Am Donnerstagabend entscheidet sich, wer für Deutschland zum diesjährigen ESC fährt. Was sich im Vorfeld alles verändert hat, verriet uns ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber.
Die Acts beim ESC-Vorentscheid 2018
- Xavier Darcy mit "Jonah"
- Ivy Quainoo mit "House On Fire"
- Ryk mit "You And I"
- Michael Schulte mit "You Let Me Walk Alone"
- Natia Todua mit "My Own Way"
- voXXclub mit "I mog Di so"
Beim
«Eurovision Song Contest» hat ARD-Unterhaltungschef Thomas Schreiber eigentlich schon alles erlebt, was überhaupt denkbar ist. Unter seiner Federführung gewann Lena Meyer-Landrut im Jahr 2010 und holte den ESC so im Folgejahr nach Deutschland. „Es gibt aber nicht nur Highlights wie Lenas Sieg in Oslo oder die Organisation des ESC 2011 in Düsseldorf, sondern grade in den vergangenen Jahren auch ein tiefes Tal der Tränen“, räumt Schreiber ein. Was er damit meint, wird bei einem Blick auf die Platzierungen der letzten Jahr deutlich. 2017 reichte es für Deutschland zu Platz 25, 2016 zu Rang 26, 2015 landete der Act sogar nur auf dem letzten Platz. Ein Debakel – nicht zuletzt für die ARD.
Trotzdem gehe er seinen Aufgaben beim ESC „durchaus mit Leidenschaft“ nach, bekräftigt Schreiber. Würde er den Eurovision Song Contest als seine größte Baustelle bezeichnen? „Och, es gibt noch an vielen Stellen eine Menge zu tun, der derzeitige Erfolg der Unterhaltung im Ersten fällt ja nicht vom Himmel und ist ein kostbares Gut, das wir sorgfältig weiterentwickeln müssen“, sagt Schreiber. Ein paar neue Projekte seien in Vorbereitung, schließlich gebe es im Ersten noch einige Baustellen am Hauptabend sowie am späten Donnerstagabend. „Der Eurovision Song Contest ist allerdings ein ganz besonders dickes Brett - wenn die Platzierungen mal so gut wie die Marktanteile wären...“, räumt Schreiber ein, der das Amt des Unterhaltungschefs seit dem Jahr 2007 bekleidet.
Dabei hatten für das Siegerlied von Levina (kleines Bild links) im vergangenen Jahr im deutschen Vorentscheid zwei Drittel der TV-Zuschauer gestimmt. Auf europäischer Ebene hatte der Beitrag dann keine Chance mehr und landete auf einem der letzten Plätze. Hatte das deutsche Publikum also eine falsche Wahl getroffen? „Nein, wir haben aus meiner Sicht redaktionell einen Fehler gemacht, weil die Lieder mehrfach zu hören waren. Das war uns eigentlich an dem Abend bereits klar: die Entscheidung sollte das Publikum nach einmaligem Hören treffen, also so wie beim internationalen Wettbewerb auch. Unsere Teilnehmerin Levina war klasse, der Song war es nicht“, so der Unterhaltungschef.
Deshalb hat man in diesem Jahr das gesamte Verfahren komplett auf den Kopf gestellt – einen „radikalen Neuanfang“ hatte Schreiber bereits im letzten Jahr in Aussicht gestellt. Mit den sechs Acts, die am Donnerstagabend um 20.15 Uhr im Ersten bei
«Unser Lied für Lissabon» antreten, ist er zufrieden. „Nach meinem Eindruck haben wir eine sehr gute musikalische Qualität und eine schöne Bandbreite mit sechs sehr unterschiedlichen Acts, die alle den Vorentscheid und Lissabon im Blick haben“, sagt Schreiber. Dass das „Ziel Lissabon“ von Anfang an im Vordergrund gestanden habe, ist ihm besonders wichtig. „Das war in den vergangenen Jahren - das sage ich an die eigene Adresse gerichtet, aber auch an die mancher unserer musikalischen Partner - nicht immer die erste Priorität. Da ging es oft auch darum, den deutschen Vorentscheid für den ESC als Promo-Fläche für nationale Künstler zu nutzen“, analysiert er kritisch.
Herr Schreiber, Sie waren im letzten Jahr in Deutschland unterwegs gewesen, um mit ESC-Fans in Kontakt zu kommen. Wie arbeitsintensiv waren die letzten Wochen und Monaten für Sie?
T. Schreiber: "Der ESC ist immer eine besonders intensive Zeit. Meinem Team und mir war unsere Rundreise zu den Fans wichtig, weil die Fans eine der Seelen des ESC sind, weil sie mit uns durch Höhen und Tiefen gegangen sind und weil wir unsere Analyse vorstellen und für unser neues Verfahren werben wollten. Wir haben viele Fragen beantwortet, wir haben aber auch viel zugehört und versuchen, durch Kommentare in Blogs und mit Interviews möglichst transparent darzustellen, wo wir grade stehen. Der ESC ist aber nur ein Teil meiner Arbeit, und ist im Übrigen auch nur in einem Team - wir haben menschlich und professionell eine großartige Gruppe - zu bewältigen. Es geht nur, wenn jeder mit anpackt und sich für nix zu schade ist."An dem neuen Konzept begannen seine Mitstreiter und er bereits im Frühjahr des letzten Jahres zu arbeiten. Mit den Votingexperten von „digame mobile“, die seit 2004 die Abstimmungen der Zuschauer und der Fachjurys beim ESC durchführen und überwachen, habe man die zahlreichen Faktoren analysiert, die international beim ESC-Publikum und bei den Fachjuroren zum Erfolg geführt haben. „Für uns war klar, dass die Kriterien, auf die es in der internationalen Show ankommt, auch auf die deutsche Vorentscheidung angewendet werden müssen“, sagt Schreiber.
Mit den Mathematikern von Simon-Kucher & Partners habe man in zwei Prozessen versucht, den europäischen Publikumsgeschmack und die Einschätzung der internationalen Fachjury abzubilden. Daraus entstand die Eurovisions-Jury mit 100 Menschen aus Deutschland und eine internationale musikalische Fachjury mit 20 music-industry-professionals, die in den vergangenen Jahren bereits für ihre Nation beim ESC abgestimmt habe. Manche von ihnen hatten sogar selbst beim ESC mitgemacht wie Margaret Berger aus Norwegen und Ruth Lorenzo aus Spanien.
„Wir haben uns insgesamt 4000 mögliche Teilnehmer für den deutschen ESC-Vorentscheid angeschaut, die wir auf 211 verdichtet haben; die Eurovisions-Jury hat daraus die 20 Besten ausgesucht. Mit 17 von diesen haben wir einen Workshop im Dezember in Köln durchgeführt; auf dieser Grundlage haben die Eurovisions-Jury und die internationalen Musik-Experten unsere 6 Teilnehmer ausgesucht“, beschreibt Schreiber das Verfahren detailliert. Auf einem dreitägigen Song Writing Camp habe man mit deutschen und mit ESC-erfahrenen internationalen Komponisten und Textern dann versucht, den richtigen Song zu schreiben und zu komponieren.
Die Songvorschläge seien daraufhin mit Hilfe der Jurys gefiltert und priorisiert worden. „Jetzt sind wir alle sehr gespannt“, sagt er. Sehr teuer sei das Panel übrigens nicht gewesen, verteidigt Schreiber, „weil wir diese 100 einmal in insgesamt 5 Städten bei 7 verschiedenen Terminen in den Büros von Simon-Kucher & Partners zusammengeholt haben. Alles andere haben wir online gemacht.“
Die schlechten Platzierungen der letzten Jahre haben auch zu einem merklichen Quotenrückgang des ESC in Deutschland geführt. Schauten bei Lenas Sieg 2010 noch weit mehr als 14 Millionen Menschen zu, waren es im vergangenen Jahr nicht einmal acht Millionen. Für den ESC bedeutete das die niedrigste Reichweite seit dem Jahr 2009. Thomas Schreiber ist über die Entwicklungen nicht beunruhigt, wenngleich er Luft nach oben sieht: „Mit 7,76 Millionen Zuschauern über immerhin knapp vier Stunden war dieser ESC die mit Abstand erfolgreichste Show des Jahres 2017 im deutschen Fernsehen. Aber richtig ist: mit einem starken deutschen Beitrag geht da noch sehr viel mehr!“
Doch wie gut muss der deutsche Beitrag im Finale im Mai nun abschneiden, damit die Verantwortlichen zufrieden sein können? Für Schreiber ist klar: Um 2018 von einem Erfolg sprechen zu können, muss der deutsche Act in den Top 10 landen. Dieses Kunststück gelang zuletzt Roman Lob im Jahr 2012, der für Deutschland sogar mit dem achten Rang nach Hause fuhr. Ironischer Weise war Lob zugleich der letzte, der unter Beteiligung von Stefan Raab (damals im Rahmen von «Unser Star für Baku») gefunden wurde. Schon 2010 und 2011 hatte Raab bekanntlich Lena entdeckt - und Deutschland beim ESC zu ungeahntem Erfolg verholfen. Ob Thomas Schreiber die Zusammenarbeit mit Stefan Raab vermisst? Der Unterhaltungschef beantwortet die Frage mit einem Wort. „Sehr“.
Der deutsche Vorentscheid zum ESC 2018, «Unser Lied für Lissabon», läuft am Donnerstagabend, 22. Februar, ab 20.15 Uhr im Ersten.