Statt alternativer Fakten, alternative Fiktion: In den frühen 2030ern ist die EU zerfallen, Europa im Chaos versunken. Europäer müssen nach Afrika fliehen, wo man sie so behandelt, wie wir heute die Afrikaner. «Aufbruch ins Ungewisse» ist vielleicht der wichtigste Fernsehfilm des Jahres - ungeachtet seiner erzählerischen Qualität.
Cast & Crew
Vor der Kamera:
Fabian Busch als Jan Schneider
Maria Simon als Sarah Schneider
Athena Strates als Nora Schneider
Ben Gertz als Nick Schneider
Sabine Palfi als Carolin
Naima Sebe als Michelle Keyser
Anton Figl als Stefan
Hinter der Kamera:
Produktion: Hager Moss Film GmbH
Drehbuch: Eva Zahn, Volker A. Zahn und Gabriela Zerhau
Regie: Kai Wessel
Kamera: Nicolay Gutscher
Produzenten: Kirsten Hager und Eric MossDas Abstoßende an der europäischen Flüchtlingsdebatte ist unter anderem der entmenschlichte Duktus, in dem sie geführt wird. In Deutschland hantieren CSU und FDP mit Begriffen wie Obergrenze, als spreche man von Viehbeständen. In Österreich entwickeln rechtsextreme Bundesminister die Vision, Flüchtlinge „konzentriert“ unterzubringen – wobei man diese Anspielung auf die Konzentrationslager des Nationalsozialismus aufgrund der sonst gerne salonfähig-gebildeten Elogen der FPÖ als wohldosierten Tabubruch intendiert unterstellen muss. Und in Frankreich
wird der Publizist Yann Moix verhöhnt, weil er das mitunter unmenschliche Vorgehen der militarisierten Polizeieinheiten CRS in Hauts-de-France dokumentiert.
«Aufbruch ins Ungewisse» will zumindest in den deutschen Teil der Debatte etwas Menschlichkeit zurückbringen, indem der Film den Spieß umdreht und Europäer zu den Asylsuchenden macht. In der Welt dieses Films, angesiedelt in den frühen 2030er Jahren, ist Europa den rechtsextremen Populisten anheimgefallen. Die Europäische Union ist aufgelöst, Oppositionelle werden auf das Brutalste traktiert: mit Einzelhaft, organisierten Gruppenvergewaltigungen, mitunter mit Mord.
Der Journalist Jan Schneider (Fabian Busch), der es sich in den Wirren des Umbruchs zur Aufgabe gemacht hatte, den marginalisierten Entrechteten eine Stimme zu geben, muss nun zügig das Land verlassen, sonst blüht ihm das Schlimmste. Seine Frau Sarah (Maria Simon), seine Tochter Nora (Athena Strates) und sein Sohn Nick (Ben Gertz) müssen mit, sonst droht ihnen eine grausame Bestrafung für die Sünden ihres Mannes und Vaters. Ziel der Flucht ist Südafrika.
Als vor der namibischen Küste das Flüchtlingsboot kentert, ist Sohn Nick verschwunden, wahrscheinlich tot. Die namibischen Behörden unternehmen keine besonderen Anstrengungen, um dem weiter nachzugehen. Noch dazu muss sich Familie Schneider hüten, bei den dortigen Behörden in wie auch immer gearteter Weise registriert zu werden. Ansonsten würde Namibia die gestrandeten Europäer wahrscheinlich in ihre Heimatländer zurückschicken, wo auf sie Folter und Tod warten. Nur in Südafrika haben sie eine reelle Chance auf Asyl und ein menschenwürdiges Leben. Doch um dort Asyl erhalten zu können, müssen sie verschleiern, zuvor in Namibia gewesen zu sein. Aus dem Dublin-Abkommen wurde das Pretoria-Abkommen.
Schlepper bringen die Schneiders schließlich über die Grenze, unter Androhung von (auch sexueller) Gewalt und der Abpressung ihres letzten Geldes. Als einige in der Wüste nicht mehr weiterkönnen, lässt man sie stante pede verrecken. In Südafrika angekommen, wartet der Flüchtlingslageralltag auf sie, voller Konflikte und der Angst, zurückzumüssen, ein Leben in der Warteschleife, bis nach Monaten, vielleicht Jahren der Asylantrag durch ist und so etwas wie Planbarkeit und Eigenständigkeit möglich ist.
Man mag anführen, dass «Aufbruch ins Ungewisse» zahlreiche filmische Probleme aufweist, dass insbesondere die emotionale Übersteuerung der außerordentlichen Tragik des Themas nicht gerecht werden mag, dass die soziopolitischen Komponenten der Themen Flucht und Fluchterfahrung nur auf einer intellektuell ausbaufähigen Ebene reflektiert werden, dass es in der Literatur und im Film zahlreiche (auch historisch) bessere, erzählerisch gelungenere, einnehmendere und faszinierendere Beispiele gibt als «Aufbruch ins Ungewisse», dass insbesondere das Ende ziemlich konstruiert wirkt und eine manchmal leisere Betrachtung noch deutlich klarere Effekte mit größerem Nachhall produziert hätte.
All das ist jedoch – ausnahmsweise – einmal nebensächlich. Denn «Aufbruch ins Ungewisse» hat eine nicht nur klare und ehrenwerte, sondern gesellschaftlich außerordentlich relevante Ambition: Der Film will das Thema Flucht unter den aktuell gegebenen Umständen darstellen und damit emotional erlebbar machen, den gesellschaftlichen Diskurs in eine humanere, vielleicht sogar humanistischere Richtung drehen. Der dramaturgische Kniff – die Umkehr der Fluchtrichtung, und die Flüchtlingsfiguren als Teil der Mehrheitsgesellschaft, für die dieser Film gemacht ist – ist hier freilich äußerst effektiv. Die Herzen von Alexander Gauland oder Björn Höcke wird man damit nicht erreichen können. Aber vielleicht die von einigen ihrer Wähler.
Das Erste zeigt «Aufbruch ins Ungewisse» am Mittwoch, den 14. Februar um 20.15 Uhr.