe natürlich besonders schmierig, doch solche Leute gibt es in jedem Kritikerfach: Die, die es nur machen, weil sie Rezensionsexemplare / Umsonsturlaub / Gratisessen bekommen und hoffen, durch das schmarotzen berühmt zu werden. Seltsamerweise nutzen trotzdem einige von ihnen Pseudonyme. Paradox.
Theaterkritikerin Tabitha Dickinson (Lindsay Duncan) in «Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)»
Eine ungepflegte, unbeherrschte Frau voller Vorurteile, die Stein und Bein schwört, die Karriere eines aus dem Unterhaltungskinos stammenden Schauspielers und Regisseurs zu zerstören. Sie lässt sich von Dingen, die nichts mit dem zu besprechenden Stück zu tun haben, lenken und düst am Ende eines Stücks davon, um zeitnah ihre Kritik zu veröffentlichen – sie hat keinen Sinn für die Besonderheit des Theatererlebnisses. Aber: Selbst sie lässt sich in ihren Vorurteilen belehren – wenngleich durch die denkbar klischeehafteste Weise, die man sich vorstellen kann. Eine arrogante, prätentiöse Natter, die sich erschreckend leicht an der Nase herumführen lässt und die eloquent an der Oberfläche kratzt, statt besonnen einen realen Sinn für tiefgreifende Kritik zu verwirklichen. Ein atmender, lebender (doch unbeseelter) Kropf am Kritikerkollegium – und in ihrer Charakterzeichnung gar nicht mal so unwahr, denn jeder aus der Branche kennt mindestens eine solche Person.
Faustregel: Wer sich durch diese Figur in «Birdman» auf den Schlips getreten fühlt oder alternativ versucht ist, zu schwören, dass Kritikerinnen und Kritiker ja gar nicht so sind, ist möglicherweise einer der Gründe, weswegen es diese Gestalt in Iñárritus Showbizsatiredrama geschafft hat …
Musikkritiker Cornelius (Jarl Kulle) in «Ach, diese Frauen»
Ein arroganter, großtuerischer Musikkritiker, der eine Biografie über einen berühmten Cellisten schreiben soll und sich daher in dessen Villa einquartiert. Der angesehene Künstler treibt sich aber sonstwo herum, was Cornelius zur Weißglut treibt. Wobei es ja nicht viel braucht, um Cornelius zu erzürnen – er hält sich nämlich für einen verkannten Komponisten, dessen Talent weit über dem schwebt, was die Leute zu bieten haben, die er in seinen Artikeln und Büchern behandelt. Als Cornelius der Geduldsfaden reißt, erpresst er den dauerabwesenden Cellisten, sein (mutmaßlich) wegweisendes Musikstück zu spielen. Übertrieben-spritzig-bissige Karikatur realer "Eigentlich sollte
ich Filme machen / Bücher schreiben / Musikstar sein / als Sternekoch umjubelt werden"-Typen unter Kritikern.
Theaterkritiker Addison DeWitt (George Sanders) in «Alles über Eva»
Keineswegs eine der schmeichelhafteren Kritikergestalten in der Geschichte des Kinos, aber eine der komplexesten: Addison DeWitt ist ein scharfzüngiger, humorvoller Kritiker, der ebenso schelmisch wie schmierig ist. Er hat den Willen und das Ansehen, um übersehene Talente zu fördern, doch er ist sich dessen viel zu sehr bewusst und baut sich daher zu einem manipulativen, fiesen Egomanen auf, der genauso sehr nach dem Gegenteil strebt – der Zerstörung "unverdienter" Karrieren. Und dabei misst er mit sehr selbstsüchtigen Maßstäben. Aber er hat auch Momente der kritischen Selbstreflexion …
Filmkritiker Allan Felix (Woody Allen) in «Mach's noch einmal, Sam»
Eine neurotische, belesene Persönlichkeit, die jedoch im zwischenmenschlichen Umgang ungeschickt ist. Dieser Klassiker verehrende Filmkritiker ist frisch geschieden ("Bitte nimm's nicht persönlich", sagte seine Frau, als sie die Scheidung verlangt hat, "Ich nehm's nicht persönlich, aber ich nehme mir das Leben, wenn's dir recht ist", erwiderte er …) und händeringend auf der Suche nach einer Trostbeziehung. Dabei nimmt er seine Lektionen in Sachen Frauenumgarnen aus seinen Lieblingsfilmen. Wenn er Frauen vorgestellt wird, bittet er seine Freunde, seinen Beruf aufwärtszulügen. Er sei nämlich Schriftsteller. Das stimmt zwar nicht so wirklich, aber er hat das Alkoholproblem eines waschechten Autoren ("Ich bin bald bei zwei Litern am Tag", sagt er über Bourbon). Fazit: Eine sehr lebensnahe Darstellung der Kritiker Marke "seit Jahrzehnten im Print-Feuilleton"!
(Ex-)Musikkritiker Georg (Josef Hader) in «Wilde Maus»
Georg ist 55 Jahre alt, arbeitet seit 25 Jahren als Musikkritiker und ist angesehen, schlagfertig, kenntnisreich in seinem Metier und selbstironisch. Doch er hat ein gehöriges Problem: Er stammt aus einer Zeit, als Journalisten (und ähnliches) noch vernünftig bezahlt wurden. Das fällt eines Tages auch seinem Vorgesetzten auf, die ihn deswegen vor die Tür setzt – mit Georgs Gehalt lassen sich halt auch drei junge Redakteure bezahlen. Wovon die überleben wollen, ist ein Rätsel. Ein sehr reales Rätsel, nebenbei gesagt. Ebenso sehr rätselt Georg (vorübergehend), was er mit sich anstellen soll. Einen anderen Job kann er nicht, und der Vorschlag, den er erhält, lautet: "Schreib doch ein Buch über Musik." Stattdessen wählt er den Rummel – und kleine Racheakte gegen seinen Ex-Chef.
Filmkritiker Leonard Maltin (Leonard Maltin) in «Gremlins 2 – Die Rückkehr der kleinen Monster»
Diesem Kritiker kann man nicht genug Respekt zollen: Er zerreißt den Film «Gremlins» aufgrund seiner Logiklöcher und seines finsteren Humors in der Luft – und das, während er von Gremlins umgeben ist und letztlich von ihnen attackiert wird. Für diesen Schneid verdient Maltin Applaus – auch wenn über den Realismus dieser Szene gestritten werden kann. Dass er sich mit seinen letzten Atemzügen doch noch rauszureden versucht, ist allerdings sehr glaubwürdig.
Filmkritiker Archie Hicox (Michael Fassbender) in «Inglourious Basterds»
Kultiviert, verdammt gut aussehend, redegewandt und überaus belesen – mit einem Schwerpunkt auf das deutsche Kino: Archie Hicox ist ein Filmhistoriker unter den Kritikern, einer, der die filmkulturellen und medienpolitischen Bewegungen analysiert und memoriert – und ganz nebenher stellt er in seinem Auftreten wohl das dar, was viele Filmkritiker gerne wären. Hätte dieser gute Mann nur nicht eine klaffende Wissenslücke bezüglich deutscher Handgesten …
Restaurantkritiker Ramsey Michel (Oliver Platt) in «Kiss the Cook: So schmeckt das Leben»
Der Restaurantkritiker Ramsey Michel zieht vorübergehend den Hass des erfolgreichen Kochs Carl Casper auf sich, als er ihm während eines Karrierehöhenflugs nicht die erwartete Lobpreisung kredenzt. Doch Michel wird vom früher passionierten, nun nur noch routiniert-kostspielig arbeitenden Koch missverstanden: Michel ist kein Snob, kein wild tippender Wutvulkan, sondern eine ehrliche, faire Seele, die zuweilen den Finger in die offene Wunde legt, um bessere, einfallsreichere Küche voranzutreiben. Das, was Carl Casper an Michel hasst, ist nicht Michel selbst, sondern die Wahrheit, die er ausspricht. Denn sobald Carl Casper seinen ihn einengenden Erfolgsthron verlässt und wieder mit Kreativität und Hingabe kocht, findet er in Michel einen engagierten Unterstützer. Denn so sind Kritiker (zumindest manche von ihnen): Sie wollen das Beste aus den Kunstschaffenden herauskitzeln und den Gelegenheitskonsumenten den reinen Wein einschenken, der ihnen vielleicht aufgrund von Ablenkungen oder zu geringer Vergleichsmöglichkeiten verwehrt blieb.
Kulturkritiker James Gordon Bennett (Paul Sparks) in «Greatest Showman»
Er beginnt den Film vielleicht als Theaterkritiker, der keine Freude am Theater hat – doch dafür hat er faszinierende Meta-Zauberkräfte:
Er steuert den Verlauf des Films – mit seinem Wunsch nach Anspruch kommt mehr Anspruch, mit seinem Aufruf nach Toleranz bewerbender Unterhaltung findet die Hauptfigur P. T. Barnum in «Greatest Showman» einen Pfad, den der reale Barnum nicht beschritten hat. Bennett ist vielleicht ein Nasehoch, doch er ist da, um im richtigen Augenblick frühere "Erzfeinde" zu inspirieren. Hut ab!
Restaurantkritiker Anton Ego (Originalstimme: Peter O'Toole) in «Ratatouille»
Für Chefköche ist Anton Ego ein wandelnder Albtraum: Der riesige, spindeldürre, leichenblasse Mann mit dauerbetrübtem Gesichtsausdruck und überheblichem Stimmtimbre gilt als unerbittlicher Kritiker, der Karrieren zerstören, ja, sogar Leben nehmen kann. Er selber versteht sich als Verteidiger der hohen gastronomischen Kunst, der gegen Perspektivlosigkeit und kulinarische Touristenfallen angeht. Er archiviert seine Kritiken akribisch, schaltet sich in den übergreifenden gastronomischen Diskurs ein – und ist vor allem fähig, sich Fehler einzugestehen und seine gesamte Leserschaft an diesem Prozess teilhaben zu lassen. Seine beste Kritik ist keine simple Benotung eines Mahls, sondern eine selbstreflexive Abhandlung über Rezensionen, das Mantra eines früheren "Feindes" und die emotionale Wirkung guten Essens. Anton Ego steigt in wohl gewählten, rührenden, geistreichen Worten über seinen eigenen Schatten und riskiert seine eigene Karriere, um ein verstecktes Genie zu feiern. Atemberaubend!
Filmkritiker John und Marc (Roger Barkley und Al Lohman) in «Amazonen auf dem Mond oder Warum die Amis den Kanal voll haben»
Der sketchhafte Episodenfilm «Amazonen auf dem Mond oder Warum die Amis den Kanal voll haben» von Joe Dante beginnt sein Segment über Filmkritiker, wie wohl viele Kritikerparodien beginnen würden: Zwei Kritiker (nah angelegt an Siskel & Ebert) bereden in ihrer TV-Sendung aktuelle Filme. Ein fremdsprachiger Kunstfilm wird ob seines Anspruchs gefeiert, eine Teeniekomödie spaltet das Duo, da der Eine sie banal findet und der Andere sie mit einer vollmundigen Metapher als angenehmen Fluff vergleicht.
Ein Normalbürger (?) schaut sich dies an und zerreißt sich über die snobistischen, weltfremden Kritikerfatzkes das Maul. Doch dann drehen die Kritiker den Spieß um und besprechen in einer Kritik das Leben des Harvey Pitnik genannten Meckerers. Es sei trostlos, unbedeutend und ebenso eintönig wie freud- oder lieblos. Makel, über die zumindest ein passionierter, sein Werk liebender Kritiker nicht klagen könnte. Und die Beiden hören da noch lange nicht auf: Sie geben konstruktive Kritik, wie es besser hätte laufen können und selbst während beide keine Empfehlung für Harvey aussprechen, findet einer von ihnen noch immer tröstende Worte für die kafkaesken Qualitäten seines Lebens.
Marc und John sind möglicherweise die Könige der Kritik. Nicht nur, weil sie die Möglichkeit haben, vorzuführen, wie es uns Kritikern ergeht (Leute nehmen Kritiker für ihre informierte Perspektive auf ihr Fachgebiet hasserfüllt ins Visier), nein! Sie haben die Macht, eine Retourkutsche durchzuführen und geben den wahllos und unfundiert schimpfenden Neidern eine Packung ihrer eigenen Medizin. Und das noch immer mit Klasse, Eloquenz und Menschlichkeit.