Die neue Netflix-Serie ist vor allem thematisch sehr ambitioniert und will auf uramerikanische Missstände hinweisen – bleibt dabei aber viel zu oberflächlich und klischeebeladen.
Cast & Crew
Produktion: Fox 21 Television Studios
Schöpfer: Veena Sud
Darsteller: Claire-Hope Ashitey, Beau Knapp, Regina King, David Lyons, Michael Mosley, Russell Hornsby, Zackary Momoh u.v.m.
Executive Producer: Veena Sud, Gavin O'Connor, Lawrence Bender, Kevin Kelly Brown, Alex Reznik und Dan NowakIn sieben Sekunden ändert sich alles: Peter Jablonski (Beau Knapp), ein junger Polizist in den Diensten von Jersey City, ist auf dem Weg in die Klinik, um dort seine hochschwangere Frau zu besuchen, als sein Wagen in einem Moment der Unachtsamkeit ins Schleudern gerät. Noch im Schock geht er um das Fahrzeug herum und sieht nur, wie ein Fahrrad in einer der Achsen festklemmt: Als seine Kollegen am Tatort eintreffen, halten sie den fünfzehnjährigen, schwarzen Jungen, den Jablonski umgefahren hat, für tot und lassen ihn liegen, um sofort einen ganz anderen Plan zu schmieden: Jablonski soll sofort zu seiner Frau in die Klinik fahren. Er war nie hier. Denn wenn herauskommt, dass ein weißer Polizist einen schwarzen Jungen totgefahren hat, würde Jablonski bis zum Ende seiner Tage hinter Gittern sitzen, Schuld hin oder her. Die aufgeheizte Atmosphäre von Ferguson und Baltimore würde auch in Jersey City ankommen, und „Black Lives Matter“ würde ihn kreuzigen.
Der Schock ist groß, als sich herausstellt, dass der Junge doch noch gelebt hat und in eine Klinik verbracht wurde. Doch die Schwere seiner Verletzungen lässt kaum erwarten, dass er jemals wieder das Bewusstsein erlangen wird. Seine Eltern Latrice (Regina King) und Isaiah (Russell Hornsby) sowie sein Bruder Seth (Zackary Momoh), der nach seinem Afghanistan-Einsatz noch in Militäruniform in die Klinik eilt, hoffen dennoch.
Jablonskis Kollegen etablieren derweil einen alkoholsüchtigen Penner als Verdächten, der – so ihre perfide Logik – durch seine Trunksucht sowieso irgendwann einmal jemanden zu Tode bringen würde und deshalb im Knast ohnehin besser aufgehoben sei als in der Zivilgesellschaft. Der (schwarzen) Staatsanwältin K. J. Harper (Clare-Hope Ashitey) kommen bald berechtigte Zweifel an der Schuld des tatterigen alten Mannes, die sie aufgrund persönlicher Hemmnisse jedoch nur schwer nachhaltig artikulieren und in konkrete Maßnahmen ummünzen kann. Denn auch sie hat ein gravierendes Alkoholproblem, das sie selbst die Ladendiebstahlsfälle an die Wand fahren lässt, die sie routinemäßig abarbeiten muss: In ihrem Kühlschrank befinden sich mehr Gin-Flaschen als Nahrungsmittel, und in ihrer Freizeit lallt sie in einer Karaoke-Bar stockbesoffen alte Herzschmerzballaden ins Mikrofon, bevor sie volltrunken nach Hause fährt und dabei fast von einem entgegengekommenen Laster erfasst wird.
Wie nicht wenige amerikanische Serien – ob im Network-Fernsehen, bei Pay-TV-Sendern oder Streaming-Anbietern – hat «Seven Seconds» vordergründig die Ambition, einen möglichst breiten Ausschnitt der amerikanischen Gesellschaft abzubilden und dabei auf die tatsächlichen soziokulturellen wie ethnischen Spannungen hinzuweisen. Man könnte dieses Phänomen die „Panoptikumserie“ nennen, und «Seven Seconds» ist vielleicht ihr bestes Beispiel, weil die Aufsummierung der stereotypen Eigenschaften hier weit die Grenze zum Klischee überschreitet: Das Leben schwarzer Großstadtfamilien besteht aus Niedriglohn-Maloche, Militär, Gangs und Religion. Italoamerikanische Cops in Problemvierteln sind grundsätzlich so reaktionär wie misogyn und pflegen Kontakte zur organisierten Kriminalität. Und die Verschleppung der Mordermittlungen in diesem Tötungsdelikt werden so lange Spannungen an den ethnischen Sollbruchstellen erzeugen, bis es irgendwann knallt wie in Ferguson.
Das ist natürlich ein viel zu simpler, oberflächlicher Blick auf die reale gesellschaftliche Situation, der letztlich verkennt, dass Individuen mehr sind als die Addition der für ihr Milieu typischen Eigenschaften. Und damit verhebt sich «Seven Seconds» letztlich auch an seiner Kernambition, in deren Rahmen die Serie diese realen Zustände ja kritisch kommentieren und ihre Hintergründe allegorisch darstellen will.
In diesem Zuge missfällt es gleichsam, wie penetrant sie die Nase des Zuschauers auch visuell auf das stoßen will, was sie als ihren thematischen Kern erachtet – und so, wie sie ihre Charaktere mit milieutypischen Charakteristika überfrachtet, überlädt sie auch die Symbolkraft ihrer Bilder, wenn sie fast schon voyeuristisch die Blutlache eines jungen schwarzen Mannes vor der Kulisse der Freiheitsstatue inszeniert.
Die Enttäuschung über diese erzählerischen Fehlleistungen ist deshalb so groß, weil «Seven Seconds» zahlreiche aufrichtige, berührende und interessante Momente findet: Doch nicht nur werden diese Momente zu oft von unnötigem Füllmaterial und klischeebehafteten Versatzstücken unterbrochen: Es gelingt der Serie gleichsam nicht, diese Momente in einer kohärente Erzählung zu verweben, die das aussagen könnte, was sie sich so sehr zu sagen bemüht.